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Wattenmeer
Regen fällt in dünnen Schnüren vom Himmel und ist wie ein Vorhang vor der Welt. Ich rühre meinen Cappuccino um und greife nach der Kartei, lasse die Kärtchen Daumenkino spielen. Welchen Namen mir der Zufall wohl diesmal zuspielen wird? All diese seltsamen Menschen mit ihren merkwürdigen Passionen. Ich suche sie und dokumentiere die Begegnungen mit ihnen. Das ist meine Leidenschaft.
Stopp! Neugierig beuge ich mich über die Karte.
Aaaah! Dr. Plechta! Lange habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Ein in sich ruhender Mensch, immer mit der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. Als er mir seine Geschichte erzählt hatte, wusste ich warum.
Wenn die Schwalben hoch am Himmel den Sommer herbeifliegen, hält es Dr. Plichta nicht länger in der großen, stickigen Stadt. Er reist dorthin, wo kein Hochhaus den Blick verstellt und die Brust sich mit salziger Luft füllt, um seiner Passion zu frönen.
Sein Ritual beginnt früh am Morgen, wenn die Sonne ihre ersten Strahlen über das Wattenmeer schickt und die Sandbänke in ein warmes, goldenes Licht taucht. Dr. Plechta zieht sich eine wetterfeste Jacke an, schlüpft in Gummistiefel und macht sich auf den Weg. Möwen kreischen und zwischendurch, wenn sie einmal still sind, hört er das eigentümliche Knistern des Watts, das von Millionen winziger, zerplatzender Bläschen herrührt. Der Boden ist von wurmartig gewundenen Prielen durchzogen und von Muscheln, Algen und Krebsen bevölkert. Unter Dr. Plechtas Füßen fühlt er sich weich und nachgiebig an und jedes Mal, wenn er einen Fuß vor den anderen setzt, hinterlässt er eine Spur, die bald schon vom auflaufenden Wasser weggespült werden wird.
Ich sehe ihn förmlich vor mir, eine untersetzte, sehr aufrechte Gestalt mit vom Wind zerzausten grauen Haaren, die randlose Brille mit Salzwasser bespritzt, dessen rundes Gesicht geradezu leuchtet vor innerer Zufriedenheit. Und genau diese Zufriedenheit ist es, die den Kern seiner Passion ausmacht, wie er mir anvertraute, denn er freut sich darüber, dass er als einziger wattet und nicht – wie die anderen Urlauber alle – fälschlicherweise watet oder gar wandert.
Oh ja, er gab es zu. Früher hatte er sich oft dazu hinreißen lassen, sich zu ereifern, dass es „watten“ und nicht „waten“ heißen müsse, wenn etwa ein ahnungsloser Urlauber in der kleinen Pension, in der er Stammgast war, am Frühstückstisch verlauten ließ, er wolle nachher auf ein Stündchen im Wattenmeer waten. Bei solchen Gelegenheiten hatte Dr. Plechta sogar den Eindruck, manche Gäste würden nur auf seine Reaktion warten, denn sie unterbrachen dann ihre Unterhaltungen, legten Frühstücksei und Butter beiseite, stellten die Kaffeetassen ab und tauschten Blicke.
Selbst die Wirtin kam aus der Küche, um zu hören, wie Dr. Plechta sich bemühte, seinen Standpunkt ausführlich zu begründen.
Zuerst pochte er auf die etymologische Verwandtschaft des Wortes „Watt“ mit dem niederländischen „wad“. Dieses Wort stehe für die Schlammschicht, die sich im Laufe von Jahrtausenden im Wattenmeer herausgebildet habe. Dann unterstrich Dr. Plechta die Einzigartigkeit dieser Schlammschicht. Sie sei eine hochkomplexe Mischung aus Sedimenten und organischen Materialien. Darauf gehe man schlussendlich, wenn man watte. Das Verb „watten“ stelle also in einem Satz den exakt richtigen kausalen Zusammenhang des Prädikates mit dem lokalen Adverbial Watt heraus und nicht nur das. Indem man watte und nicht wate, zeige man angemessenen Respekt vor dem Naturphänomen, um das es hier gehe, um nicht zu sagen, auf dem man gehe, also watte.
So ungefähr lautete die Argumentation Dr. Plechtas.
„Doch konnte ich auch nur einen meiner Zuhörer überzeugen?“, fragte er mich achselzuckend. „Nein, ich kam mir vor wie einst Demosthenes, als er der tosenden Brandung sprach. Stellen Sie sich vor: Einmal behauptete einer dieser Ignoranten sogar, "Watten" sei aber ein in Österreich und Bayern beheimatetes Kartenspiel! Seitdem habe ich es aufgegeben. Sollen die anderen nur waten, ich watte und weiß, dass ich recht habe und das genügt mir.“
Da war es, dieses Lächeln.
Ein Lächeln stiehlt sich auch auf meine Lippen.
Wirklich, Dr. Plechta ist ein glücklicher Mann, wenn er wattet.
Zu wissen, ganz genau zu wissen, als einziger das Richtige zu tun, muss ein unglaublich schönes und stolzes Gefühl sein.