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Weckerläuten

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02.11.2001
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Weckerläuten

Meistens ist es so:
Das übrig gebliebene Graumatt einer weitergewanderten Nacht lasse ich auf den Lidern liegen. Vergleichbar mit dem Erdreich auf Baggerschaufeln und der Ruhe des Dunkels darunter. Noch hält mich der Schlaf an der Hand, geht mit mir spazieren und zeigt mir Träume, die ich mir nicht aussuchen kann und die ich mir so nicht gewünscht habe.
Das macht aber nichts. Ich weiß dich trotz der Träume neben mir. Darum können mir sogar die schönsten und verlogensten Träume nichts anhaben. Ich bin gefeit. Ich bin immun. Ich liebe.
Deine Wärme macht das möglich. Dein bisschen Haut auf der meinen und auch dein Atem, der mit seiner Regelmäßigkeit mein Gefühl des Aufgehoben seins in kleinen Schüben unendlich werden lässt. Ich gebe mein Glück zu, wenn ich sage, dass diese Augenblicke mit zu den kostbarsten gehören, die ich mit dir verbringen darf. Die Monotonie der Zeit danach und das Wissen, dieser Wartezeit bis zum nächsten Graumatt ausgeliefert zu sein, konnte ich bis jetzt nicht beschreiben. Zu wissen, dass wieder ein Warten in Kauf zu nehmen sein wird, um zu diesen Augenblicken zurückkehren zu können. Ein Warten über einen langen Tag hinweg, in dem sich Wahrheit und Lüge, Eintracht und Niedertracht, Sieg und Niederlage und vor allem dieser falsche Stolz entlang unserer Wege stapeln. Leere Inhalte, die ausweglos ineinander rinnen, ein unaussprechliches Konglomerat bilden und gar nicht so wichtig sind, wie sie es vorgeben zu sein.
Ein Tag eben, in dem du deine Wege findest wie ich die meinen gehen muss. Ein Selbstbedienungsladen, in dem Andere die Preise diktieren und rare Träume unbezahlbar geworden sind. Wenn der Tag das Graumatt von den Lidern wischt, so ist das eine dieser unbeschreiblichen Grausamkeiten, ohne denen es jedoch tatsächlich keine Glücksmomente gäbe. Ein Irrsinn ist diese Abhängigkeit vom Stand der Sonne.

Obwohl ich es mir bislang nicht zugetraut hatte, will ich schon lange von dem erzählen, was vor dem Weckerläuten mit mir passiert. Oder auch: Was sich für mich vor dem Weckerläuten an Wichtigem verbirgt. Dann habe ich das Buch entdeckt, in dem du gerade liest. Ich habe nur zwei Seiten darin gelesen. Dann war ich mir sicher, dass ich das Schreiben versuchen muss. Also versuche ich von der Zeit vor dem Weckerläuten zu schreiben, obwohl ich es bis heute als nicht beschreibbar vor mich hergeschoben habe.
Aber es sind Tatsachen, die uns beide, die unser Sein ausmachen. Darum das Aufschreiben. Darum der ganze Aufwand. Vielleicht gelingt ein ironischer Versuch. Vielleicht liest du es irgendwann und verstehst darin meine Suche nach Worten für all das.

Ich muss keine Fantasien bemühen, um dir in allem, das ich hier aufschreibe, nahe zu sein. Wenn du dir die Frage nach dem ,Warum gerade jetzt’ stellst, dann sei beruhigt. Es gibt eine Antwort darauf. Sie liegt zwischen dem, das du für mich bist und dem, wenn dein Platz im Bett leer wäre.
Heute Morgen wieder. Wenn du nicht da gewesen wärest, hätte ich nichts für den einen kurzen Moment gehabt, für den ich mir den kommenden Tag immer wieder schön zeichne, um ihn bis zum Abend, bis zum nächsten Morgen, bis zum Augenblick vor dem Weckerläuten zu ertragen.
Du bist. Das ist wichtig.
Darin liegt für mich alles verborgen.
Du bist gekommen und hast so viel mitgebracht. Geborgenheit zum Beispiel und die Antwort auf das für wen. Für wen ich mich auf das Herumirren zwischen den mehr und mehr werdenden unbeantworteten, vielleicht sogar unbeantwortbar gewordenen, Fragen einlasse. Für wen ich da sein will, wenn die Regenschauer über einer versagenden Welt schlimmer werden. Für wen ich gerade deshalb an diese Welt, die sie uns täglich weiter aus den Angeln heben, zu glauben versuche. Für dich. Vielleicht liebe ich dich mehr als du erträgst. Aber es gibt keine Skala, die den Grad meiner Liebe zu dir bewertet. Ich habe die eine für dich, die so immer schon gewesen ist.
Also: Instinktiv beginne ich mich vor dem Weckerläuten von meinen Träumen und meiner Existenz darin, die ich als eine verkrachte sehe, zu verabschieden. Das geht leicht. Ich muss nur loslassen.
Du kommst in meinen Träumen freilich nicht vor. Das will ich dir nicht antun. Du bist mein Traum. Erinnere dich: Der eine Augenblick. Das Graumatt auf den Lidern. Es ist aber so, dass ich dich da schon spüre, deine Atemzüge höre, dein Haar riechen kann. Das ist die schönste Zeit dieses Augenblicks. Gleichklang. Stille, in der alles geschieht. Vielleicht ist Schnee auf den Dachflächenfenstern. Haarsträhnen. Dein warmer Bauch. Du riechst nach dem Vertrauen, das du mir gibst, das du einforderst. Ich drehe die Zeit zurück, erkenne mich, als ich begonnen hatte, an dich zu glauben. Wie viele dieser kostbarsten Augenblicke hast du mir seitdem gegeben? Du erahnst es nicht.
Du würdest nicht glauben, was ich über diese Augenblicke zu erzählen wüsste.
Wie das: Du räkelst dich unter der Decke, ziehst die Knie an deinen Körper, seufzt und plapperst dich leise quer durch deine Traumwälder. Du erschrickst mich mit allzu langen Atempausen. Dann schaffst du es, dass ich dir ähnlich und ohne Luft zu holen daliege, nur um zu hören, dass du lebst und der Tod keinen Halt bei uns findet. So stellst du es mit mir immer wieder an, überhäufst mich mit dir und wirst langsam munter dabei. Du schickst deine Hand vor, deinen Arm, sanfte Fährtensucher, die dich mich fühlen lassen und dir bestätigen, dass ich da bin.
Du bist wie ich so anders. Dein Gespür ist schon vor dem Erwachen grenzenlos. Lange bevor du es ahnst, ist die Neugier deiner Sinne hinter regloser Munterkeit geweckt. Mag sein, dass du die Morgensonne brauchst, um dich zu finden. Mich hast du schon. Ich muss dir noch etwas sagen. Ich muss dir sagen, dass mir das Lichtfluten nicht die Augenblicke verschafft, die ich mit geschlossenen Augen neben dir verspüre und bis zum Weckerläuten auskoste. Es ist das Graumatt.

Was danach passiert, ist wie der ganze neue Tag. Es geht rasend schnell, weil mit dem Augenöffnen die Zeit das Rennen machen will. Der Tag tritt zum Sprint an und verheddert sich im Hürdennehmen. Die Latte fällt. Das Badezimmer. Die Toilette. Breite Wassergräben. Wie wir uns über diese Gräben hinweg beobachten. Wie ich am liebsten zu dir zurückkriechen möchte unter die Decke, obwohl ich dir noch trügerisch nahe bin. Kaffee. Ein, zwei Zuckerwürfel. Für jeden von uns. Als ob das helfen würde, versüßen wir uns den bitteren Morgen. Spuren in der Spüle. Spuren bleiben auch sonst zurück. Abdrücke in den Kissen, ein paar Härchen und der grüne Zahnpastarest im Waschbecken, der Bademantel, in dem deine Wärme knistert. Kopfhörer am Teppich. Massive attack.
Auch in dem Buch, in dem du gerade liest, kann ich Spuren finden. Ich habe darin geblättert.
Und ein düsteres Mittelalter vorgefunden, dessen Nekrologie wunderbar zu den Tatsachen vor der Tür passt. Das Lesezeichen zwischen Seite hundertfünfundsechzig und hundertsechsundsechzig.
Was da geschrieben steht!
Die Pest steuerte in Florenz unaufhaltsam ihrem Höhepunkt entgegen. Sie hatte als das Ende der Welt gegolten. Der Klerus war machtlos und der Papst auf der Flucht vor den Pestkarren. In den Städten wurde der Gestank unerträglich. Flagellanten in blutbesudelten Kutten prozessierten in den Straßen und geißelten sich von einem Bittgottesdienst zum nächsten. Schreiend, singend, lallend. Barfuss und mit reinigender Asche über ihren kahlgeschorenen Häuptern. Es blieb nur die Möglichkeit der Flucht, doch dem Heer der Rattenflöhe war nicht beizukommen. Man wusste nichts von dessen Existenz, nichts von Flohbissen, nichts von einer Tröpfcheninfektion und nicht, wie aufbrechende Geschwüre zu behandeln waren. Die Ohnmacht der Ärzte ist Legende. Sie hatten an die Vorzeichen am Himmel geglaubt, an die Deutungen der Astrologen und nicht an die Wirklichkeit rundum. Die Welt war weggekippt. Scheiterhaufen blieben zurück.

Warum ich dieses Buch anspreche? Du liest seit Tagen darin, bringst es nicht zu Ende weil du in der darin beschriebenen Wirklichkeit wenig Wahrheit erkennst. Es gehört Mut zu alldem.
Ich werde ein Bild von dir und deinem Mut malen.
Vielleicht gelingt es mir, darin den Mut einzufangen, mit dem du die Metro besteigst, dich wieder an den Schreibtisch setzt, wieder zu mir zurückkommst, während die Welt zu Bruch geht. Nicht so, wie es damals geschah.
Die Seuchen vor der Tür sind schrecklichere geworden.
Jede Strasse ist ein Scheiterhaufen.

Ist es Beharrlichkeit, mit der wir uns trotz unseres Wissens gegen Wahrheiten sträuben? Ist es die Ohnmacht in uns, wenn wir Lügen als Wirklichkeit anerkennen? Sind es wirklich Gefühle der Eintracht, die wir zu spüren glauben und der Gleichklang unseres Denkens, der uns zu Schwestern und Brüdern werden lässt? Kaum, weil zuviel an Niedertracht in unseren Worten steckt, die wir denen, denen wir nichts Gutes wollen, gedankenlos vor die Füße schleudern. Wie sehen nach einem langen Tag tatsächlich unsere Siege aus? Unsere Niederlagen, die alle, wenn es draußen vor der Tür in diesem Tempo weitergeht, in einer einzigen gipfeln werden? Siege, die wir selbst nie ausgefochten haben und uns trotzdem mit ihnen hervortun. So wie die Niederlagen, die wir leugnen und von denen wir nichts wissen wollen, weil es nicht schick ist, dazu zu stehen. Wir glauben, dass es der Stolz ist, der uns bleibt. Ein Stolz, mit dem wir uns auf den selten gewordenen ehrbaren Höfen immer öfter zu Narren machen und von dem wir nicht abbeißen können. Das ist der Irrtum, den ich vor dem Weckerläuten zu erkennen glaube.

Weißt du, was ich damit meine?
Ich meine, dass ich deinen warmen Bauch vermissen würde, wenn deine Seite des Bettes leer bliebe. Mir würden deine Spuren fehlen, die du bei mir zurücklässt, wenn du am Tag deine Wege suchst. Ich wäre nichts ohne deinen Mut, der mich zum Löwen machen kann. Trotzdem. Seuchengefahr, Kleines. Seuchengefahr.
Es gibt kein Entrinnen, das muss uns klar sein. Wohin auch. Es gilt Schlimmeres als die Pest zu überstehen. Denn mittlerweile ist alles anders, weil wir aus der Welt ein Dorf machen mussten. Alle Wege sind mit glitzernder Leere und den digitalen Flüchen unserer Zeit verstopft. Flucht ist sinnlos. Eine Möglichkeit bleibt.
Die will ich dir verraten.
Lies dein Buch nicht bis zum Ende. Das Ende war nie in Florenz zu suchen. Petrarca hatte es geahnt. Aus dieser Ahnung wurde Gewissheit. Wir kennen das Ende. Es liegt in den Massengräbern der täglichen Kriege begraben. Es wartet auf seine Auferstehung. Lass uns darum etwas machen, für das wir keine Worte brauchen, wenn es soweit ist. Lass uns aufeinander Acht geben und auf den einen Augenblick vor dem Weckerläuten.

 

Lieber Robert!

... und manchmal beschreibst du das warme Licht hinter den dunklen Schatten ...

wenn auch im Wissen um ihre Beharrlichkeit. Das streichelt und klart das Leserauge, anstatt ihm mit spitzer Feder reinzustechen. Das tut gut, vor allem in diesen langen kalten Wintertagen.

Ein besonders schöner Text, vielleicht deine Art Götterdämmerung zu erzählen.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Einen guten Morgen, Eulchen,

hast den Text also gefunden, gelesen und etwas vom warmen Licht dahinter erkannt. Ich dank dir.
Wegen der Schatten aber: die werden länger und dichter, weil wir die Sonne verdunkeln. Jetzt wirst du sagen: Oje, schon wieder der mit seiner kippenden Welt.... Aber es gibt ja die Liebe. Darum geht's noch.

Liebe Grüße an dich - Aqua

 

Hey Aqua!

Hat mir fast (!) so gut gefallen wie Sumatra, was hier ja leider nicht mehr steht. Eva hat Recht, es ist ist eine ungewohnt grauweiße Geschichte von Dir, die mir jedeoch grad mit ihren kleinen Andeutungen und manchen fast romantischen Stellen gut gefallen hat. Ein leiser Text Aqua, nichts pompöses oder schockendes. :)

liebe Grüße
Anne

 

Guten Morgen, Mäuslein,

du hast die kleinen Andeutungen im Text erkannt. Besser gesagt, meinen Versuch, über ganz bestimmte Andeutungen bzw. verbale "Querungen" zur Gesamtaussage zu gelangen. Und plötzlich war kein Schwarz mehr da, nur ein Grauweiß. Ist die Liebe nicht eine Himmelsmacht?

Liebe Grüße und danke - Aqua

 

Hallo maxy,

hab' mich sehr über deine Kritik gefreut.
Die Idee zum Text kam vor dem Weckerläuten. Die Nacht davor war unruhig. In der Nachbarwohnung hatte sich jemand zu einem Orgasmus hingestöhnt und das Schneetreiben vor den Fenstern hatte die ganze Nacht angedauert. Aber da war ihre Wärme und....

Liebe Grüße - Aqua

 

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