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Way to paradise
Way to paradise
„Viel Spaß in der Schule Kaya!“
„Danke Ma, bis heute Nachmittag!“
Ich war sehr spät dran, wenn ich nicht aufpasste, würde ich noch zu spät zur Schule kommen. Ich lief den Weg schnell, ich hatte es nicht weit zur Schule, nur ein paar Kreuzungen lagen zwischen mir und dem Gebäude, welches mir meine gesamte Freizeit raubte. Wir machten nicht mal etwas Spannendes, wir hatten heute Geschichte, Politik, und nur langweilige Fächer. Manchmal wünschte ich mir, einfach tot zu sein und nicht zur Schule zu müssen, aber man sollte vorsichtig mit seinen Wünschen sein, denn manche von ihnen gehen in Erfüllung. Natürlich muss man nachhelfen, aber wenn man so ein Idiot ist wie ich, kommt das meistens von alleine.
Ich stand grade an einer Kreuzung, als ich quietschende Reifen hörte, ein Mädchen schrie direkt vor mir auf und ich stieß sie weg. Einen Augenblick später spürte ich nichts als quälende Schmerzen.
Man sagt, nach dem Tod arbeitet das Gehirn noch sieben Minuten weiter, und man erlebt sein ganzes Leben noch einmal von neu. Das bedeutet, man würde in einer Endlosschleife von Erinnerungen feststecken, da man in diesen sieben Minuten sein ganzes Leben durchlebt und alles in der Zeit empfindet, in der es passiert ist. Und der Tod mit den Erinnerungen gehört auch zu einer Erinnerung, sodass man nie wirklich stirbt. Sagt man. Schön wär’s. Mein Leben war eigentlich schön, ich hatte freundliche Eltern, einen netten großen Bruder, eine Katzen, gute Noten in der Schule, war nicht besonders unbeliebt und hatte sogar einen Freund, es wäre also nicht schlimm, alles nochmal und nochmal zu erleben.
Aber die Erinnerungen blieben aus, und ich starb, noch ehe ich auf dem Boden aufschlug.
Ich spürte einen sanften Wind in meinen Haaren, atmete ruhig, und genoss den Geruch der Luft. Ich konnte sogar die Sonne auf meiner Haut fühlen. Doch ich lag ganz eindeutig in Wasser. Ich öffnete meine Augen und wurde von der Sonne geblendet, konnte dann den Boden mit den Füßen erwischen und stand aufrecht mitten in einem See, der wiederum mitten in einer Lichtung lag, mit Dunkelviolett gefärbten Rosen und umzingelt von einem Kreis von saftigen Bäumen mit seltsamen Blüten daran, so einen Baum hatte ich noch nie gesehen. Ich war im ersten Moment so glücklich, dass ich nicht daran dachte, eben gestorben zu sein.
Nur dann fiel es mir wieder ein. „Das muss der Himmel sein“, meinte ich, und sah an mir runter. Ein schneeweißes Kleid hatte sich meinem Körper wie eine zweite Haut angepasst.
„Kaya“ Hinter mir vernahm ich eine Stimme, die mir völlig fremd war, und die mir doch so vertraut schien, als hätte ich niemals etwas anderes gehört. Ich drehte mich langsam um und betrachtete den in einen dunkelgrauen Mantel gehüllten Jungen. Von ihm ging etwas Beruhigendes aus, ich fühlte mich sofort geborgen. „Wer bist du? Und wo bin ich?“ Er reichte mir ein großes Tuch, und half mir auf die gemeißelte Steintreppe. Die Stufen waren nicht hoch, ich konnte sie ohne Mühe hochgehen.
„Du bist tot, Kaya“, meinte er, seine Stimme war ruhig und er sprach konzentriert.
„Dafür fühle ich mich aber ziemlich lebendig. Sogar lebendiger als vorher.“
„Ich weiß, weil du hier im Vor-Paradies bist.“
„Wenn das noch nicht das richtige Paradies ist, kann ich mir das Richtige gar nicht vorstellen“ Ich hatte keinen Grund, anzuzweifeln was er sagte, ich wusste auf Anhieb, dass ich ihm mein Leben anvertraute, außerdem würde ich ihm glauben, selbst wenn er gesagt hätte, dass meine Katze ein in ein Katzenkostüm gequetschtes, pinkes Nilpferd sei.
„Und wer bist du?“, fragte ich, denn ich konnte durch den Schatten der Kapuze sein Gesicht nicht sehen. Er nahm sie ab, aber ich wusste noch immer nicht, wer er war. Er hatte schwarzes Haar mit einer dunkelroten Strähne am Pony und grüne Augen, war nicht blass aber auch nicht braun, und er trug nur den Mantel und eine Hose. Er war etwa einen halben Kopf größer als ich und stark, wie seine Arme vermuten ließen.
„Ich bin Shane, dein Schutzengel“
„U-hu“, machte ich, ich hatte ihm kaum richtig zugehört.
„Was?“ aber ich hatte es doch verstanden.
„Dein Schutzengel. Jeder Mensch hat einen Schutzengel, der sein ganzes Leben bei ihm ist, aber der Mensch kann ihn nicht sehen oder hören. Wenn der Mensch stirbt, kommt der Schutzengel dorthin, wo auch sein Mensch ist, und kann dann ihn und andere Engel sehen“
„Wenn du mein Schutzengel bist, warum hast du mich nicht vor dem Tod beschützt?“
„Dein Engel weiß immer, wann es dir vorbestimmt ist, zu sterben. Du kannst erst sterben, nachdem du getan hast, wofür du bestimmt bist zu leben. Da hätte auch ich nichts tun können. Im besten Fall wärst du an Altersschwäche gestorben, aber wenn du deine Bestimmung erfüllt hast, wirst du nur so lange Leben, bis du in eine Situation gerätst, die dein Leben fordert“
Ich verstand die ganze Situation noch immer nicht.
„Und meine Familie? Und mein Freund?“
„Deine Familie wird dich wahrscheinlich ganz normal beerdigen, für sie bist du tot. Und um deinen Freund brauchst du dir keine Sorgen zu machen, auch er hat einen Schutzengel“
„Kann ich sie sehen?“
„Wenn sie tot sind. Aber erhoffe dir nicht zu viel, denn es waren noch nie zwei Menschen füreinander bestimmt. Der Mensch und sein Engel haben eine tiefere Verbindung als es zwei Menschen jemals haben könnten, und er wird seinen Engel an deiner Statt wählen“
Shane hatte tatsächlich die Geduld, mir alles ausführlich zu erklären. Seine Ruhe war bewundernswert, und es wurde keinen Moment peinlich oder unangenehm ihm direkt in die Augen zu schauen, obwohl mein Herz dabei wild schlug.
„Aber das würde bedeuten, dass ich zwanghaft mit dir zusammen sein müsste?“
„Nicht zwanghaft, ich liebe dich, ja, ich habe bisher mein ganzes Leben nur dir gewidmet und werde es weiterhin tun, aber du musst mich nicht lieben“ Das hätte er auch sagen können, kurz bevor ich ihm so in die Augen gesehen habe.
„Aber du willst sicher in das richtige Paradies, weil wir hier nicht bleiben können. Um ins Paradies eintreten zu dürfen, musst du eine Prüfung bestehen, und zwar musst du in einer Woche das Tor zum Paradies finden. Ich selbst weiß nicht, wo es ist und wie es aussieht, aber wir gehen in einen Wald, in dem es von todscheinenden Bäumen wimmelt, die mit ihren Ästen nach dir peitschen werden, und versuchen werden, dich zu verschlingen.“
„Warum können wir dann nicht hier bleiben?“, fragte ich verzweifelt.
„Weil du nach einer Woche komplett verschwinden wirst. Wir beide“ Ich hatte schon immer Angst davor, zu verschwinden und nichts zu hinterlassen, nicht mehr denken zu können, als hätte es mich nie gegeben. Die Bäume standen nur an einer Stelle so weit auseinander, dass man zwischen ihnen hindurchgehen konnte, und als wir beide aus der Lichtung in den Wald kamen, verschloss sich der Durchgang. Wir waren nun in einem kalten, dunklen Wald, mit nichts als schwarzen Bäumen ohne Blätter und toter Erde. Weit und breit sah man nichts Buntes oder Helles, auch der Himmel war nicht mal ansatzweise blau. „Vorparadies, huh? Eher Vorhölle!“, maulte ich. Etwas schlang sich um meine Taille, und hob mich hoch, ich schrie auf und eine Sekunde später hatte Shane den Ast eines Baumes von mir gelöst. „Die Bäume sind sehr schwach.“, bemerkte er ungläubig, er war offenbar auch noch nie hier gewesen. „Was erwartest du von halb toten Rinden?“ Ich schlug mit der Hand auf einen sich nähernden Ast, er brach sofort ab, als würde er aus Esspapier bestehen, ich wollte es aber nicht riskieren ihn zu probieren, vielleicht würde ich dann selbst zu so etwas mutieren.
„Muss ich eigentlich essen?“
„Nein, du kannst zwar essen, trinken und schlafen, brauchst es aber nicht.“
Shane schlug uns einen Weg durch die Bäume. Der ganze Wald war ein einziger Irr-Wald mit nichts als Wurzeln von toten Bäumen und den Stämmen von toten Bäumen, und alles griff nach uns. Der restliche Tag, oder die Nacht, ich konnte es nicht unterscheiden, war geradezu langweilig, wir liefen durch den Wald, hielten die Bäume davon ab uns zu fressen und suchten nach etwas, was nicht aussah wie ein Baum. Ich hatte kaum ein Zeitgefühl, wir wanderten einfach herum wie Geister, ohne ein Ziel, ohne etwas zu tun. Wir sahen irgendwann etwas Weißes im Wald, liefen darauf zu und es begann selbst, sich uns zu nähern, aber es war nur ein anderes Mädchen mit seinem Schutzengel im weißen Kleid, obwohl ihres einen komplett anderen Schnitt hatte als meines. „Oh, Entschuldigung, wir dachten ihr wärt das Tor…“, meinte das Mädchen verzweifelt.
„Macht nichts, das dachten wir auch. Ich bin Kaya, und das ist Shane“
„Ich bin Chyo, das ist Robin. Sagt mir bitte ihr habt irgendeinen Hinweis auf das Tor“
„Nein,tut mir leid. Wir haben gehofft, dass ihr etwas wüsstet“, meinte Shane.
„Wir sollten uns zusammentun. Vielleicht finden wir es so schneller, und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie viel Zeit uns noch bleibt, wir sind schon so lange hier“ Chyo klang, als wäre sie am absoluten Tiefpunkt, demnach stimmten wir zu. Von da an unterhielten wir uns alle, wir blieben alle zusammen und liefen lange Zeit im Wald herum, ohne etwas zu finden.
„Dass wir uns getroffen haben ist reiner Zufall, nicht besonders viele kommen in den Genuss des Paradieses, und niemand ist länger hier als eine Woche, außer uns sind wahrscheinlich noch ein dutzend andere Personen in diesem endlosen Wald.“, meinte Robin und sah Chyo an.
„Chyo, deine Hand!“, rief er auf einmal, und ich sah automatisch hin. Oder auf das, was von ihr übrig blieb, denn sie begann zu verschwinden. „Nein…“, sagte ich. Ich wollte nicht, dass sie für immer ausgelöscht wurde.
„Meine Zeit ist um. Ich wünsche euch beiden viel Glück.“ Chyo verschwand schnell, sie wurde durchsichtig, und kurz nachdem sie mich gedrückt hatte, begab sie sich in Robins Arme.
„Das darf nicht wahr sein!“, rief ich jetzt, ich musste mit ansehen, wie Chyo und Robin verschwanden. Sie würden nie wieder fühlen oder denken. Ich sank zu Boden.
„Kaya…“ Shane kniete sich neben mich und hielt die Äste von uns ab, ich ließ mich von ihm in den Arm nehmen. Er hatte noch das Tuch, mit dem ich mich getrocknet hatte, jetzt wischte er mit ihm meine Tränen weg.
„Wenn wir nicht so enden wollen, müssen wir weiter suchen“
„Wir werden es nicht finden, Shane. Ich habe auch keine Ahnung, wie lange wir schon hier sind, wir haben nichts gesehen, was uns auch nur einen Hinweis geben könnte. Das Paradies ist unerreichbar“ beschloss ich, ich würde einfach sitzen bleiben, bis ich auch verschwand, allzu lange konnte es ja nicht mehr dauern. Das musste ein wirklich krankes Wesen sein, welches Menschen Hoffnung gab, nur um sie ihnen dann zu entreißen.
„Es kann doch nicht sein, dass das Paradies nur durch Zufall gefunden werden kann, verdammt! Es muss wenigstens irgendeinen Hinweis geben, aber hier sind nur diese verfluchten Bäume!“ Shane zerstörte einen der Bäume, er kippte um, blieb liegen und bewegte sich nicht mehr, dann boxte Shane in die schon toten Wurzeln.
Die Bäume waren das Einzige, was im Wald war, sie wollten uns zwar verschlingen, aber dann müssten wir doch wieder irgendwo rauskommen? Außerdem waren sie viel zu leicht zu zerstören. „Shane, die Bäume.“ Ich griff nach seiner Hand, und ließ ihn mich somit ansehen. „Die Bäume müssen das Portal sein. Wir werden uns von ihnen verschlingen lassen.“
„Was?“
„Ja, es ist nichts hier außer den Bäumen. Sie müssen es sein.“ Ich stand auf und stellte mich vor einen der Bäume, sofort griff er meine Taille und hob mich an, fast schon sanft, aber Shane fasste mich an meinen Händen, zu zweit waren wir zu schwer und die Äste brachen ab.
„Bist du wahnsinnig?“
„Shane, bitte lass mich, entweder wir enden so wie Robin und Chyo, oder ich versuche es, so oder so kann ich sterben.“
„Nein, bitte. Lass uns noch weiter suchen.“
„Nein. Du bleibst hier, ich lass mich vom Baum fressen. Du wirst doch sowieso immer dort landen, wo ich bin. Also bitte. Bleib sitzen.“
„Nein.“ Er umklammerte mein Handgelenk, ich löste seine verkrampften Finger und gab ihm einen Kuss.
„Du hast recht, der Mensch wird immer seinen Engel wählen.“ Er blieb sitzen, während ich mich rückwärts an einen Baum stellte und ihm zulächelte.
Das letzte, was ich noch sah, waren die glänzenden Rinnsale des weinenden Engels.
Doch war ich noch immer nicht tot, denn ich erwachte erneut, inmitten eines grünen Tals. Vor mir die Berge, hinter mir ein Meer, und von riesigen Wiesenflächen umgeben. Ein Wald war nicht weit, mit den unterschiedlichsten Bäumen, überall wuchsen Blumen, etwas Vergleichbaren hatte ich nie gesehen. Im Gegensatz hierzu war die Lichtung im Vorparadies eine Müllhalde gewesen. Neben mir lag Shane, ebenso erstaunt über die Situation wie ich. Noch unglaublicher war, dass wir beide Flügel hatten, sie waren groß und aus einem puren weiß, ich bewegte sie, und konnte sogar mit ihnen vom Boden abheben. Ich wurde aber wieder gen Boden gezogen und Shane umklammerte mich. „Ich hatte solche Angst, dass du stirbst“
„Ich auch, Shane“ ich küsste ihn, und legte mich dann neben ihm auf die Wiese. Der Himmel war hellblau, und nur eine Wolke war zu sehen. Neben uns lag ein Zettel. ‚Willkommen in eurem Paradies‘, stand darauf, und ich fragte mich, von wem die Nachricht gekommen war. Gab es doch einen Gott?
Aber es war mir vollkommen egal. „Sieh mal, Kaya“ Ich folgte Shanes Blick nach hinten, und sah ein großes Haus, wie ich es mir immer gewünscht hatte.
„Wir haben es geschafft, Shane“, bemerkte ich und sah ein weiteres Mal in diese wundervollen grünen Augen, die meine Zukunft bedeuteten.