Was ist neu

Wege zur Nacht

Mitglied
Beitritt
15.02.2003
Beiträge
434
Zuletzt bearbeitet:

Wege zur Nacht

Heute verlasse ich das Büro etwas früher als sonst, es ist noch hell. Ein warmer Wind streift meine Haut und Häuserwände. Auf dem Weg zur U-Bahn muss ich ein bisschen lächeln, ich weiß auch nicht.

Neben mir nimmt eine alte Dame Platz, sie nickt mir freundlich zu. Ich glaube nicht, dass ich sie kenne, trotzdem nicke ich zurück. In der Scheibe gegenüber betrachte ich unsere Spiegelbilder, ich bin mir fast sicher, sie nicht zu kennen. Alles was ich sehe, ist die Schönheit unserer Gesichter in der Scheibe, wir sind weich und die Umrisse leuchten ein bisschen im Schein der Deckenlampen.

Weiter hinten im Gang unterhalten sich zwei alte Männer. Der eine malt mir unbekannte Zeichen in die Luft und spricht dabei. Der andere sitzt nur da und hört zu. Ich verstehe nicht, was sie reden, sie sind zu weit entfernt. Die Räder rattern unter meinen Füßen und am Fenster fliegt die Nacht vorbei.

Beim Aussteigen werfe ich noch einen letzten Blick auf die alte Dame. Sie kramt in ihrer Tasche und beachtet mich nicht mehr.

Das letzte Stück gehe ich zu Fuß. In den Schaufenstern spiegelt sich die Sonne wie in kleinen Teichen. Der Verkehr rauscht in den Abend, an den Fenstern sind Gesichter, glänzend und rot, zwischen uns ist nur das Glas und noch irgendetwas anderes, ich weiß nicht, ob es ein Wort gibt.

Hinter einer Hausecke liegen zwei Beine auf dem Gehsteig, fast falle ich darüber. Sie gehören einer jungen Frau. Wie eine herrenlose Katze sitzt sie auf dem Gehsteig und blickt nicht auf. Entschuldigung, sage ich. Sie zeigt keine Reaktion und ich will mich schon umdrehen und weitergehen, als ich ihre Kleidung sehe. Der Rock ist aus einem alten Vorhang gemacht und die Schuhe sind kein Paar.

Aus meinem Portemonnaie suche ich ein paar Münzen heraus, ich blicke mich um nach einer Dose oder irgendetwas, wo man das Geld hineintut. Es ist nichts zu finden, ich bin etwas ratlos, da hebt sie den Kopf und sieht mich an. Wieder muss ich an eine Katze denken. Unwillkürlich weiche ich einen Schritt zurück.

Ein Schatten huscht über ihr Gesicht, als sie die Hand in meine Richtung streckt, vielleicht ist es auch ein Lächeln. Es lässt sich nicht sagen, ich bin mir nicht einmal sicher, dass die Geste mir gilt, aber ich weiß, dass da niemand sonst ist; wenn ich mich umdrehe, ist da nur die Sonne. Komm, sagt sie. Mehr nicht. Dann steht sie auf und macht einen Schritt auf mich zu. Sie nimmt meinen Arm. Ich kann nicht sagen, ob ihr Griff sehr fest ist, aber es kommt mir so vor.

Sie zieht mich die Straße hinunter und ich wehre mich nicht. Die ganze Zeit über sagt sie nichts, sie starrt geradeaus. Das Klappern ihrer Schritte irritiert mich, als ich den Blick senke, sehe ich, dass sie etwas humpelt. Vielleicht sind es auch nur die Schuhe, die kein Paar sind und außerdem verschieden hohe Absätze haben. Ich betrachte ihr Gesicht von der Seite. Eine Schönheit ist sie nicht, ganz bestimmt nicht. Sie ist blass wie der Mond und ihr Haar bricht, wenn man zu lange hinsieht. Nach einer Weile frage ich sie nach ihrem Namen. Kolja, sagt sie und zieht stärker.

Allmählich werden die Abstände zwischen den Schaufenstern größer, alles ist grau und eckig und streckt sich traurig in den Himmel. Einmal taucht am Straßenrand ein Wohnwagen auf, die Radachsen fehlen und das Ganze sieht aus wie ein an Land gespülter Fisch. Ich frage, wohin sie mich bringt. Du bist neugierig, sagt sie, frag nicht so viel, bitte. Sie sagt „neugirrig“ und ich kratze mich am Kopf.

Unsere Schatten werden länger und verblassen irgendwann, ich verpasse den Moment, in dem es geschieht. Es ist schon dunkel, als wir immer noch durch die Straßen laufen. Am Himmel blinkt ein kleines, rotes Licht, ein Flugzeug. Ich versuche mir vorzustellen, was die Leute denken, wenn sie uns von da oben beobachten. Vermutlich schütteln sie den Kopf und sagen, schau mal, die irren da umher. Da fällt mir ein, dass sie uns wahrscheinlich gar nicht sehen, wir leuchten nicht hell genug. Ich will irgendetwas sagen, aber es ist nur ein Augenblick und Kolja zieht mich auch schon weiter.

Eine Weile später spüre ich, wie sich der Griff um meinen Arm ein bisschen lockert. Hinter uns rollt eine Tonne scheppernd auf die Straße. Ich halte an und blicke zurück. Da ist niemand, nur die Tonne, die vom Wind herumgerollt wird und an den Bordstein schlägt.

Über unseren Köpfen schließen sich die Fenster wie müde Augen. Kolja schaut nicht hoch, ihr Blick ist weiter starr geradeaus gerichtet. Auf den Hinterhöfen bellen Hunde, das alles muss sehr weit weg sein, denke ich. Ich folge ihr in eine dunkle Seitenstraße. Vor einem Hauseingang ohne Schilder an den Klingeln bleibt sie stehen. Sie dreht sich um, zum ersten Mal. Ihre Augen mustern mich, ich habe das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen, erklären kann ich es nicht.

Irgendetwas stimmt nicht, die Augen der Katzen leuchten in der Nacht. Kolja´s Augen sind schwarz. Ich frage mich, wie es aussähe, wenn der Mond zwei Augen hätte.

Das Treppenhaus ist alt und kaputt. Alles ist aus Holz und jeder Schritt macht ein Geräusch. Kolja sieht mich an und legt den Zeigefinger an die Lippen. Ich zucke die Schultern und blicke zurück. Neben dem Eingang lehnt ein rostiges Fahrrad, es hat eine Klingel und zerbrochene Speichen. Manchmal lässt Kolja eine Stufe aus, ich mache es ihr nach, weil ich nicht einbrechen will.

An den Türen sind keine Namen, manchmal ist etwas in den Rahmen eingeritzt, einmal steckt ein Nagel im Holz und ein kleiner Zettel hängt daran. Kolja bleibt stehen und ich frage, wo wir sind. Zuhause, sagt sie. Sie braucht keinen Schlüssel, die Tür ist nicht verschlossen. Ich warte einen Moment. Da ist noch etwas, was nicht weiß und nicht will, es ist nicht viel. Ich trete ein und überlege kurz, ob ich die Tür hinter mir schließen soll.

Das einzige Licht im Raum kommt aus einer Glühbirne an der Decke, der größte Teil des Zimmers liegt im Dunkeln. An der Wand kleben alte Zeitungen, vielleicht ist sie dahinter hohl. Kolja tanzt mit sicheren Schritten durch die Dunkelheit, hierhin und dorthin, auf einmal steht sie hinter mir und hat eine Kerze in der Hand. Ich blicke auf die kleine Flamme und dann auf ihren Widerschein in Kolja´s Gesicht. Einen Moment lang glaube ich zu wissen, wie sich ihre Haut anfühlt, aber es dauert nicht lange. Dabei denke ich an Fell.

Auf einmal ist sie weg, in der Ecke gegenüber taucht sie wieder auf. Komm, sagt sie, diesmal leise. Vor ihr steht ein Bett. Es ist alt und kaputt wie alle Dinge hier. Ich taste mich durch das dunkle Zimmer und stoße an kleine Tischen und Schränke. Es sind eigenartig viele. Das Gepolter beachte ich nicht, erst als sie die Kerze über das Bett hebt, verlangsamen sich meine Schritte. In dem Bett liegt eine alte Frau. Einen Moment lang starre ich sie stumm an, dann führt Kolja die Kerze wieder höher und sagt noch einmal: Komm.

Obwohl ich dicht am Bett stehe, muss ich mich tief hinunterbeugen, um die alte Frau atmen zu hören. Als ich ganz nah an ihrem Gesicht bin, öffnet sich ihr Mund. Aber es kommen keine Worte, die Frau beginnt zu husten, ein trockener, warmer Husten, noch ein bisschen Dunkelheit. Ich trete einen Schritt zurück und das Knarren der Dielen vermischt sich mit dem Husten. Kolja wischt der alten Frau mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Es hilft nicht viel, sofort sind neue Schweißperlen da. Ich sehe mich nach einem Fenster um, kann aber keines finden, vielleicht sind sie mit Zeitungen verklebt.

Etwas zupft an meinem Ärmel, es ist die Hand der alten Frau. Ich trete wieder näher ans Bett und neige mich zum Kissen oder einfach in die Dunkelheit. Es ist nichts zu erkennen, da ist nur ein leises Rasseln und der Atem, den ich auf der Wange spüre. Ich glaube, sie beginnt zu sprechen, verstehe aber nichts von dem, was sie sagt. Sie spricht leise und ihre Worte gehen ineinander über und verschwimmen zu einer Sache, die ich nicht kenne. Nach einer Weile sagt Kolja etwas in einer fremden Sprache und die alte Frau versucht, zu lächeln. Danach verstehe ich sie etwas besser, sie spricht ein wenig deutsch.

Sie deutet auf den Boden am Fußende ihres Bettes und Kolja zieht ein schmales Album aus der Dunkelheit. Sie legt es auf die Bettdecke und hält die Kerze darüber. Die alte Frau nimmt es und streicht mit der Hand über den Umschlag. Dann schlägt sie es auf und sieht mich an. Auf jeder Seite ist ein Foto, manche sind zu verblichen, man kann nichts erkennen. Trotzdem erzählt sie eine Geschichte zu jedem einzelnen.

Ich sehe Männer mit Fischen, einen Jungen auf einer Wiese, Portraits von Frauen mit sonderbaren Hüten. Als sie mir ein kleines Mädchen zeigt, lächelt sie und blickt zu Kolja, die mit der Kerze in der Hand auf der Bettkante herumrutscht. Ihr Gesicht liegt im Dunklen.

Auf der letzten Seite ist ein Bild, das noch nicht eingeheftet wurde. Darauf ist ein Mann mit einer Axt auf der Schulter zu sehen, im Hintergrund sind Berge und ein Wald. Ich frage, wo das ist. Zuhause, flüstert sie. Eine Weile schweigt sie, dann erzählt sie mir von ihrem Leben dort, von den Bergen und den Wäldern, von Kolja, als sie klein war und von ihrem Mann, der nun nicht mehr da ist. Wieder verstummt sie. Sie klappt das Album zu und legt es weg, sie reicht mir ihre Hand.

Ich zögere, als ich sehe, wie zerbrechlich sie ist. Kolja rückt etwas näher zu ihrer Mutter. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die alte Frau lächelt mich an. Ihr Mann ist fort, aber das sei nun nicht mehr so schlimm. Nun sei ich ja da.

 

Hi Wolkenkind!
Deine Geschichte gefällt mir sehr gut! Sie hat mich gefesselt, ich konnte nicht mehr davon lassen, bis ich fertig war!
Die Art, wie du die Sprache gebrauchst, ist wundervoll! Ich konnte mir die ganze Geschichte sehr lebhaft vorstellen.
Besonders der Satz "Ich zögere, als ich sehe, wie zerbrechlich sie ist." gefällt mir. Ich freue mich schon, deine nächsten Geschichten zu lesen!

Schönen Abend wünscht
Marana

 

Hi marana

Danke für die netten Worte, die erste Antwort ist oft die wichtigste :D
Habe jetzt ehrlich gesagt wieder die Sinnsucher erwartet, die sich nicht zwischen den Zeilen verlaufen wollen.
Schön, dass dir die Sprache gefällt, hab noch nie so einfach geschrieben, wollte den Kontrast zu den bunten Bildern aus "Glas".

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hi Wolkenkind!

Wow!!! Das ist mal der erste Kommentar zu deiner Geschichte! Mir fehlen beinahe die Worte :)! Ich finde deine Geschichte wirklich super!!! Deine Sprache ist sehr blumig und ausgeschmückt, man taucht richtig in die Geschichte ein und kommt nicht mehr von ihr los, bis man sie fertig gelesen hat :)! Du kannst alles sehr gut beschreiben und man kann sich auch richtig in die Personen hineinfühlen.
Nur eine kleine Kritik (ich weiss, du hörst das bestimmt nicht gerne, geht wohl ein bisschen in die Richtung der Sinnsuche): die geschichte ist wirklich wunderschön, aber irgendwie fehlt mir trotzdem irgendetwas. irgendetwas, woran ich mich festhalten kann, damit die geschichte nicht einfach an mir vorbeifliesst, wie ein wunderschöner Augenblick, den man nicht festhalten kann (ich hoffe, du verstehst das ein bisschen). ja, vielleicht ist es wirklich eine Art Sinn, die ich vermisse.
Mach weiter so, du schreibst super :)!!

Liebe Grüsse
Lune

 

Hi Lune

Danke für dein Wow!!! :D Wenn du sagst, man kommt nicht los vom Lesen, dann freut mich das besonders, weil ich auch vom Schreiben kaum los kam. Wieso du die Sprache ausgeschmückt nennst, verstehe ich allerdings nicht. Ich schrecke schon zusammen, wenn ich ein dreisilbiges Wort sehe. Außerdem versuche ich, wirklich nur das Nötigste zu schreiben. Manchmal ist es sogar zu wenig. Wer also was Überflüssiges findet, der schreie bitte laut :)
Danke auch für die Kritik, jede Kritik ist wertvoll, weil sie oft mehr über die Geschichte aussagt, als diese allein. Ich denke, ein Sinn lässt sich überall finden. Man könnte sagen, der Prot wird aus seiner Büro- und Neonlicht-Welt gerissen und in ein Leben entführt, in dem es keinen Arzt gibt, in dem nicht einmal der Name an der Tür steht.
Vielleicht kannst du damit etwas anfangen.
Aber Sinn oder Moral sind mir viel zu abstrakte Begriffe, ich bin zu feige, um irgendwem etwas von Moral zu erzählen. Ich weiß nicht, wieviel es wert ist, etwas Greifbares zu haben, etwas zum Erinnern. Meiner Meinung nach sind Erinnerung nur unsere eigene Propaganda, aber das ist eine andere Geschichte :)

Lieben Gruß
wolkenkind

 

Hi Wolkenkind!

Vielleicht hast du recht, nicht jede Geschichte braucht einen Sinn. Und den Wert von Erinnerungen, der muss wohl jeder für sich selbst herausfinden. Ein kleiner Tipp: Wage dich ruhig, etwas zu schreiben, durch das du etwas ganz bestimmtes ausdrücken willst! Einen Versuch ist es bestimmt Wert und schaden wird es auch nichts :)!

Liebe Grüsse
Lune

 

Hallo Lune

Hehe, danke für die Ermutigung aber das Schreiben mit vielen Hintergedanken überlasse ich vorerst den Leuten, die schon mehr als 30 Jahre auf dem Konto haben und sich weise nennen dürfen :D

Hi White Wolf

Freut mich, dass auch dir die Geschichte gefällt.
Dein "traumhaft" trifft den Sinn vielleicht am ehesten, aber es gibt ja auch Leute, die Träume interpretieren.
Dass du dich an Frankfurt erinnert fühlst, war nicht beabsichtigt, aber scheint ja ne trostlose Gegend zu sein :D.

P.S. Könnt ihr mal sagen, ob euch der teilweise verdrehte Satzbau stört, würde mir sehr helfen.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hi Wolkenkind!

Mich hat am Satzbau eigentlich nichts gestört!

Grüsse Lune

 

Hallo Wolkenkind!

Deine Geschichte ist wieder einmal ganz, ganz stark geworden. Du erzählst so ruhig und einfach, und doch mit so vielen kleinen Details. Man kann sich die Personen richtig vorstellen, das marode Haus, Du zauberst viel Stimmung. Ausgeschmückt würde ich den Stil keinesfalls bezeichnen, er ist reduziert, und das ist gut so. An einigen Stellen gibst Du bloß den Rahmen vor, der Leser muss mitmachen. Hat mir sehr gut gefallen. Der Schluss allerdings ging mir fast zu schnell, zu übereilt. Dem Protagonisten wird es ähnlich gegangen sein.

Schöne Grüße, Anne

 

Hallo Maus

Ja, der Leser muss mitmachen, aber vor allem muss er lesen :). Dass er dabei nicht einschläft, versuche ich mit den eigenwilligen Satzkonstruktionen etwas auszugleichen, aber die Sorge, dass der Leser ratlos bleibt, besteht weiter.

Beim Schluss habe ich gedacht, dass die Geschichte diesmal nicht langsam davonfließen und untergehen soll, der letzte Satz ist ein Schlag für den Prot, er ist so benommen, dass er die Wiedergabe an den Erzähler abtritt.
Ich weiß nicht, ob das klar genug rauskommt, aber das wichtige bei dem Satz ist die Endgültigkeit und das Unausweichliche. Seine Person wurde einfach verplant, von Liebe redet niemand, ob der Prot damit bestraft wird, muss jeder selbst entscheiden.

Danke für die positiven Worte Lune, Maus und White Wolf, ich dachte, der Satzbau kommt zu gewollt rüber ;)

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom