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Weg, dort, nach Hause und wieder zurück
Schon seit dreißig Stunden tuckert unser Zug in Richtung Westen. Wie eine Blindschleiche windet er sich Kilometer für Kilometer zwischen den durstigen Feldern. In den Städten hinter uns brodelt nach dem Knall das Chaos. Auf dem Land ist es ruhig. Hier sagen die Leute noch immer: "Russland ist groß und der Zar ist weit."
Entlang der Strecke starren mich verkrüppelte Häuser mit stummen Fenstern an. Hinter ihnen könnte alles stecken. Aber da ist nichts. Hier existiert nur die Zeit. Sie spielt Harmonika und singt Lieder über staubige Wege, wie sich das Eis der Winter auf ihre Haut legt.
Die Sonne knallt heute ohne Erbarmen auf die Erde. Der Zug verlässt die Felder, überquert Flüsse, taucht ein in den Schummer der Wälder und taucht auf inmitten wilder Wiesen.
Mein Onkel sagt, wenn wir uns bewegen, haben wir eine Zukunft. Er ist Physiker, das wird schon stimmen.
Im Zugrestaurant riecht die Luft nach Bratkartoffeln und Sehnsucht. In der Karte steht was von Hering, aber in der Küche ist der Hering alle. Der Kellner grinst; ja, wo ist denn bloß der ganze Hering?
Dafür serviert er Tee, der zwar schwarz aussieht, aber bloß nach Wasser schmeckt. Die kupfernen Glashalter gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. „Ich habe vier Stück aufgeschrieben“, raunt der Kellner durch seinen Schnurrbart.
Der Waggon ist voll. Die ledernen Sitze sind durch tausende Hosen und Röcke bis in ihre Eingeweide hinein abgerieben. Es sieht unanständig aus, aber niemand schämt sich. Es ist nicht unanständig, wenn niemand sich schämt.
Mein Vater sitzt mir gegenüber und streichelt seinen Bart. Er hat ihn lang und buschig gezüchtet, wie einen Bonsai. Jahrelange Mühen stecken in diesen krausen Haaren.
Meine Mutter sagt: „Mit diesem Spaten im Gesicht siehst du aus wie ein Hausmeister.“ Und lacht.
Ich finde, sie hat Recht. Vor allem wenn sich in dem Bart Krümel verfangen, erinnert er mich an Onkel Sidor, wie er den Hof vom Herbstlaub frei kehrt.
Mein Vater sieht das anders. Er meint, er würde Rasputin ähneln oder einem Burgherrn. Das findet meine Mutter lustig. In Russland gäbe es keine Burgherren und jüdische Burgherren schon gar nicht. Mehr sagt sie nicht, sie ist eine kluge Frau.
Mein Vater schweigt. Insgeheim hofft er, sich in Deutschland eine Burg zu bauen. Einmal Burgherr sein. Dass sich der Bart ziemt.
Mein Vater raucht. Mein Vater klopft mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Dreht an dem Ehering. Denkt an die Burg. Zurück lässt er zwei Zimmer. Spielt mit der Tischdecke. Ihre Muster sind mit Löchern unaufmerksamer Asche übersät. Achter Stock unterm Dach. Der Balkon weiß von Taubenscheiße. Roter Lada in Sichtweite vor der Tür mit einer kaputten Alarmanlage. Der Lada von Onkel Sidor ist weiß. Onkel Sidor hat keine Alarmanlage.
Die Fenster im Waggon sind weit geöffnet und wir hören Geröll, wie es tosend an uns vorbeirauscht.
Neben mir sitzt eine feine Babuschka. Nach ihrem Gesicht könnte man Kameen gravieren. Es sieht aus wie ein Kunstwerk aus Schatten und Spitzen. Graue Haare mit einem Schuss Schwarz wellen sich auf ihren Schultern.
Sie stellt sich vor. Sie heißt Maria Evgenievna. Pensionärin aus Moskau. Zurück lässt sie drei Zimmer und Geranien auf dem Balkon. Die Nachbarin habe versprochen, sie zu gießen, aber wahrscheinlich habe sie gelogen. Mein Vater meint, schade. Maria Evgenievna meint, ja, aber sie könne das verstehen. Wenigstens sei die Katze in guten Händen.
Mit ihr ist ein Junge. Kostja. Er ist jünger als ich und schmaler. Sommersprossen drängen aus seiner blassen Haut gegen das Licht. Kostja schweigt und schaut nach draußen. Schaut mich nicht an, beobachtet das Geröll, sieht in die stummen Fenster hinein, hört zu, wie die Zeit Harmonika spielt.
Maria Evgenievna fängt an, Gedichte zu lesen. Sie murmelt die Strophen vor sich hin und streichelt dabei den weißen Arm von Kostja. Ich lausche dem Klang, die Worte sind in meinem Kopf vernebelt.
Es sind Gedichte aus der Zeit vor der Revolution. Gedichte aus vergangenen Jahrhunderten. Keiner liest mehr solche Gedichte. Gedichte, die nur noch Geist sind. Ein Geist, so groß, dass er nicht in den Bauch passt, einer der sich von Heimweh nährt, dem Heimweh nach Zeiten, die man selbst nicht erlebt hat.
Von unendlichen Weiten erzählen die Gedichte, von Holzhütten, von Ruhe und von Moos, von Tau und von Wehmut. In ihren Zeilen blüht der Mai, zwischen den Buchstaben knistert der Januar. Ich höre Pferde wiehern und rieche den Duft von Tannen. Als wäre das für immer. Als wäre es da für die Ewigkeit. Als wäre die Zukunft eine Lüge.
Meine Oma kennt diese Gedichte auch. Als ich klein gewesen bin, nahm sie mich mit in den Park. Ich trat nach dem Laub, wirbelte seine bunten Berge auf, packte sein Gelb, sein Grün und sein Rot und zerstreute diese Haufen über ihrem Kopf. Sie tat das Gleiche.
Und dann sagte meine Oma Gedichte auf. Sie las von den Bergen des Kaukasus und von alten Tauben. Eigentlich handelten sie alle von Leid und Liebe.
Diese Zeit ist Vergangenheit. Ich kenne diese Gedichte nicht mehr. Kostja kennt diese Gedichte nicht mehr. Sie klingen noch und rühren uns, aber wir merken die Worte nicht mehr. Die Gegenwart legt sich wie nasses Laub Schicht für Schicht über sie, Laub das niemand mehr aufwirbelt.
Ich sehe durstige Felder. Ich sehe verkrüppelte Häuser. Ich sehe stumme Fenster.
Nachdem Maria Evgenievna schweigt, bestellt mein Vater mehr Tee. Er will was aus unserem Leben erzählen. Wieso wir im Zug sitzen, was wir zurückgelassen haben. Als bedürfe es einer Rechtfertigung, dass wir uns bewegen.
Er streichelt seinen Bart, er klopft mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte, er dreht an seinem Ehering, er legt seine Hände um die kupfernen Glashalter.
Wo fängt er an?
Wenn Sie schon so fragen, Maria Evgenievna ...
Eine Emigrantengeschichte ist eine Emigrantengeschichte ist eine Emigrantengeschichte. Es sind immer die gleichen Bausteine. Unsere setzt mein Vater gerade für Maria Evgenievna zusammen.
Ich habe das alles schon gehört. Ich weiß wie es angefangen hat. Ich sehe meinen klugen Onkel in unserem Wohnzimmer, Arme und Beine zu einer Kordel gewunden, im Sessel zusammengekauert, den Kopf zwischen den Schultern versenkt.
Ein Schneesturm tobt vor dem Fenster, das Radio rauscht auf der Kommode. Es prophezeit den Untergang. Mein Onkel stimmt mit ein. Er sagt, wir müssen in die Zukunft. Uns bewegen. Die Chimäre der Gegenwart sei gerade dabei zu zerfallen. Er habe seinen Lohn schon seit Monaten nicht gesehen. Er habe die Vase unserer Urgroßmutter an einen Georgier verkauft, der jetzt in seinem Restaurant rote Rosen in sie stecke. Millionen und Abermillionen roter Rosen stecke er in das Gedenken an fremde Kindheit.
Mein Onkel steckt immer noch in der Vergangenheit. Er hat uns versprochen nachzukommen.
Ich lehne meinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Mein Gesicht brennt und ich erhoffe mir von dem Glas Linderung, aber es ist nicht kühl. Draußen wird das Gelb der Sonne milder. Das versöhnliche Rot des Abends fließt jetzt durch ihre Adern.
Ich schließe die Augen und sehe Panzer über die Straßen rollen. Sie belagern das Parlament und den Fernsehturm. Sie wollen zurück in die Ewigkeit.
Meine kleine Schwester spielt auf dem Teppich im Wohnzimmer. Sie baut meine alten Zinnsoldaten vor sich auf und fragt, warum wir alle so besorgt schauen.
Die Stadt ist in Aufruhr. Ich will auf die Straße, ich will dabei sein, ich will die Geschichte anpacken, aber meine Mutter legt sich vor die Tür. "Nur über meine Leiche", sagt sie ruhig. Es ist kein Scherz.
Männer sterben in dieser Nacht. Sie werden Helden. Es geht weiter.
Ich höre Schüsse auf der Straße, in der Zeitung steht: "Eine Auseinandersetzung krimineller Gruppierungen endet mit drei Toten." Es waren die Leute aus Solnzewo. Sie bewegen sich in ihre eigene Zukunft.
Ich sehe Taschen voll mit Scheinen, die mein Vater nach Hause bringt. Grüne Scheine mit weißhaarigen Präsidenten, die alle schon tot sind, sind die einzig wertvollen. Valuta, frei konvertierbar. Geld für die Zukunft. Geld, das sich bewegt. Mein Vater lacht, es wachse diese Tage auf den Bäumen.
Das Staatseigentum steckt nun in kleinen Papierchen. Es ist nominal zerstückelt und unter die Leute verteilt. Jeder ist jetzt Eigentümer. Ich bin jetzt Eigentümer. Für eine kurze Zeit gehört jedem eine Nichtigkeit vom Ganzen.
Ich höre Männer gegen unsere Tür hämmern. Sie haben Glatzen und Sportanzüge. In ihren Gesichtern sind sie Vieh. Ich sehe meinen Vater zwischen ihnen stehen. Seine kleinen Gaunereien sind nicht aufgegangen. Er entschuldigt sich. Er gibt ihnen die toten Präsidenten. Sein Rücken ist gekrümmt, seine Augen flüchten. Die Männer zupfen an seinem Bart und gehen. Kein Burgherr.
Ich höre ihn sagen: "Ich bin kein mutiger Mann." Ich sehe Maria Evgenievna nicken.
"Ich habe es halt auch versucht", er schaut aus dem Fenster.
"Krieg", sagt meine Mutter. "Armee", sagt meine Mutter. "Wir können unseren Jungen nicht in diese Berge lassen, damit sie ihn dort abschlachten, wie einen Hammel." Wie einen Hammel, sagt sie. Zusammen mit anderen Hammeln, sagt sie.
Mein Vater schaut mich an. Die feine Babuschka schaut mich an. Ihr Kameenprofil weiß, was mein Vater meint. Sie haben auch einen Jungen. Sie haben auch was gewagt.
Wir Jungs sind still. Wir bewegen uns in die Zukunft.
Maria Evgenievna erzählt. Ihre Geschichte ist Vorvergangenheit. Sie handelt von Krieg, von Kommunalwohnungen,von Defizit und von Vertrauen. Ich höre nicht mehr zu, sondern lasse mich wieder von dem Klang treiben. Auch ihre Geschichte ist in mir drin, aber ich kann sie nicht packen.
Kostja spielt mit den Fransen der Tischdecke. Ich frage ihn, ob er mit mir durch den Zug laufen will, aber er schüttelt mit dem Kopf. Seine Sommersprossen wackeln dabei.
Er sei schüchtern, sagt Maria Evgenievna und tätschelt ihren Enkel an der Schulter.
Dann will er doch mitkommen. Wir gehen. Der Zug wackelt, wir halten uns manchmal an den Wänden fest. Einmal packt Kostja mich fest am Arm. Ich lächele ihm zu.
Wir gehen vorbei an den Abteilen. Familien sitzen auf ihren Taschen wie brütende Hennen. Sie schauen aus dem Fenster, sie lesen, sie spielen Karten. Wir sehen Männer mit haarigen Schultern in weißen Unterhemden, wir sehen Frauen in geblümten Kleidern und mit lackierten Zehennägeln.
Wir sind am Ende des Zuges angekommen und beobachten lange die Schienen, wie sie sich entfernen, enger und enger aneinander rücken, bis sie irgendwann zu einem Strich zusammenschmelzen.
Ich frage Kostja, ob er sich freut. Er weiß es nicht. Ich frage ihn, ob er etwas vermissen wird. Kostja denkt nach.
Er sagt, er wird seine Schule nicht vermissen. Er erzählt mir von seinem Klassenbuch, davon, dass er es einmal versteckt hat, davon, dass hinten eine Seite ist, auf der die Nationalitäten der Schüler eingetragen sind, davon, dass neben seinem Namen, "Jude" steht, davon, dass er nicht wollte, dass es die anderen wissen, davon, dass sie es trotzdem erfahren haben und davon, dass die Lehrerin meinte, es wäre doch nicht schlimm.
Ich nicke. Ich kenne auch so ein Klassenbuch. Es ist nicht nur das Klassenbuch, würde mein Vater jetzt sagen.
Kostja fragt, ob ich etwas vermissen werde. Ja, ich werde etwas vermissen. Ich werde Lena vermissen. Mir werden ihre glühenden Wangen fehlen und der süße Geruch von ihrem Hals, wenn sie ihn wie eine Trauerweide auf meine Schulter legt. Aber wir werden einander schreiben und sie kommt mich besuchen, sobald wir eine Wohnung haben. Sobald mein Vater eine Burg gebaut hat. Wir haben es einander versprochen.
Wir beobachten weiter die Schienen. Dann gehen wir wieder zurück.
Der Zug hält in einer kleinen Stadt mit dem Namen Pinsk. Wir sind jetzt in Weißrussland. Maria Evgenievna erzählt, früher hätten in der Stadt fast nur Juden gelebt. Nach dem Krieg hätte die Stadt praktisch keine Bewohner mehr gehabt. Wir sagen nichts.
Es ist der vorletzte Stopp vor der Grenze. Der letzte Stopp ist Brest, eine Heldenstadt des großen vaterländischen Krieges. Maria Evgenievna meint, dass eine Stadt kein Held sein kann. Und sie fragt sich, wie es sein kann, dass die Helden von damals heute in den Mülltonnen nach Essen suchen.
Der Schaffner gibt uns zwanzig Minuten.
Maria Evgenievna verabschiedet sich. Sie notiert unsere Adresse und verspricht zu schreiben. Mein Vater verspricht, sich über ihre Briefe zu freuen. Ich verspreche nichts und sage Kostja tschüss.
Auf dem Bahnsteig werden die Reisenden von einer Traube Babuschkas empfangen. Keine Kameenbabuschkas. Diese sehen aus wie buntscheckige Kannenwärmer. Sie verkaufen Coca-Cola und Pirogi. Kleine und große, gefüllt mit Fleisch, Kartoffeln oder mit extra Teig. Mit wimmernden Stimmen buhlen sie um Kundschaft. Ich kaufe mir einen mit Fleisch und sage dem Kannenwärmer, sie könne das Wechselgeld behalten. Es sei nicht frei konvertierbar. In der Zukunft habe ich dafür keine Verwendung. Babuschka freut sich und schenkt mir noch einen mit Kartoffeln dazu. Den bewahre ich für Nina auf. Ich sehe ihren kleinen Kopf aus dem Fenster des Abteils hinausluren.
Ich steige wieder ein und schüttele ein weiteres Stückchen Vergangenheit ab.
Ich bin müde und folge meinem Vater in unseren Waggon. Meine Mutter, meine Oma und Nina nesteln an unseren Taschen herum. Sie räumen die Sachen raus, um, ein, wieder raus und weg. Sie haben viel Essen eingepackt. Es riecht nach gebratenem Hühnchen, Salzgurken und Fleischwurst. Nina raschelt mit der Alufolie. Ich gebe ihr den Pirog mit Kartoffeln und sie gibt mir dafür ein kleines Küsschen. Nina gibt mir immer kleine Küsschen. Ich rieche an ihren Haaren. Ich rieche immer an ihren Haaren.
"Wo ist die grüne Decke?", zetert meine Mutter.
"Welche grüne Decke?", erkundigt sich mein Vater.
Meine Mutter vergisst zu antworten. Es ist eine warme Decke. Wir können sie heute sowieso nicht gebrauchen.
Der Zug gleitet langsam in die Dunkelheit. Wir essen zu Abend. Niemand spricht. Omas eingelegte Tomaten sind die besten. Sie macht aus dem Rezept ein Geheimnis, verspricht aber, es nicht mit ins Grab zu nehmen.
Mein Vater kramt ein kleines Radio aus der Tasche und holt die Abendnachrichten ins Abteil. Wir erfahren, dass in Bergkarabach wieder die Erde brennt. Meine Eltern nicken einander anerkennend zu. Ihr Junge wird sich nicht wie ein Hammel in fremden Bergen abschlachten lassen. Zum Glück gibt es in Russland noch genug andere Hammel.
Nina ist eingeschlafen. Wir beobachten, wie ihr Arm im blau-geblümten Schlafanzug im Rhythmus des Zuges vom Bett hinunter baumelt. Die Pendelbewegung beruhigt mich.
Mein Vater geht noch einmal raus auf den Gang, um eine Zigarette zu rauchen. Er lehnt sich aus dem Fenster und lässt den Wind seinen Bart durchpeitschen.
Dann machen wir das Licht aus. Die Nacht erleuchtet das Abteil. Von meinem Bett sehe ich die Sterne. Ich weiß, dass sie sich auch bewegen. Sie durchqueren ihre Unendlichkeit und ich durchquere meine.
Ich schließe die Augen und höre, wie meine Mutter unruhig atmet.
Während der Zug abfährt, sehe ich ihr ins Gesicht. Sie presst die Lippen zusammen und starrt auf den Bahnsteig. Mit aufgerissenen Augen steht dort Marina. Stehen dreißig Jahre Tür an Tür, steht die Schule, steht der Park, steht schwarzer Tee, kein Wasser, stehen Schwangerschaften, stehen Kinder, stehen Geburtstagsfeiern, das neue Jahr, noch ein neues Jahr, stehen alte Jahre, stehen Tränen, steht die Wut, steht der Vorwurf des Verrats, steht die stumme Hoffnung, steht der Stillstand. Sie steht da wie ein Kartoffelsack und ihr Mann hält sie an den Schultern, damit sie nicht auf die Erde plumpst.
Wir bewegen uns in die Zukunft. Ich sehe wieder nach den Sternen.
Um fünf Uhr morgens wache ich auf. Auf dem Gang vor der Tür höre ich lahme Füße über den Boden schlurfen. Es klopft. Laut und fordernd. Ich schweige. Wer so klopft, braucht keine Aufforderung.
Der Schaffner steckt seinen Kopf hinein. Seine rechte Wange ist zerknittert wie eine Papierrose. Er riecht nach Schweiß und Alkohol und muss in seiner Uniform geschlafen haben. Er legt den Lichtschalter um und verkündet heiser: „Zollkontrolle! Papiere bereithalten.“ Dann zieht er die Nase hoch und verschwindet. Die Füße schlurfen weiter. Der Zug wird immer langsamer. Er rollt ein in die Heldenstadt Brest. Draußen vor den Fenstern liegt Nebel über dem Gleisbett.
Der Raum zwischen den Betten füllt sich mit nackten Füßen. Nina sieht sich nicht in der Pflicht und kriecht tief unter die Decke.
Wir schweigen. Wir warten. Meine Mutter hat einen vorrevolutionären Ring in dem Radio versteckt und hat Angst. Sie schaut meinen Vater an und fragt: „Vielleicht sollen wir ihn doch deklarieren?“ Mein Vater gähnt und schüttelt mit dem Kopf: „Sei nicht dumm.“ Meine Mutter will nicht dumm sein und beißt sich auf die Lippen.
Wir warten. Wir schweigen. Dann kommen sie.
Schwere Stiefel stampfen auf dem Gang. Die Uniformen riechen nach Speck, Metall und Willkür.
Sie sind zu zweit. Die Haare sind kurz, die Schuhe frisch gewichst, die Augen grau wie Stahl. Der eine ist wuchtig, der andere sieht aus wie Dserschinski, als der junge Felix noch nicht der Eiserne war. Um ihre Schultern hängen blank polierte Kalaschnikows. Sie lächeln sehr fein und sagen kein Wort.
Mein Vater begrüßt sie und reicht Dserschinski die Pässe. Wir murmeln etwas Freundliches vor uns hin und heften unsere Blicke auf den Boden. Meine Mutter setzt sich zu Nina und drückt meine Schwester an sich.
Der Wuchtige sieht sich in dem Abteil um, stützt die Ellbogen auf das Gewehr und sagt: „Sie haben viel Gepäck.“
Ja, wir haben viel Gepäck. Das wissen wir. Pack Jahrzehnte deines Lebens zusammen, nimm dazu dein Land mit und du hast auch viel Gepäck.
Es sind Bücher, Klamotten, Bücher, noch mehr Bücher, Decken, Küchenutensilien, ein Radio, deine ganzen Erinnerungen, Schallplatten, deine Fotos, deine Briefe, deine Kindheit, noch mehr Bücher, Porzellan, deine Vergangenheit, eingelegte Tomaten, deine Ewigkeit, alles woran du dich festhältst, alles was du verlässt.
Ja, wir haben viel Gepäck. Wir haben nichts zu deklarieren. Wir haben kein Übergewicht. Wir sind brave Bürger, die ihr Land verlassen. Für eine Zeit nur. Bis es ruhiger wird. Bis die Kinder groß geworden sind und in Europa zuhause. Sie verstehen, der Junge. Der Krieg, die Armee. Er ist kein Hammel. Wir haben noch eine Wohnung in Moskau. Zwei Zimmer, achter Stock unterm Dach. Der Balkon ist leider voll mit Taubenscheiße, aber da kann man nichts machen.
„Es sammelt sich so einiges an über die Jahre“, lächelt mein Vater und streichelt seinen Bart.
Jetzt spricht Dserschinski. Er spricht von Schmuggelware, von Kulturgütern, von Generalverdacht. „Wir müssen Ihr Gepäck untersuchen“, sagt er. Sein Lächeln ist so fein, als hätte er es sich heute Morgen mit dem Messer eingeritzt. „Schaffen Sie Ihre Sachen auf den Bahnsteig.“ Seine Zähne sind gelb. „Der Zug fährt in zwanzig Minuten weiter.“ Es passiert mit euch oder ohne euch, das versteht ihr doch. „Besser Sie beeilen sich.“ Ihr habt keine Chance.
Wir schweigen.
„Sie beeilen sich besser.“
Macht euch keine Illusionen. Das ist jetzt euer letztes Problem. Es ist alles wie früher. Ihr wisst, die Zukunft ist nicht umsonst. Jede Bewegung trifft auf Hindernisse. Selbst die Sterne fliegen nicht ungehindert durchs Weltall. Passt auf die Kometen auf, nimmt euch in Acht vor Asteroiden, die schwarzen Löcher können euch gefährlich werden. Ihr seid in der Heldenstadt Brest, dort wo die Helden in den Mülltonnen wühlen, dort wo die Vergangenheit brodelt und wir alle wissen, wie viel es euch Wert ist, diesen Ort zu verlassen.
Es ist uns viel Wert. Mein Vater grummelt in seinen Bart, schaut sich um nach meiner Mutter. Sie schaut sich um nach mir. Ich schau mich um nach meiner Oma. Nina fragt, warum wir alle so besorgt schauen.
Die Grenzschützer warten. Es sind wohlhabende Leute. Manche von ihnen sind Millionäre. Ein Jahr auf diesem Posten reicht, damit man nie wieder arbeiten muss. Wie lange wird das noch dauern? Keiner weiß das. Also beeilt man sich besser. Man ist hart. Man nimmt so viel es geht.
Mein Vater bittet die Herren auf den Gang. Es seien noch Formalitäten zu besprechen. Sie verhandeln nicht lange. Mein Vater ist kein guter Geschäftsmann. Mein Vater hat auch keine guten Argumente. Er kommt nochmal rein, nimmt die kleine schwarze Tasche, schüttelt mit dem Kopf und geht, ohne jemanden von uns anzusehen, wieder hinaus.
Zwei Minuten später kommt er zurück, setzt sich auf das Bett und schweigt.
Wir schweigen auch. Wir warten. Ich schaue mir den Nebel vor den Fenstern an und versuche dahinter die Umrisse des Bahnsteigs zu erkennen. Ich höre die Stiefel auf dem Gang stampfen. Sie werden leiser. Langsam fährt der Zug wieder los.
Meine Mutter ist eine kluge Frau, aber abergläubisch. Sie will sicher gehen, dass der Zug nicht mehr anhält. Als sie denkt, wir hätten die Grenze überschritten fragt sie: „Wie viel?“
„Alles“, sagt mein Vater und streichelt seinen Bart. Kein Burgherr. Er lächelt.
Wenigstens sind wir jetzt in der Zukunft.