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- 02.01.2011
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Wegen der Sache mit den Gaspistolen
Ich weiß nicht, wie das heute Nacht ausgehen wird. Ich weiß nicht, ob ich da jemals heil rauskommen werde.
Als ich zwei Minuten später unten aus der Tür komme, schnippst Oleg die Kippe auf die Straße und hält mir die Hintertüre auf.
»Wo bleibst du, mhm?«, sagt er – alles bebt in mir, Schweiß läuft mir den Rücken herunter.
Vorne sehe ich Stalin sitzen, mit seinem zerschnittenen, vernarbten Gesicht. Er starrt mich an, ohne sich zu rühren.
»Du hast’s versaut, also bringst du’s jetzt auch wieder in Ordnung«, sagt Oleg. »Also, rein jetzt!«
Maruschka habe ich vor ein paar Wochen am Grünen Markt kennengelernt. Das ist dieser Platz in unserem Viertel, wo die Alten schon mittags mit ihren Schiebermützen rumhocken, Karten spielen und Wodka kippen – genau zwischen Lidl, dem kirgisischen Bäcker und Tanja’s Nagelstudio, wo man im Hinterzimmer für ein paar Tacken mehr auch Minderjährige kriegen kann.
Die Sache mit den Gaspistolen war erst ’n paar Tage her, und Denis und ich hatten ’ne scheiß Angst, was das Gericht daraus machen würde und ob wir noch Jugendstrafe bekommen würden oder in den Knast müssten und sowas. Wir zogen also ein bisschen was von diesem grandiosen Speed, das es gerade bei den Kurden drüben in der Bergleite gab, und streiften durch die Gegend, ohne wirkliches Ziel: vorbei an den grauen Platten, vorbei am Bolzplatz, und durch die kleine Unterführung direkt runter zum Grünen Markt.
Da machte Denis plötzlich große Augen und meinte: »Fuck, siehste die da?«
»Scheiße«, habe ich gesagt und mich umgesehen, »wen?«
»Na diese suka da drüben.« Jetzt grinste er, die Hände tief im Hoodie vergraben, die Kapuze über seinem Kopf. »Die Alte da, mit dem Kinderwagen, bläd.«
Bläd, bläd, original Denis, immer nur am Fluchen.
Ich spuckte auf den Boden und sagte: »Nee, noch nie gesehen.«
»Ist glaube ich die Cousine von Oleg, da ist eine von den Vladows mit in die Dreiundfünfzig gezogen, hat Roman gesagt.«
»Roman labert doch nur Scheiße, der goluboij.«
Wir haben beide gelacht, sind weitergeschlendert, ich steckte mir eine Zigarette an. Dann sah ich noch mal rüber, zu dem Mädchen mit dem Kinderwagen – sie trug zwei, drei Einkaufstüten in der Linken, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, dunkle Flecken unter den Achseln. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn; ein schönes Ding, trotz allem – und in genau diesem Augenblick riss ihr eine der Tüten, und das ganze Zeug flog auf die Pflastersteine.
Wir gingen natürlich sofort hin und haben gefragt, ob sie Russin sei – sie lächelte, nickte und sagte: »ja«, und dann haben wir ihr die Einkäufe nach Hause getragen und vor der Tür noch ein paar Kippen mit ihr geraucht, alles ganz sachte, alles gentleman, ist klar. Letztendlich mussten wir aber abhauen, weil ihre Tante bald wiederkam, die ist anscheinend so ’ne ganz orthodoxe, die zwanzig Mal am Tag das Bild vom Patriarchen abküsst.
Denis und ich sind dann runter zum Lidl, haben uns ’n paar Bier gezogen und den restlichen Tag Witze darüber gerissen, was für eine geile suka das doch ist, die Cousine von den Vladows, und wer sie von uns beiden wohl als erstes nageln würde.
So habe ich Maruschka kennengelernt – keine Ahnung, ob das gut war. Keine Ahnung, ob all das, was danach passiert ist, ob das nicht irgendwie mit diesem Nachmittag zusammenhängt: ob das nicht die Wurzel, der Ursprung von alldem ist.
Wir wurden in so einen fensterlosen Anbau eingeteilt, wo der Putz von den Wänden bröckelt und wir aus Gummis und Metallstangen irgendwelche Teile für Solaranlagen bauen, zusammen mit Langzeitarbeitslosen und einem klapperdürren Albaner, der einen Bullen mit einem Pflasterstein umgenietet hat.
In der Mittag verdrücke ich mich dann ’ne komplette Stunde aufs KZ-Klo. Denis sage ich, dass ich Dünnschiss habe, aber in Wirklichkeit will ich einfach nur in Ruhe ein bisschen was von meinem H ziehen. Ich versuche das Zeug in der letzten Zeit nicht mehr so oft zu drücken, langsam finde ich keine brauchbare Vene mehr in der Von-Klamotten-bedeckten-Zone, und wenn die Vladows wieder da sind und ich aussehe wie ein verstochener Junkie, geben sie mir mit Sicherheit keine Jobs.
Irgendwann klopft es dann wie bescheuert an der Klotür, und als ich aufmache, steht Denis vor mir, breit grinsend, und meint, was für ein Wichser ich doch sei, weil ich all das Zeug allein geballert habe.
»Fester!«, schreit Maruschka, und unsere heißen, brennenden, verschwitzten Körper reiben aneinander.
»Ja«, sage ich, »kriegst du«, und dann bohrt mir Maruschka ihre Fingernägel in die Arschbacken und beißt mir so fest in die Lippe, dass ich sofort Blut schmecke. Ich sehe, denke, höre nichts mehr, habe Scheuklappen auf, stoße immer wieder in sie hinein, bis zum Anschlag, bis es nicht mehr weiter geht: Ich habe das Gefühl, sie gleich in der Mitte zu zerreißen, sie aufzuschlitzen, umzubringen.
»Ja!«, schreit sie, »ja! So! Jetzt würg’ mich!«
»Was?«
»Würg’ mich!«
Ich packe sie, bumse sie, ihr Puls pocht in meinen Händen – Maruschkas Kopf wird rot, ihre Adern schwellen an. Dann kommt es mir, eine halbe Sekunde später zieht sich auch bei ihr alles zusammen, und es ist, als ob ich mit einer Rakete durch die Decke schießen würde, durch die Wolken breche, die Sonne sehe.
Wir liegen nebeneinander und schnaufen. Schweiß läuft mir das Gesicht herunter, mein Herz rast, ich kriege kaum Luft.
»Das war’s«, sagt Maruschka, fährt sich durch die Haare, schnauft und nickt. »Das war’s«, sagt sie.
Ich höre Maruschka noch eine Weile neben mir atmen. Dann steht sie auf, wühlt in ihren Sachen herum, fingert was vom H auf den Löffel, kocht das Ganze mit einem Schuss Ascorbinsäure auf, zieht die Spritze damit voll und sucht ihre Armbeugen nach einer brauchbaren Vene ab.
Wenn ich an das erste Mal denke, an dem ich Heroin genommen habe, dann sehe ich es plötzlich wieder ganz genau vor mir: Denis, wie er mit mir draußen im alten Sägewerk steht und neugierig das braune Pulver beäugt, das er aus der Alufolie packt; wie er den weißen Rauch ausatmet, wie seine Augen angeschwollen zuklappen und sich dieses benebelte Grinsen in seinem Gesicht ausbreitet. Wir waren damals nicht älter als dreizehn, vierzehn gewesen; Scheiße, hat uns das die Schuhe ausgezogen: Wir sind richtig auf Wolke siebzehn geflogen, kein Witz. Und, auch wenn wir’s damals vielleicht nicht gemerkt haben: aber dieses erste Mal, das hat uns verändert. Einfach zu wissen, dass dieses bombastische Gefühl wirklich existiert, dass man es jederzeit haben kann, das hat ’ne Menge losgemacht bei mir. Seitdem ist Heroin für mich zu sowas wie der besten Versicherung überhaupt geworden: Egal, was kommen mag, egal, was passieren wird und wie beschissen ich mich dabei fühlen werde – solange ich einen Zehner über habe, kann ich mir sicher sein, dass ich für ein, zwei Stunden dieses Wahnsinnsgefühl haben kann: dass ich für ein, zwei Stunden ins Paradies schielen kann.
Klar frage ich mich, wie wohl alles gekommen wäre, hätte ich’s damals gelassen und ’ne anständige Ausbildung angefangen und das alles; klar frage ich mich, ob ich mich dann heute besser fühlen würde und ich nicht ständig dieses Gefühl hätte, dass irgendwas nicht mit mir stimmt, dass ich eigentlich ein anderer sein müsste. Klar frage ich mich das alles – aber letztendlich führt das alles zu nichts, letztendlich bringt mich dieses erdrückende, gottverdammte Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, bloß zurück zu den Vladows, zurück zu meinem Ticker, zu einem Zehner H und einer Stunde im Paradies.
Das macht mir eine scheiß Angst – klar, die denken, dass ich ’ne Ratte bin, dass ich bei den Bullen ausgepackt habe, dass die Razzia einen Tag später auf mein Konto geht, weil ich nach der Sache mit den Gaspistolen meinen eigenen Arsch retten wollte. War natürlich nicht so – aber, Scheiße, ich weiß nicht, wie lange das noch gut geht. Der ältere Vladow ist noch nicht mit seinem Prozess durch, aber wenn der wieder rauskommt und denkt, ich bin an diesem ganzen Mist Schuld, Scheiße, dann gnade mir der heilige Patriarch.
»Betoncity, was?«, sagt Denis schließlich und grinst verkrampft.
Später rasen wir dann das Treppenhaus hinunter, wir schreien und lachen, spucken auf die Wände, überall stinkt es nach Pisse. Und dort, im Treppenhaus vom alten, leerstehenden Atrium, zwischen Erdgeschoss und Dach, da kann ich das alles für einen Augenblick vergessen; da kommt mir das alles kurz so vor, als ob es nie wirklich passiert ist: Als ob diese ganze Geschichte mit den Gaspistolen, mit Oleg und Maruschka, als ob das alles etwas ist, das mir irgendjemand mal erzählt hat, und von dem ich dann schlecht geträumt habe.
Den älteren von den Vladows nennen hier alle nur »Stalin«, er muss schon Mitte vierzig sein und hat in den Neunzigern das ganze Geschäft aufgezogen. Ist auch der kleinere der beiden Brüder, ist nur knapp über einssechzig groß, schätze ich – aber es ist sein Gesicht, das ihm diese brandgefährliche Aura gibt: Nase, Wangen, Kinn und Stirn: Da gibt es kaum ein Stück Haut, was nicht von Narben übersät ist – lange, feine und kurze, grobe Narben; wo die herkommen, kann niemand so genau sagen: ein paar von den Alten bei uns im Viertel erzählen immer von dieser Familienfehde, noch in der alten Heimat; und für jeden, den Stalin umgelegt hatte, soll er sich selbst ins Gesicht geschnitten haben, damit jeder sehen konnte, wer er war.
Verrückte Geschichte, von der niemand so genau weiß, wie viel davon wahr ist – und, ich denke, das ist es auch, wieso sich die Leute in meinem Viertel so sehr vor Stalin fürchten: weil sie kaum etwas über seine Vergangenheit wissen, außer, dass sie diese Narben hinterlassen hat.
Oleg, das ist der jüngere der beiden Vladow-Brüder, der war früher ziemlich dicke mit Denis’ großem Bruder, bevor der in die Fabrik ging und Oleg mit in den Vladow-Familienbetrieb eingestiegen ist.
Aber Oleg blieb trotzdem Oleg: hauptsächlich unberechenbar. Entweder kam dieser große, drahtige Blondschopf über den Zaun vom Bolzplatz gesprungen, zu uns Kids, checkte blendend gelaunt mit uns allen ein, hat ’ne Runde mitgekickt und uns danach augenzwinkernd ein bisschen Gras zugesteckt – oder man hörte von seinen Wutausbrüchen, von den Aggressionsproblemen, sah Leute, denen er grundlos die Knochen gebrochen hat und erzählte sich von dieser einen Alten, die er vor irgendeiner russischen Großraumdisko in die Intensiv geschlagen hat, weil sie keinen Bock auf seine Grapschversuche hatte.
Oleg, Oleg; Oleg ist ein Irrer.
Jedenfalls haben er und sein Bruder hier im Viertel ihre Nase in sämtlichen Drogengeschäften stecken, auch ein bisschen was mit Nutten und Brüchen, aber davon weiß ich nichts Genaues.
Und dann taucht plötzlich dieser Deutsche auf, so ein dürrer, kleiner, tätowierter Typ, und vertickt tonnenweise Eins-a-Gras zu einem Spottpreis, nur zwei Straßen von den Vladows entfernt. Dass da was passieren musste, war ja klar.
Ich hatte in der letzten Zeit öfter mal was für Oleg geschoben, so ein paar Kleinigkeiten erledigt, weil er meinte, ich würde fast schon das Gesicht von einem Deutschen haben, und Deutschen würde hier sowieso nie was passieren.
Da schleppt mich Oleg an diesem einen Abend mit zu Stalin rüber, ich scheiße mir davor natürlich ordentlich in die Hose, weil ich keine Ahnung habe, was Stalin plötzlich von mir will.
Im Endeffekt drückt er mir zwei Pistolen in die Hand und meint, ich soll mit dem kleinen Bruder vom Alex zu dem deutschen Waschlappen-Ticker gehen, und ihm ein bisschen mit der Knarre vor der Nase rumwedeln, damit er sich verpisst oder mit dem Scheiß aufhört.
Dass das bloß Gaspistolen sind, die wir da in die Hände bekommen haben, wissen Denis und ich natürlich nicht – ich denke, Stalin hatte Schiss, dass wir Kids mit scharfen Knarren Scheiße bauen könnten, und dass das dann auf ihn zurückfällt.
Na ja, so viel zu unserem Plan – nur dumm, dass der Deutsche Ticker ’ne Tonne voller Bullenfreunde hat, alle Anfang Zwanzig oder was, und die chillen gerade bei ihm in der Bude auf dem Sofa, als Denis und ich mit unseren Sturmhauben und den Knarren reinschneien.
Der Richter weiß natürlich nichts von irgendeiner Drogensache. Für den sind wir einfach nur zwei Idioten, die einen Hartz-4-Empfänger mit Gaspistolen ausrauben wollten.
Blöderweise saßen wir dann die ganze Nacht über in U-Haft, und am nächsten Tag nahmen die Bullen die Vladows hoch, und was die jetzt von Denis und mir denken, ist ja wohl klar.
Als wir auf meinem Bett liegen und Maruschka sich den Gürtel vom Arm zieht, durchschwemmt mich schon dieses irre, warme Kribbeln, Wahnsinn. Meine Augenlider werden schwer und Maruschka steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen, blickt in die bläuliche Dunkelheit meines Zimmers und flüstert: »Amerika.«
Kurz leuchtet das Feuerzeug auf, ich sehe ihre spitze Nase, ihr glänzendes, verschwitztes Gesicht.
»Oder nee«, haucht Maruschka, fuchtelt erst mit der Hand herum, dann lacht sie und fährt sich durch die Haare. »Los Angeles. Dann George Clooney über ’n Weg laufen und mit dem durchbrennen oder was.«
Sie lacht noch mal, dreht sich auf die Seite, schiebt ihre Hand zwischen Kissen und Gesicht und tastet mich mit ihren großen, müden, braunen Augen ab.
»Und du?«, fragt sie.
Ich picke mir die Zigarette aus ihrer Hand, drehe mich auf den Rücken und nehme ein paar Züge.
»Kanada«, sage ich, und denke an blaue, klare Seen – ich denke an unendlich große Wälder, an Bären, an eine Hütte aus Holz, mitten auf einer gigantischen Wiese; und der Himmel ...
Als wir beide langsam wieder aufwachen, spüre ich Maruschkas warmen Körper neben mir. Ich rieche diesen fantastischen, einzigartigen Geruch, der nur von ihr ausgeht, der nur ihr gehört. Maruschka streicht mir mit den Fingerspitzen über die Brust.
»Pass auf dich auf«, sagt sie, »pass auf dich auf.«
Nachdem sie gegangen ist, setze ich mich aufs Bett und stecke mir eine Kippe an. Draußen hängt der Mond in einem blauschwarzen Himmel, er ist groß und rund, fast unwirklich.
Ich versuche darüber nachzudenken, wie ich am besten auf mich aufpassen kann, aber eigentlich denke ich die ganze Zeit bloß an Maruschka. Ich weiß einfach nicht, was das mit ihr ist – ich weiß nicht, ob es wegen ihrer Schönheit ist; ja, klar, sie ist schön, aber da ist noch etwas anderes an ihr, etwas, wofür ich keine Worte finde.
Dabei weiß ich kaum etwas über sie – dieses Kind zum Beispiel, das sie immer mit sich rumschleppt, das ist von irgendeinem Russen, wegen dem sie aus Berlin abhauen musste, und jetzt hier bei ihrer verrückten Jesus-Tante wohnt. Aber immer, wenn ich sie darauf anspreche, bekommt sie wieder diesen starren, glasigen Blick – diesen starren, glasigen Blick, als ob die Sonne nie wieder aufgehen würde, als ob die Welt bloß noch aus Schatten bestehen würde.
Als ich so darüber nachdenke, legt sich plötzlich eine unfassbare Schwere auf mich. Was stimmt nicht mit dieser gottverdammten Stadt? Und was stimmt nicht mit mir und was stimmt nicht mit Maruschka?
Es gibt Momente, da fühle ich mich so frei, so leicht, als ob mir nichts etwas anhaben könnte; und dann, eine Stunde später, fällt der komplette Himmel auf mich herab – dann fühle ich mich, als ob all das Stahl, all das Beton, all die geplatzten Wünsche, Träume und Depressionen dieser Stadt – als ob das alles auf meinem Rücken lasten würde.
»Privijet«, sagt er, »privijet, Oleg«, sage ich zurück.
Er beäugt mich einen Moment, dann nickt er mit dem Kopf in Richtung Ausgang und sagt: »Komm, wir laufen ein Stück.«
Ich weiß nicht, ob Oleg mir glaubt. Er hat mich lange ausgefragt: Darüber, was ich dem Staatsanwalt gesagt habe und was ich bei den Sozialstunden machen muss und ob Denis ein Junkie ist, weil man Junkies nicht trauen kann. Und keine Ahnung, wo Denis steckt – ich habe ihn zehnmal angerufen und bin vorhin extra noch mal bei ihm vorbei, aber keine Spur.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so aufgeregt war. Meine Beine sind butterweich und meine Hände zittern wie irre, als ich mir auf meinem Bett das Zeug aufkoche. Das mit dem H ballern ist so eine Kunst für sich: haut man sich nur ein, zwei Nadelspitzen zu viel rein, fallen einem sofort die Augen zu und das war’s dann mit heute Abend – ist man aber zu sparsam und kann nachher nicht noch mal nachlegen, packt einen viel zu schnell der Affe und diese ätzenden Schmerzen in den Beinen legen einen dermaßen flach, dass man glaubt, man sei drei Marathons gelaufen.
Ich weiß nicht, wie das heute Nacht ausgehen wird. Ich weiß nicht, ob ich da jemals heil rauskommen werde.
Als ich zwei Minuten später unten aus der Tür komme, schnippst Oleg die Kippe auf die Straße und hält mir die Hintertüre auf.
»Wo bleibst du, mhm?«, sagt er – alles bebt in mir, Schweiß läuft mir den Rücken herunter.
Vorne sehe ich Stalin sitzen, mit seinem zerschnittenen, vernarbten Gesicht. Er starrt mich an, ohne sich zu rühren.
»Du hast’s versaut, also bringst du’s jetzt auch wieder in Ordnung«, sagt Oleg. »Also, rein jetzt!«
Wir fahren ein paar Mal um den Block, und als sich Stalin sicher ist, dass wir niemanden hinter uns hängen haben, halten wir kurz an, Oleg springt raus, und dann schmiert er das Nummernschild hinten und vorne mit Erde aus einem Blumenbeet ein.
Wir stehen seit einer Stunde auf der anderen Straßenseite. Kaum ein Mensch ist zu sehen, bloß im vietnamnesischen Imbiss im Erdgeschoss sitzt ein Typ und schlürft Nudeln.
»Mij dolschnij bilij bi sdilidija de sewoijdnije«, murmelt Stalin mit seiner hellen, ruhigen Stimme vor sich hin, »wir sollten es noch heute tun.«
Oleg nickt, und dann schieben sich beide eine neue Zigarette in den Mund und starren weiter auf das Fenster über dem Vietnamnesen. Ich krampfe meine Linke zu einer Faust zusammen, dann spreize ich die Finger wieder auseinander; mir läuft der Schweiß die Wangen hinunter.
Oleg zieht etwas aus dem Handschuhfach und hält es nach hinten, zu mir. Als ich zugreife, fällt mir sofort auf, wie schwer die Knarre ist, viel schwerer als die letztes Mal.
»Diesmal kein Spielzeug«, knurrt Stalin auf Russisch und blickt mich mit seinen eisigen, durchdringenden Augen im Rückspiegel an. »Alles klar?«
Die Haustür kriegt Oleg noch leicht mit dem Plastikkärtchen auf, aber als wir im zweiten Stock vor der Wohnungstür stehen, klappt das nicht mehr. Ich schwitze, schnaufe, die Knarre habe ich in meiner Hoodie-Tasche stecken – ich klammere mich an ihr fest, als ob sie meine Sicherheit, als ob sie meine Lösung für alles wäre; der Druck von vorhin lässt langsam nach, die Angst kehrt zurück, sie klettert mir von den Füßen die Knochen hoch.
»Schnauf nicht so«, zischt Oleg, dann steckt er die Stange zwischen Tür und Rahmen und hebelt ein paar Mal kräftig daran – das knarzt extrem laut, und die gottverdammte Paranoia hat mich fast so weit, dass ich einfach abhaue, dass ich einfach sage, scheiß drauf, nicht noch mal, sollt ihr doch denken, dass ich ’ne Ratte bin, ihr Penner.
Als die Tür draußen ist, kriegen wir sie trotzdem nicht auf – drinnen fängt es zu Rascheln an, irgendjemand läuft wie verrückt hin und her.
»Der goluboij hat drinnen noch ’n Schloss«, zischt Oleg halblaut, starrt auf die Tür, und ich beiße mir auf die Zunge.
»Was jetzt?«, frage ich – Oleg reißt bloß die Augen auf und knurrt: »Fuck! Fuck!«
Der Typ in der Wohnung fängt jetzt an, rumzuschreien, wer da vor der Tür steht und was wir wollen.
Zwei, drei, vier Sekunden vergehen, in denen nichts passiert, in denen Oleg bloß starr dasteht – und plötzlich habe ich so ein Gefühl, als ob diese ganze Nummer hier ein zweites Mal schiefgeht, als ob ich bald wieder in U-Haft hocke; da kommt mir diese Idee: Ich hole ich tief Luft und dann schreie ich in makellosem Deutsch: »Polizei!«
Einen Moment ist alles still. Oleg blickt mich entsetzt an, aber ich hebe bloß die Hand, dass er verdammt noch mal die Fresse halten soll – »Polizei! Sofort aufmachen! Polizei!«, schreie ich wieder.
Dann Schritte, Klimpern, und plötzlich steht der Idiot tatsächlich vor uns, total verpennt, mit zugekniffenen, vollgedröhnten Augen – bis er checken kann, was hier gerade abgeht, hat ihn Oleg, dieses Tier, schon längst an der Gurgel und schleift ihn quer durchs Zimmer. Dann ein Schlag, noch einer, Oleg prügelt dem Typen eine nach der anderen auf die Nase, der Kerl fliegt auf den Boden, zappelt und wimmert.
»Weißt du, wer ich bin?«, zischt Oleg und beugt sich zu dem Deutschen runter, »weißt du, was ich von dir will, bläd?«
Oleg würgt ihn, und der Deutsche wird plötzlich still, reißt die Augen auf und nickt.
»Gut«, knurrt Oleg. Er dreht sich um, blickt zu mir. »Dawaij!«, sagt er, »komm her, dawaij!«
Ich ziehe die Knarre aus meiner Tasche, laufe rüber, bücke mich und stopfe sie dem Deutschen zwischen die Zähne.
»Das passiert, wenn du deine Bullenfreunde holst«, flüstert Oleg, »eine Woche, dann bist du weg, kapiesch?«
Der Kerl nickt ganz irre – plötzlich fängt er an, irgendwas zu brabbeln.
»Was?«, sagt Oleg, »tu das Ding da mal weg, bläd.«
Als ich ihm den Lauf aus dem Mund gezogen habe, stammelt der Kerl: »I-ich war’s nicht!«
Oleg und ich sehen uns an.
»I-ich hab euch nicht bei den Bullen angepisst! I-Ich weiß aber, wer’s war! Die haben’s erzählt, neulich, die wissen, wer angerufen hat!«
»Sag es mir«, flüstert Oleg, und betont dabei jede einzelne Silbe; er beugt sich runter, und der Deutsche flüstert ihm etwas ins Ohr, ich kann es nicht verstehen.
Oleg hebt den Kopf und tauscht Blicke mit dem Deutschen aus. Dann bekommen seine Augen plötzlich sowas Starres, Glasiges, Irres, richtig unheimlich – er fängt an, dem Deutschen ins Gesicht zu schlagen, noch mal und noch mal, immer wieder, immer schneller, bis der Deutsche zu winseln aufhört, bis der Deutsche ganz schlaff wird, bis dunkle, rötlich-glänzende Flüssigkeit sein Gesicht überzieht und die Konturen seiner Nase, seiner Wangen und seines Kinns unter den Hieben von Olegs Faust weich werden, verschwimmen, sich verlieren – und als ich merke, dass da kein System dahinter steckt, als ich merke, dass Oleg die Kontrolle verliert, dass er sich da in einen Rausch reinprügelt, da packe ich ihn, mit aller Kraft, will ihn bremsen; aber dieses Tier, dieser Fels, ich kann ihn kein Stück bewegen – also springe ich auf, lade die Knarre durch und halte sie Oleg mitten ins Gesicht.
»Stopp!«, schreie ich, »hör auf! Du bringst ihn noch um, du Idiot!«
Da hört Oleg plötzlich auf – da schnauft er plötzlich durch und blickt mich an.
»Ja«, sagt er nach ein paar Sekunden auf Russisch und nickt. »Ja. Ja. Du hast recht. Ja.«
Schließlich helfe ich Oleg hoch, zerre ihn aus dem Zimmer, und zehn Sekunden später springen wir auch schon zu Stalin in den Wagen. Ich reiße mir die Sturmhaube vom Gesicht und habe das Gefühl, hier gleich alles vollzukotzen.
Da schmeißen sie mich raus, und ich stehe noch mit der Sturmhaube in der Hand auf einmal vollkommen alleine da. Das Motorengeräusch wird leiser, entfernt sich – nur ich und die Pflastersteine, die Leuchtreklame von Tanja’s Nagelstudio, der schwarze, sternenlose Himmel; da fange ich das Denken an. Am Grünen Markt? Was wollen die da? Was hat der Deutsche zu Oleg gesagt? Denis wohnt doch nicht am Grünen Markt – der wohnt drüben, in der Berggleiser Straße, das ist genau auf der anderen Seite vom Viertel.
Und da kommt es mir plötzlich – da verstehe ich plötzlich, was die ganze Zeit über passiert ist, da ergibt das auf einmal alles einen Sinn: Ich treffe Maruschka das erste Mal, kurz nachdem die Vladow-Brüder bei den Bullen angepisst wurden, mit diesem Baby und dieser patriarchengeilen Tante; und diese dunklen Wolken, die Maruschka ständig umhüllen, vereisen; und Olegs starrer, glasiger, irrer Blick, als der Deutsche ihm den Namen gesagt hat – und diese eine Alte, die er in die Intensiv geschlagen hat, weil sie keinen Bock auf seine Grapschversuche hatte.
Plötzlich wird mir alles klar: Scheiße, ja, Maruschka ist die einzige, die in der Nähe vom Grünen Markt wohnt.
Ich lasse mich auf die Pflastersteine sacken, schlage die Hände über dem Kopf zusammen ... Scheiße, was ist das da in meinem Hoodie? Das gibt es nicht – diese ganze Sache hat die Vladows so hart aus dem Konzept geworfen, dass die glatt vergessen haben, mir die Knarre abzunehmen. Ich starre auf das glänzende Ding in meiner Hand und schwitze, schlucke: Maruschka, Maruschka, alles rast in mir – Amerika, Kanada.
Jetzt gibt es kein Entkommen, kein Weglaufen mehr, weil: Maruschka, Maruschka – wenn ich das jetzt nicht tue, wenn ich sie jetzt im Stich lasse, davonrenne, dann ...
Die Schreie höre ich schon, als ich noch im Treppenhaus bin, ein Stockwerk unter der Wohnung von Maruschkas Tante. Das ganze Haus muss sie hören: grelle, schmerzerfüllte Schreie, meine Beine werden weich und zittrig.
Als ich endlich vor der Wohnungstür stehe, weiß ich nicht, wie ich reinkommen soll. Ich trete zwei-, dreimal gegen die Stelle neben dem Schloss, aber als sich nichts tut, halte ich einfach mit dem Lauf der Knarre drauf und drücke ab. Plötzlich ein riesen Knall, der Kolben springt zurück und schlägt mir fast gegen den Kiefer. Aber die Tür geht immer noch nicht auf – kurz geschieht nichts, kurz stehe ich einfach nur im Gang, vor der Tür, und weiß nicht, was ich jetzt tun soll, wie ich Maruschka jetzt daraus befreien kann – dann halte ich noch mal auf die Tür, schieße fünf-, sechs-, siebenmal auf die Stelle neben dem Schloss, wo die beiden Riegel sein müssen – da springt die Tür endlich auf, und als ich gegen sie trete, stehe ich auch schon in der Bude, in Mama Vladows Wohnzimmer; erst blicke ich in einen menschenleeren Raum, dann kommt Maruschkas Kopf langsam und mit erhobenen Händen hinter dem Sofa hervor. Nach zwei Sekunden sehe ich die Knarre, die ihr gegen die Schläfe gehalten wird: Oleg und Maruschka stehen auf, ihr Gesicht ist blau-rot geschwollen, blutüberströmt, und Oleg steht hinter ihr und lugt an ihrem Ohr vorbei – ich halte mit der Pistole auf ihn, und als er checkt, dass ich es bin, der da vor ihm steht, reißt er die Augen auf.
»Polijak?«, sagt er, »was soll der Scheiß? Bist du jetzt total behindert oder was?«
»Schnauze«, sage ich, »Waffe weg, oder ich schieß’ dir ’n gottverdammtes zweites Arschloch ins Gesicht, bläd!«
Da raschelt es plötzlich links von mir – jetzt sehe ich Stalin auf dem Teppichboden liegen, er starrt mich mit seinen blauen, durchdringenden Augen an, hält die Hände hoch und steht langsam auf.
»Ganz ruhig«, sagt er auf Russisch zu mir, »jetzt bleib’ mal ganz ruhig, Kleiner.«
Sofort ziele ich auf ihn, schreie: »Halt die Fresse! Halt bloß deine Fresse, oder ich knall dich ab, du Hundesohn!«
»Was willst du?«, fragt Stalin mit seiner ruhigen, hellen Stimme.
»Maruschka«, sage ich.
Da lacht Oleg plötzlich auf.
»Die Kleine?«, sagt er. »Kennst du die überhaupt?«
»Ich weiß es«, sage ich auf einmal, ohne von Stalin wegzusehen.
»Was?«, höre ich Oleg fragen.
»Das Kind, das Kind von Maruschka, das ist deins, Oleg, oder?«
Stalins Gesicht verkrampft, er reißt die Augen auf, beißt die Zähne aufeinander und starrt mich an.
Ich höre Oleg schnaufen, dann sagt er: »Hat die dir das gesagt oder was? Die Hure? Hat dir die Hure das gesagt, Polijak, mhm?«
»Du hast sie vergewaltigt und dann ist sie schwanger geworden, und jeder hat gewusst, dass das dein Kind ist, sogar deine Mutter. Und deswegen hat sie Maruschka hierhergeholt.«
Als ich das gesagt habe, atme ich tief ein und aus, blinzle zu Oleg und Maruschka rüber.
Und da passiert es plötzlich – da sehe ich in diesem Bruchteil einer Sekunde plötzlich diese eine kleine Bewegung aus dem Augenwinkel: wie Oleg seine Waffe von Maruschkas Schläfe wegbewegt, wie er sie neigt, auf mich halten will; und ich schwenke reflexartig meine Knarre wieder rüber zu Oleg und Maruschka – und da knallt es auf einmal, da hat sich auf einmal dieser Schuss aus meiner Waffe gelöst, und der Kolben schlägt wieder nach hinten, mit voller Wucht.
Kurz zieht sich alles in mir zusammen, kurz denke ich: nein, nein, nein, das kann nicht sein, nein, nein, nein; aber als es Olegs Kopf ist, den es nach hinten schleudert, als es Olegs Blut ist, das auf die Tapete hinter ihm spritzt, und Maruschka einfach starr stehenbleibt, da weiß ich es: Ich habe an ihr vorbeigeschossen.
Sofort fängt Stalin das Brüllen an, und ich kann meine Knarre gar nicht schnell genug wieder auf ihn richten, da hat er mich schon, da ist er schon an mir dran, schlägt mir die Pistole aus der Hand und prügelt mir seine Faust erst in den Magen, dann ins Gesicht. Ich gehe sofort zu Boden, sehe kurz Schwarz: Und dann ist er über mir, Stalin, mit diesem Gesicht, mit diesen ganzen Narben, mit den gefletschten Zähnen, den eisigen, blauen Augen – er würgt mich, ich versuche, ihn zu schlagen, ihn von mir wegzubekommen, aber ich schaffe es nicht: Ich werde schwächer und schwächer; Stalins Gesicht, die Narben, die eisigen Augen ...
Dann ein Schuss, noch einer und noch einer, und plötzlich wird es warm um mich herum, plötzlich spüre ich Stalins Gewicht auf mir liegen. Als ich wieder zu mir komme, sehe ich Maruschka über mir stehen, mit weit aufgerissenen Augen und der rauchenden Knarre noch in den Händen. Ich schiebe Stalin von mir und ringe nach Luft. Als ich mich wieder auf die Beine ziehen kann, nehme ich Maruschka die Waffe aus der Hand.
»Ich hasse sie«, sagt sie, und starrt noch immer auf Stalin. »Ich hasse diese Hurensöhne, ich hasse sie!«
Ich blicke kurz zu Stalin runter; auf die Einschusslöcher auf seinem Hinterkopf und seinem Rücken, aus denen dunkles Blut quillt.
»Wir müssen weg«, sage ich, und atme tief ein und aus, »komm schon, wir müssen hier weg.«
Ich rase mit Stalins Volvo Richtung Süden, immer Richtung Süden. Vor ein paar Stunden haben wir eine Apotheke ausgeräumt, mit letzten Kräften, weil wir beide einen dermaßenen Affen geschoben haben, dass wir dachten, wir gehen sonst drauf. Die Pistole war zwar leer, aber das hat natürlich keiner gecheckt – ich habe sie jetzt im Hoodie stecken, nur für den Notfall.
Maruschka sitzt zusammengekauert auf dem Beifahrersitz und schläft. Sie hat sich zu ihrem Schuss noch jede Menge Downer reingeballert, weil sie meint, das Methadon wirkt bei ihr nicht, das stillt nicht dieses Verlangen, diese Gier. Ich blicke sie an und sehe ihr braunes, langes Haar, ihre feinen, knochigen, weißen Finger.
Ich weiß, dass wir beide nicht mehr lange leben werden. Egal, wer uns zuerst kriegt, die Bullen oder die Vladows, wir werden draufgehen – wer glaubt, Familien wie die Vladows würden sowas auf sich sitzen lassen, wer glaubt, die hätten nicht auch ihre Leute im Knast, der hat keine Ahnung.
Ich fahre auf eine Raststätte, stelle den Wagen ab. Die Sterne hängen da oben und leuchten, als ob sie irgendeine Bedeutung hätten, als ob sie einem irgendetwas sagen könnten, würde man sie bloß richtig verstehen. Maruschkas Brustkorb hebt und senkt sich, ich höre sie atmen.
Zuerst treffe ich die Vene an meinem Bein nicht, es ist zu dunkel – schließlich klappt es und mich durchfluten diese warmen, gigantischen Wellen, ein Ozean aus Träumen: Ich denke an diesen einen Tag, als ich Maruschka das erste Mal gesehen habe, am Grünen Markt. Keine Ahnung, ob das gut war. Keine Ahnung, ob all das, was danach passiert ist, ob das nicht irgendwie mit diesem Nachmittag zusammenhängt: ob das nicht die Wurzel, der Ursprung von alldem ist.
Aber nein, das kann gar nicht sein – ich denke, es hat viel früher begonnen: Es hat in mir drin begonnen, damals, mit Denis, im alten Sägewerk; es hat in mir drin begonnen und ist angewachsen: wie ein Fremdkörper, wie ein Geschwür, das ein immer größerer Teil von mir wurde.
Und das Schicksal? War diese ganze Sache, war die mein Schicksal? Oder war sie bloß eine Kette von Zufällen, von richtigen und falschen Entscheidungen? Und woher, zum Teufel, woher soll man eigentlich wissen, ob man seiner eigenen, göttlichen Vorherbestimmung – wenn sie denn existiert – ob man der gefolgt, oder wieder vor ihr weggelaufen ist?
Über all das denke ich nach, als ich auf der Raststätte im Auto sitze und über die Motorhaube ins dunkle Nichts blicke.
Und dann ist da plötzlich so ein Gefühl in mir, nur ganz kurz, nur vielleicht eine halbe Sekunde, kurz bevor mir meine Augen zufallen – es hat mit Maruschka zu tun. Mit meiner Hand, die auf ihrem Bein liegt. Dieses Gefühl, es ist etwas, was ich so noch nie empfunden habe, noch nie so intensiv; es ist etwas, das mir wie Bilder vorkommt, aber doch etwas anderes ist – etwas, aus einem längst vergessenen Traum, etwas, das vor meinem inneren Auge auftaucht und wieder verschwindet: Wärme, Licht, der Geruch von Wiesen. Meine Mutter. Eine Erdbeertorte: mein achter Geburtstag. Mein verstorbener Onkel Jergo.
Und dann sind da auf einmal nur noch große, dunkle Wellen vor mir, ein rauschendes Meer bei Nacht; Blitze, Donner, Gewitter. Kein Land.