Wege
Der mit Wolken durchzogene Himmel wird durch die zum Untergang bereite Sonne in ein rubinrot getaucht. In der Tiefe der Schlucht rauscht, gurgelt und tost das durch die unbändige Kraft des Sturzes aufgeschäumte Wasser und wälzt sich durch die Stromschnellen. In der Breite der anschließenden Ebene wird aus dem wütenden Fluss ein gemächliches dahinströmendes blaues Band, welches sich friedlich durch die Landschaft windet. Auf dem Gesims der Seilbrücke starrt ein Mann in die Tiefe, durch keine Begrenzung mehr getrennt vom Abgrund.
Selbst der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt, wie man so gerne sagt. Aber früher oder später muss der Weg dann gleichwohl zu Ende gegangen werden und schließlich ist es eben nur noch ein Schritt, ein kleiner Schritt - ein schwerer Schritt. Natürlich kann ich den Weg auch zu Ende gehen, solange bis nichts mehr geht und auf mich zukommen lassen, was sonst so kommt. Nur was dann hervortritt, ist unbestimmt, oder deutlicher von anderen fremdbestimmt. Besser den eigenen Weg selbst bestimmen und den letzten Schritt machen? In Würde, die Ehre behaltend und abschließen, was, egal wie man es betrachtet, nicht mehr weiterzuführen ist, oder es in keinerlei Hinsicht mehr wert ist, weitergeführt zu werden. Mein Weg hat mich durch das Leben geführt, durch bessere Zeiten und letztlich auch durch nicht so tolle Tage, das Jammertal und nun hierher, an diese Stelle, zu meinem letzten Schritt? Meiner Bestimmung? Mein Weg, der jetzt… „Guten Abend der Herr“, kräht eine alte Stimme hinter ihm, „genießen sie den prächtigen Sonnenuntergang hier?
Er antwortet: „Ja-nein, ich hatte gerade vor…“
„Ist ja einfach herrlich hier,“ fällt der Alte ihm ins Wort. „Früher bin ich auch immer über das Geländer geklettert, da hat man doch die bessere Aussicht. Die Absperrung ist ja gut und schön, aber uns Touristen stört das doch, so hoch wie die ist. Durchsehen kann man auch nicht komplett.“
„Ja –ja, die Aussicht ist sehr schön hier“, sagt er leise und in die Ferne blickend.
„Wissen sie“, führt der Alte weiter aus „so mit den Wolken find` ich schon besser, blauer Himmel ist ja ganz hübsch, aber wenn die Sonne untergeht und die Wolken davor so schön rot sind, das ist doch toll.“
„Ja. Ein guter Tag zum Untergehen“, sagt der junge Mann.
„Sicher sicher, da haben sie Recht, ich komme ja hier schon über dreißig Jahre hin für den Urlaub und so. Immer wieder herrlich. Bleiben sie noch länger hier?“
Den Blick von dem alten Mann abgewandt und in die Tiefe schauen erwidert er: „Ich werde wohl noch heute Schluss machen.“
„Ach wie schade, ist ja klar, in ihrem Alter muss man ja auch wieder zur Arbeit. Ich bin ja Rentner, ich bleibe dann gerne was länger hier und wenn das Wetter so schön ist wie an diesem Tag, gehe ich abends noch ein Ründchen.“
„Lasen sie sich durch mich nicht aufhalten“, sagt der jüngere. „Nein nein, ich unterhalte mich doch gerade so angenehm mit ihnen und so gut bin ich ja auch nicht zu Fuß, dass Alter halt, und irgendwie wollen die Leute sich ja heutzutage nicht mehr unterhalten. Immer wenn man gerade so schön ins Gespräch kommt, müssen die direkt weg.“
„Ach, was sie nicht sagen.“
„Ja, so ist das, keiner hat Zeit in unseren Tagen. Als meine Frau noch gelebt hat, konnte ich ihr ständig und in einem fort was erzählen. Na ja, sie war taub, aber sie hat immer so lieb geschaut, wenn ich erzählte…“
Mit erstaunten Entsetzen starrt er den Alten an.
„Ja, da schauen sie, was? Und haben sie heute schon was gegessen? Ich war ja eben beim Chinesen essen, da geh` ich oft hin, da gibt es so ein tolles Schweineschnitzel, schön mit Pommes, wie sich das gehört. Denkt man ja absolut nicht, dass die in China das genauso machen wie bei uns, was? Und so höflich sind die da. Wie nett man begrüßt wird dort. Auch wenn man geht, ist eine Freude bei den Asiaten da, bis über beide Ohren. Kann man sich kaum vorstellen…“
„Na, genau das kann ich mir jetzt grade leidlich ausmalen“, schiebt der junge Mann schnell ein.
„Ach ja wirklich? Ihr jungen Leute kennt euch ja auch da besser aus mit den modernen Sachen, früher gab`s ja keine Chinesen, also so mit Essen und so. Ich war ja hier auch mal beim Inder, ist mir aber zu scharf, und Schnitzel gibt`s da auch nicht, komisch was? Dabei ist doch Indien direkt neben China, dann müsste das dann doch auch irgendwie dahin gekommen sein. Oder nicht?“
„Ja, die Welt ist voller Mysterien.“
„Voller was? Aber egal, sie werden schon Recht haben, das neue Zeug ist ja nichts mehr für mich. Schade, dass der Film auf meinem Fotoapparat voll ist, sonst hätten wir mal ein paar Fotos von uns machen können.“
„Film?“, fragt der junge Mann.
„Ja Film! Die neuen Apparate find` ich nicht so toll, passt ja viel drauf, aber irgendwann sind die dann doch voll und dann muss man sich wieder einen neuen holen. Ich hab` bestimmt schon zehn Stück zu Hause und dann muss man sich die Bilder immer auf dem kleinen Bildschirm anschauen, nä, das ist nichts mehr für mich. Dann lieber ein schönes Fotoalbum, wie sich das so gehört. Kann man auch noch was Schönes dazuschreiben, wie mein Gedicht, wollen Sie es mal hören?“
„Habe ich eine Wahl?“
„Nene, sie sind lustig, da müssten sie schon springen!“, kräht er munter und beginnt vorzutragen:
„Wo Wasser den Berg runterrutscht und schäumt
Der Wandrer von der Vesper träumt
Wo Bäume im Wald Schatten geben
Da lässt es sich leben!“
„Wie finden sie`s?“ fragt der Alte nach.
„Wahnsinn. Ich bin sprachlos – völliger Wahnsinn.“
„Ich hab` das Gedicht auch an ein paar Zeitungen geschickt, hat aber niemand gedruckt, ich weiß auch nicht warum.“
Der junge Mann setzt langsam an, sich über das Geländer zurück auf die Straße zu schwingen, und sagt: „Vermutlich ist die subtile Reduktion und Konzentration des Gedichtes auf das Wesentliche nicht für den Geschmack der Masse der Zeitungsleser geeignet.“, freundschaftlich schlägt er ihm auf die Schulter: „Alles Gute für die Reise, für die letzte Reise…“ packt ihn und wirft ihn im hohen Bogen über das Geländer in die Tiefe der Schlucht.
Der schrille Schrei wird alsbald von dem Tosen der Stromschnellen überlagert. Der junge Mann schaut herab in die Fluten, bis der leblose Körper bäuchlings in den breiten, friedlichen und ruhigen Teil des Flusses und sodann in die ausweiten Ebene des Tals treibt. Der Blick verharrt noch eine Weile auf der von der untergehenden Sonne in ein tiefes Rot getauchten Szene. Kopfschüttelnd dreht er sich um und geht, geht seinen Weg weiter…