Wasteland.
Zellenförmige, helle Flecken tanzten vor ihren Augen, als sie die Lider aufschlug. Grün, in verschiedenen Tonwerten, Gelb, so strahlend, dass sie für einen Augenblick dachte, es sei die Sonne. Langsam nahm sie den moosigen Grund unter sich wahr und die kühle Nässe von Tau an ihren Fingerkuppen.
Der erste klare Gedanke, den sie trotz ihres dröhnenden Schädels fassen konnte, war, dass sie in einem Wald war. Der modrige Geruch von altem Holz und Erde lag in der Luft, den sie mit einem tiefen Einatmen bemerkte. Es musste ein Wald sein. Doch sie konnte sich weder daran erinnern, in einen gelaufen zu sein, noch daran, überhaupt einen zu kennen. In der Stadt, in der sie lebte, gab es kaum Grünflächen.
Sie kniff ihre Augen noch einmal zusammen, wühlte mit den Fingern den Boden auf. Krallte sich in den feuchten Dreck, der von kleinen Grashalmen durchzogen wurde. Sie stützte sich auf die Unterarme und setzte sich ächzend auf. Für einen kleinen Moment schien sich die ganze Welt zu drehen, die hohen Stämme der Bäume mit den weit entfernten Baumkronen, die Schar Vögel am Horizont. Dann blinzelte sie ein paar Mal und es hörte auf.
Das Mädchen versuchte, etwas durch die feinen Nebelschwaden zu erkennen. Aber das Grün stach so sehr in ihren Augen, dass sich vor ihr alles wie eine verschwommene Masse erstreckte. Ihre Gelenke schmerzten, als sie sich taumelnd vom Boden erhob und die Erde von ihrer Kleidung streifte. Sie sah an sich hinunter. Sie trug eine Hose, die sie nur von ihrem Vater kannte. Ihrem Vater, der im letzten Jahr im Krieg gefallen war. Es war eine Hose der Soldaten. Kläglich mit einem Gürtel an ihren schmalen Hüften festgehalten. Ein schwarzes Top schmiegte sich um ihre Taille und plötzlich überkam sie ein Frösteln. Sie rieb sich die Arme, als wollte sie die Kälte vertreiben. Ihre nackten Zehen gruben sich in den aufgewühlten Boden.
„Wie lange lag ich hier?“, fragte sie sich, als sie in einer langsamen Bewegung den Kopf nach links und nach rechts drehte. Sie hätte sich am liebsten an irgendetwas festgehalten, so unsicher fühlte sie sich auf ihren Beinen. Als hätte sie das Stehen eben erst erlernt.
Ihr Hals fühlte sich kratzig und wund an, als sie sich räusperte, um dann zu rufen:»Hallo?«
Wie eine Schnecke schlängelte sich ihr Ruf durch die Bäume, sie hörte ein leises, kaum verständliches Echo. Dann wurde sie und alles in ihrer Umgebung von dieser unheimlichen Stille umhüllt, die nur von dem fernen Zwitschern fremder Vögel unterbrochen wurde.
»Ist hier jemand?«, versuchte sie es erneut.
Ein plötzlicher Hustenanfall überkam sie. Das Mädchen krümmte sich, presste die Hände auf Hand und Zwerchfell, das vor Schmerz pochte. Langsam ließ das Kratzen in ihrem Hals nach und sie konnte wieder tief durchatmen.
Doch etwas war anders. Etwas lag in der Luft, was zuvor nicht dort gewesen da. Ein Stechen in der Nase. Wieder ein Kitzeln in der Kehle. Hektisch sah sie sich um. Konnte in der Ferne etwas Helles aufflackern sehen.
Feuer.
Ihr erster Impuls war, zu rennen. Doch allein bei dem Gedanken daran, wurden ihre Knie weich. Als wären sie Butter, die zu lange in der Sonne lag. Sie ballte die Hände zu Fäusten.
Woher kam das Feuer?
Das war eben doch nicht da, oder?
Ihre Schläfen prickelten heiß, als sie den Gedanken weiter spann. Wurde es eben gelegt? Oder war es durch Zufall entstanden?
Sie sah ein, dass es keinen Zweck hatte, darüber nachzudenken. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie sich umgedreht und wäre beinahe losgerannt, als ihr eine heiße Welle entgegen kam. Der Wald vor ihr stand in Flammen. Wie Ranken krochen sie die Bäume hinauf, vergruben ihre orangenen Zähne in dem Grün der Blätter, verschlangen sie augenblicklich. Staub rieselte wie Regen zu Boden.
Ein stummer Schrei entkam ihrer Kehle, als sie versuchte, aus dem Kreis aus Flammen zu entkommen. Immer wieder rannte sie von Seite zu Seite, als wollte sie ein Schiff am Kentern hindern. Doch sie war umstellt. Es gab kein Entkommen aus dieser Feuerhölle und sie kam immer näher, schien sie umarmen zu wollen. Sie einzuhüllen und zu Staub zerfallen zu lassen. Die Flammen waren so nah, dass sie ihre prickelnde Hitze an der blassen Haut spüren konnte. Das Mädchen raufte sich verzweifelt die Haare. Ihr Gesicht war zu einer traurigen Fratze verzogen und lautlos schluchzte sie, flehte, während ihre Lungen sich mit Rauch füllte.
Sie röchelte, rang nach frischer Luft.
„Ich werde sterben“, schoss es ihr durch den Kopf. „Ich werde Betty nie wieder sehen!“ Warum sie ausgerechnet an ihre Schwester dachte, während das züngelnde Feuer sie umhüllte, wusste sie nicht. Doch es war ein schöner, letzter Gedanke, bevor sie der unendlichen Dunkelheit verfiel.
»Hey, Blaster! Aufstehen! Hast genug gepennt!«
Die männliche Stimme drang gedämpft und scheinbar weit entfernt an ihr Ohr. Sie hätte sie vermutlich nicht ein mal wahrgenommen, hätte sie nicht jemand an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt. Immer wieder fiel ihr bleischwerer Körper auf die weiche Matratze unter ihr.
Ihre Glieder schmerzten, ihr Köpf dröhnte; sie wollte nicht die Augen öffnen. Sie wollte nicht sehen, was sie erwartete.
Das Mädchen fragte sich gar nicht erst, ob sie tot war. Der Tod wäre durchaus schmerzfreier, da war sie sich sicher. Also konnte das nur bedeuten, dass sie noch lebte.
Sie wusste nicht, woher sie die Kraft schöpfte, ihre schweren Lider zu öffnen. Über sich gebeugt sah sie das runde Gesicht des Mannes, der sie aufgeweckt hatte. Sein Gesicht war vernarbt, eine besonders schmerzhaft aussehende Narbe zeichnete sich an seiner rechten Augenbraue ab. Seine Augen waren eisig, dunkel und verengt und die Lippen wulstig und rau. Ein Schauer überkam sie.
Sein schwerer Atem streifte ihr Gesicht. Sie bemühte sich, nicht zu husten. Es roch nach Verwesung, als hätte sich ein Tier in ihm eingenistet und wäre dort verstorben. Und jetzt verschlangen kleine, widerliche Maden den Kadaver.
Ihr wurde bei dem Gedanken daran übel, weshalb sie ihn schnell beiseite schob und versuchte, Abstand zu dem glatzköpfigen Typen zu gewinnen. Sie setzte sich im Bruchteil einer Sekunde auf und rutschte auf der Matratze zurück, bis sie mit dem Rücken gegen etwas stieß. Sie ließ ihren Kopf nach hinten fahren. Eine vergilbte Zeltwand erstreckte sich hinter ihr. Sie folgte dem Stoff, ließ ihren Blick durch den ganzen Innenraum schweifen.
Tote Fliegen und Mücken hafteten an der Wand, die von einem dünnen Holzstamm in der Mitte aufrechterhalten wurde. Die Matratze, auf der sie lag, die von ein paar alten Leinen bedeckt war, lag neben noch etwa drei weiteren; allesamt leer. Sie war mit diesem Ekel alleine an einem ihr fremden Ort.
Panik stieg in ihr hoch. Sie versuchte ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen, während sie schützend ihre Hände vor sich hielt.
»Wer sind Sie?!«, rief das Mädchen aus.
Ihre Stimme war wie im Wald rau. Sie fasste sich mit einer Hand an die Kehle und schluckte schwer.
»Kit Porter«, stellte sich der Dicke mit seiner bassigen Stimme vor.
»Was wollen Sie von mir? Ich habe kein Geld und auch sonst werde ich Ihnen nicht von großem Nutzen sein!«, sagte sie bestimmt.
Sie hatte ihre zarten Hände zu Fäusten geballt, jederzeit bereit, auf ihn loszugehen.
Plötzlich lachte der Mann. Laut hallte sein Gelächter durch das Zelt, er schien sich gar nicht beruhigen zu wollen.
Eingeschüchtert musterte sie Kit. Seine Brust hob und senkte sich in irrer Geschwindigkeit und seine Augen waren zu kleinen, faltigen Strichen geschrumpft.
»Lassen Sie das!«, forderte sie den Mann auf,»Sagen Sie mir, wo ich bin!«
Doch sein heiseres Krächzen nahm gar kein Ende, er wischte sich sogar eine Träne aus dem Augenwinkel.
»So was ist mir ja-«, er unterbrach sich selbst mit einem weiteren Lacher,»-ewig nicht mehr untergekommen! Geld...!«
Kit lachte stumm weiter, ein leises Quietschen entkam seiner Kehle, ehe er sich endlich beruhigte und laut räusperte. Er grunzte zwar immer wieder leise, schien aber das Schlimmste überstanden zu haben.
»Du bist mir echt ein lustiger Blaster! Ich wünschte, alle in deiner Situation hätten so einen guten Humor!«
Verständnislos blickte das Mädchen den Mann an. Was meinte der Typ? Was war ein Blaster?
»Das war kein Witz! Ich meinte das ernst!«, meinte sie verbittert.
»Aber natürlich war das dein Ernst!«
Seine Augen verengten sich wieder zu kleinen Schlitzen und sie befürchtete schon, er würde sie wieder auslachen, doch stattdessen sprach er weiter.
»Kannst froh sein, dass ich dich noch nicht umgebracht hab'! Verdankst du alles Arya. Sie wollte dich hierbehalten, obwohl ich gesagt hab', dass du gefährlich sein könntest. Aber nein, wenn Madame sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann man sie nicht davon abbringen. Hoffen wir nur, dass sie Recht hat. Wenn du auch nur irgendwem ein Härchen krümmen solltest, bring' ich dich augenblicklich um! Ohne Erbarmen! Verstanden, Blaster?«
Er sprach das Blaster so verächtlich aus, dass sie zusammenzuckte.
Toll, da war sie gerade dem Tod entgangen und schon wurde der Teufel an die Wand gemalt. Sie hatte nicht ein mal eine Ahnung, wovon Kit sprach. Wer Arya war und wieso sie gefährlich sein sollte.
Auch, wenn sie das Gefühl hatte, dass sie lieber die Klappe halten sollte, wollte sie Antworten. Und schließlich siegte Neugier über Verstand.
»Entschuldige die Frage, aber wer oder was ist ein Blaster? Und wer ist Arya?«
Dieses Mal siezte sie ihn nicht. Hatte er a) auch nicht getan und b) hatte er sie einfach ausgelacht.
Entgegen ihrer Erwartungen runzelte der Mann nur die Stirn, beobachtete sie genau.
»Du scheinst echt keinen Plan zu haben, oder?«
Sie nickte vorsichtig, da ihr immer noch alles weh tat.
Kit wollte gerade ansetzen, als plötzlich eine Stimme von draußen schallte.
»Kit!«, schrie eine Frau.
Angesprochener zuckte zusammen, als die Frau sich durch einen Vorhang ins innere des Zeltes schob und ihn anfunkelte.
Anders als Kit wirkten ihre Klamotten fast edel. Eine luftige, schwarze Hose flatterte zwischen ihren langen, fast schon stakseligen Beinen und ihr Top schien größtenteils sauber, ebenfalls schwarz. Das einzig farbige war die dreckig grüne Weste mit Patronenhülsen und ein, zwei Revolvern.
»Du solltest mir doch Bescheid sagen, wenn sie aufwacht.«
Sie klang nun nicht mehr ganz so böse, als sie das Mädchen sah, wie sie mit angezogenen Beinen auf dem Krankenbett lag und sie musterte.
»Es tut mir wirklich leid, sie hat Fragen gestellt und..«, er brach ab.
»Ist schon gut«, die Fremde lächelte sogar,»Geh bitte zu Kosta und hilf ihm bei dem Blasterjungen!«
»In Ordnung, Arya.«
Er deutete eine leichte Verbeugung an, als er nach draußen stolperte und das Mädchen mit Arya alleine ließ.
Wie gebannt starrte sie die Frau vor sich an. Der Blick aus ihren großen Augen lag auf ihr und die roten Lippen waren zu einem Lächeln verzogen.
»Hallo«, sagte sie ruhig,»Mein Name ist Arya. Und wie heißt du?«
Ihr betörender Duft lag ihr in der Nase und ihre Stimme klang schön. Tief und angenehm. Sie saugte jedes Detail der Frau in sich auf. Die markanten Gesichtszüge und das lange, dunkle Haar.
Sie schüttelte unmerklich den Kopf, ehe sie ihre Erinnerungen nach einem Namen durchforstete. Doch da war nichts. Sie konnte sich an Betty erinnern, ihre kleine Schwester, an ihre Eltern Ben und Grace und an ihre beste Freundin Serafina. Doch sobald sie versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern, machte sich ein schwarzes Loch in ihrem Kopf breit, das sich schmerzend eine gähnende Leere verwandelte.
»Ich.. weiß es nicht«, murmelte das Mädchen unbeholfen, klammerte sich in die mit Schmutz befleckten Leinen unter sich.
Aryas Augenbrauen zogen sich kurz zusammen, als würde sie zweifeln, dann sagte sie aber:»Das ist nicht schlimm, das liegt am Virus. Sobald er dir einfällt, sagst du ihn mir, okay?«
Sie schluckte, nickte.
»Bin ich krank?«, brachte sie hervor.
Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau schien wie eingefroren.
»Ja.«
Wieder atmete sie tief durch und fragte weiter:»Was habe ich? Ich fühle mich nicht krank oder so..«
»Wir nennen die Leute, die sich wie du infiziert haben, Blaster. Es kommt aus dem Englischen und bedeutet Sprenger oder auch Zündmaschine. Eine perfekte Definition des Virus. Wenn man infiziert wurde, beginnt man seinen Charakter zu verlieren, seine eigene Identität. Gedächtnisverlust, Verhaltensstörungen. Und irgendwann, wie eine Bombe, sprengst du alles um dich herum. Du weißt nicht mehr, wer deine Familie oder deine Freunde sind, du willst nur noch töten. Man kann nie genau wissen, wann genau das Virus sein Endstadium erreicht, der einzige Hinweis ist die Iris, die sich im Laufe der Krankheit violett verfärbt. Darum sind die Infizierten sehr gefährlich und werden meist unverzüglich getötet. Das Problem ist nur, dass sie sich sehr schnell wieder regenerieren. Ich denke, hättest du dich nicht selbst geheilt, wärst du gestorben.«
Während Arya erzählte, wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Was sie da hörte war so irrsinnig und abstrakt, dass es sich um einen Traum handeln musste. War es das? Einfach ein total dummer, schrecklicher Albtraum, aus dem sie gleich erwachen würde? Unauffällig zwickte sie sich in den Arm – der einzige Realitycheck, der ihr vertraut war -, doch ihre Umgebung verschwamm nicht und sie wachte nicht wie gewohnt in ihrem Bett auf, sie war immer noch auf der alten Matratze in diesem stickigen Zelt und vor ihr Arya.
»Ebenfalls ist die Übertragung bis jetzt unbekannt. Es gibt verschiedene Theorien, aber ich denke, dass das alles mit der Explosion der Kraftwerke zusammenhängt.«
Es waren Kraftwerke explodiert? Jetzt war sie endgültig verwirrt. In welcher Welt war sie nur aufgewacht? Als sie an dem letzten Abend in ihrer Wohnung schlafen gegangen war, war alles doch noch in Ordnung. Natürlich, ihr Leben hätte besser laufen können, aber man konnte schließlich nicht alles haben. Und rückblickend war es auch ganz akzeptabel gewesen. Auf jeden Fall besser, als von irgendeinem Virus befallen zu sein, dessen Ursprung und Heilung ungeklärt waren.
»Welche Explosion?«
Dem Mädchen kam ein unangenehmer Gedanke. Was, wenn sie einfach sehr lange geschlafen hatte? Vielleicht war sie im Koma gewesen und wusste nichts davon? Es könnte alles möglich sein, schließlich war sie ohne ersichtlichen Grund in einem Wald aufgewacht.
»Und welches Datum haben wir?«
Sie hatte ihre Beine mittlerweile ausgestreckt und hatte sich interessiert nach vorne gelehnt.
Arya schien für einen kleinen Moment verwirrt, fasste sich aber recht schnell wieder.
»Weißt du das denn nicht?«
Sie verneinte.
»Nun, vor 2 Jahren hat eine Terroristengruppe, die sich weltweit zusammengeschlossen hat, innerhalb weniger Wochen versucht, alle Kernkraftwerke der Welt zu zerstören und somit die Welt der Strahlung auszusetzen. Es gab viele Tote, nur wenige Gebiete sind noch sicher, doch die Menschheit gibt nicht auf. Auch, wenn die Welt bald nichts weiter sein wird, als eine elendig lange Einöde.«
Wenn sie nichts von diesem Attentat wusste, wie lange hatte sie denn dann geschlafen? Ihr Kopf dröhnte. Sie versuchte verzweifelt, all diese Informationen zu verarbeiten, doch es war zu viel. Viel zu viel, als dass sie es realisieren könnte.
Oder war es, wie Arya sagte, das Virus? Gedächtnisverlust, hatte sie gesagt. Würde sie alles vergessen? Und diese 2 Jahre waren erst der Anfang? Ihre eigene Identität, alles würde sie vergessen.
Ein kalter Schauer wanderte über ihre blasse Haut und sie musste sich schütteln. Es war, als hätte die Frau ihr soeben gesagt, dass die Welt in so und so vielen Tagen untergehen würde und sie konnte nichts an dieser Tatsache ändern. Es war unaufhaltsam.
Arya blickte durch sie hindurch, als würde sie träumen.
»Alle Anhänger der Terroristen haben nach Beendigung ihres Plans ihre Notizen an die größten Regierungen geschickt und dann sich selbst umgebracht. Alle vermeintlichen Mitverantwortlichen sind tot. Und seitdem ging alles den Bach runter..«
Das Mädchen hätte sicher betroffen gucken müssen oder irgendeine Regung zeigen, doch sie wollte wissen, was mit ihr passiert war.
»Welches Datum ist heute?«, wiederholte sie und sah Arya eindringlich an.
»13. April 2020.«
4 Jahre. 4 verdammte Jahre, in denen die Welt schier untergegangen ist und sie konnte sich an nichts erinnern. Plötzlich war sie wütend. Sie konnte sich dieses plötzliche Brodeln in der Brust nicht erklären, aber sie war so wütend, dass sie am liebsten etwas geschlagen hätte.
»Wieso fragst du?«, fragte Arya.
Sie murmelte:»Ich kann mich an all das nicht erinnern. Ich bin schlafen gegangen nach einem langen Tag in der Uni, 2016! Und dann bin ich in diesem verdammten Wald aufgewacht! Und jetzt sagst du mir, es seien 4 Jahre vergangen! Wer weiß, ob meine Familie noch lebt und ich bin krank und.. Das ist doch irre!«
»Ich verstehe.. Das muss sich alles echt unglaublich anhören, aber vertrau mir bitte einfach! Es wird alles wieder gut!«
Sie wollte nicht protestieren, sie nickte nur stumm.
»Gut, komm, ich gebe dir frische Kleidung und dann stelle ich dir die anderen hier vor.«
Arya stand auf und reichte ihr ihre Hand, die sie ergriff. Schon stand sie – etwas wackelig – nur einen Augenblick später auf den Beinen. Sie spürte die Wärme von Aryas Hand. Als hätte sie sich verbrannt, ließ sie los. In Aryas Blick lag etwas, was sie nicht deuten konnte. Dann ging sie los und sie folgte ihr.
Das dunkle Haar schwang bei jedem Schritt von links nach rechts und ihre Hüften bewegten sich, als würde sie einen kleinen Tanz vollführen.
»Was ist das hier eigentlich?«, hörte sie sich fragen, als Arya ihr den Stoff des Zeltes aufhielt.
Eine Welle frischer Luft kam ihr entgegen, hüllte sie ein. Sie rang gierig nach Atem und musste die Augen schließen. Das Licht der Sonne brannte unangenehm und doch konnte sie sich in diesem Moment kein schöneres Gefühl vorstellen, als die prickelnden Strahlen an ihren nackten Armen. Von überall her drangen Stimmen. Ein großer Cocktail an Gerüchen und Eindrücken umhüllte sie und sie wäre am liebsten einen Moment stehen geblieben, um all die Gedanken sortieren zu können.
Der Boden unter ihr war trocken und erdig, immer wieder trat sie mit den hölzernen Sandalen auf Steine. Vor sich sah sie noch viele andere Zelte, einige größer, andere kleiner, aber allesamt beschmutzt, wie das, in dem sie aufgewacht war.
»Was das hier ist? Das, meine Liebe, ist eine normale Zivilisation.«
»Ich dachte, wir leben hier in der Zukunft?«
»Sehr witzig, Blaster! Durch die Zerstörung der Kraftwerke und die damit verbundene Verseuchung wurde die Gesellschaft praktisch mehr als ein Jahrhundert zurückversetzt.«
»Gibt es überhaupt noch Strom?«
»Schon lange nicht mehr. Diese Terroristen haben alles zum Einsturz gebracht. Klingt unwahrscheinlich, nicht wahr?«
Sie antwortete nicht auf die – offensichtlich – rhetorische Frage. Sie hatte genug erfahren; fürs Erste zumindest.
Ob es unwahrscheinlich klang? Wie wahrscheinlich war es denn bitte?
Das Mädchen hätte sich am liebsten einfach auf dem Boden niedergelassen und wäre wieder eingeschlafen. Ihre Schläfen pochten unaufhörlich, sodass sie ihre Zeigefinger gegen sie presste und leicht massierte. Hoffend, dass das Stechen nachlassen würde.
»Hast du Kopfschmerzen?«, fragte Arya leicht besorgt.
»Etwas«, murmelte sie vor sich hin.
Sie wäre beinahe über einen Stein gestolpert, kann sich aber gerade noch halten. Ihr Herz schlug gegen ihre Brust und es fühlte sich an, als hätte sie gerade eine Nahtoderfahrung gemacht, dabei hatte sie nur einen Stein übersehen.
Sie war sich fast sicher, dass wenn das so weitergehen würde, sie an einem Adrenalinüberschuss sterben würde.
»Ich mache dir am besten gleich noch einen Tee.«
Wieder nickte sie nur als Antwort.
Das Zelt, das wohl Arya besetzte, hatte ein dreckiges Bordeaux, schien aber durchaus festlicher, als die anderen. Außerdem war es viereckig und an der Spitze hing eine Flagge; die norwegische, wie sie nach einigem Überlegen erkannte.
Mit einem Ziepen öffnete Arya den Reißverschluss des Zeltes und bat sie herein. Es war recht spartanisch eingerichtet – was erwartete man schon von einer postapokalyptischen Zivilisation? -, es gab einen Tisch, zwei Stühle, einen Lagerfeuerplatz, eine Trennwand und ein Bett.
Gemütlich, dachte sie sich sarkastisch und blieb unschlüssig am Eingang stehen, als sich die Frau an dem Lagerfeuer zu schaffen machte. Arya beförderte aus einer der unzähligen Taschen an ihrer Weste eine Packung Streichhölzer. Sie konnte nicht sehen, wie viele es noch waren, aber so lautlos, wie die andere das Schächtelchen zurückstecken konnte, dachte sie sich, dass es nur noch wenige waren.
Die Dunkelhaarige hing einen Topf mit Wasser an ein dreibeiniges Gerüst aus Plastik über die Feuerstelle. Feiner Rauch stieg aus den brennenden Holzspaten und unweigerlich erinnerte sie sich an das, was im Wald geschehen war. Die dichten Schwaden aus brennendem Rauch, ihre trockene Kehle und die Hitze, die über ihren Körper kroch. Das Piksen der ersten Flammen an ihren Ellenbogen, die sich um das Glied wanden, wie eine Schlange um einen Ast. Der unerträgliche Schmerz und schließlich die alles umschließende Dunkelheit.
Wäre ich nur gestorben.
Schlagartig riss Arya sie aus ihren Gedanken.
»Hier, ich hoffe, das passt dir. Wenn nicht, kannst du ja immer noch krempeln!«
Bestimmt lächelte sie die Kleinere an und drückte ihr einen Stapel Wäsche in die Hand, welchen sie zunächst skeptisch musterte. Arya führte sie zur Papiertrennwand und meinte, sie solle sich dahinter umziehen.
Sie lugte noch einmal hinter der Wand hervor, um sicherzugehen, dass Arya abgelenkt war, dann zupfte sie an den beschen Leinen. Sie konnte die Spaghettiträger problemlos über ihre schmalen Schultern streifen. Dann, ganz behutsam, zog sie es über ihre Brust und stieg schließlich aus dem Gewand. Sie fröstelte nur in ihrem Schlüpfer und unbewusst musste sie darüber nachdenken, wer sie wohl umgezogen hatte. Ob es Kit, dieses Ekelpaket war? Oder Arya. Ihr wurde bei dem Gedanken ein bisschen schwindelig, also wendete sie sich schnell den Klamotten zu – die zu allem Übel auch nach besagter Frau dufteten. Sie vergrub ihre Nase für den Bruchteil einer Sekunde in dem olivfarbenen Stoff des Oberteils, ließ dann aber davon ab, um sich das Top überzustreifen. Sogar neue Unterwäsche hatte sie bekommen und eine genauso flattrige Hose, wie die, die Arya trug.
„Darf ich vorstellen: postapokalyptische Frauenmode. Schlabberhosen und Tops, dazu unbequeme Westen, die an den Brüsten drücken.“
Als sie dann noch in ein paar feste Stiefel gestiegen war, blickte sie kurz an sich herunter. Zum Glück passten Hose und Top gerade so und die Schuhe saßen wie angegossen. In einer Welt wie dieser musste man wohl keinen Wert mehr auf sein Aussehen legen.
Kleinlaut trat sie hinter der Pappe hervor und ließ sich auch noch einmal von Arya mustern, die, wie immer bis jetzt, lächelte.
»Schön, dass es dir passt! Das Wasser ist bald heiß, dann mache ich dir deinen Tee.«
Sie deutete ihr, sich an den Tisch zu Arya zu setzen, was sie auch gleich darauf tat.
»Auch, wenn wir sehr wenig über das Virus wissen, eine Sache, die gewiss ist, ist dass der Tee meiner Mutter Wunder wirkt. Auch bei den Kopfschmerzen, die durch die Strahlung verursacht werden.«
»Was ist da denn drin?«, fragte das Mädchen; sie hatte keine Lust, vergiftet zu werden.
»Das Übliche; Kräuter, Blumen, Beeren. Aber das ganze Rezept ist geheim. Eine Art Familiengeheimnis.«
Wenn sie oder ihre Schwester krank gewesen waren, hatte ihnen ihre Mutter auch immer Tee gemacht. Allein, wenn Mama an der Zimmertür mit der dampfenden Tasse stand, wurde einem schon warm ums Herz. Sie hatte sich besorgt an ihr Bett gesetzt, über die heiße Stirn gestrichen und das Gesicht zu einem mitleidigen Lächeln verzogen. Meist sagte sie irgendwas, von wegen „Gute Besserung, mein Mäuschen“ und auch, wenn es den Heilungsprozess nicht förderte, tat es trotzdem gut, die Nähe und Zuneigung der Person zu spüren, die einem doch irgendwie am Nächsten war.
Betroffen senkte sie den Blick und biss sich auf die Unterlippe; wie gerne sie jetzt in den Armen ihrer Mutter liegen und weinen würde. Sie würde sie trösten und sie würden solange reden, bis sie eine Lösung hatten, denn das hatte Mama Grace immer. „Es gibt für alles eine Lösung! Und wenn nicht, dann ein Stoffgemisch.“ Und weil es sich gehörte, kicherte sie höflich, immer, wenn ihre Mutter diesen Spruch brachte, was ziemlich oft war.
»Ich weiß, dass es schwer für dich sein muss, so aufzuwachen und dann auch noch in einer solchen Welt, aber du musst jetzt stark bleiben. Und versuch dich zu erinnern! In jeder Sekunde deines restlichen Lebens. Gehe traurige, schöne, lustige Momente in Gedanken durch, aber versuche, diese Erinnerungen zu behalten. Ich weiß, dass es dumm klingt, aber es hilft. Zumindest hat es Evelyn geholfen.«
Den letzten Satz flüsterte Arya fast, als würde sie nicht wollen, dass die Blonde es hörte; aber sie tat es und sofort fragte sie sich, wer diese Evelyn war. Doch allein, wie die andere die Augenlider senkte, wusste sie, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war.
Also lenkte sie davon ab:»Warum habt ihr mich gerettet? Kit meinte, dass ich nur wegen dir noch lebe. Wieso also, wenn ich doch eh früher oder später getötet werde?«
Die dunkelbraunen Aryas fokussierten sie eindringlich und sie hatte das Bedürfnis, dem Blick auszuweichen, doch sie blieb stumm sitzen, stierte zurück. Das Lächeln war einem ernsten Gesichtsausdruck gewichen, der sie fast schon bedrohlich aussehen ließ. Vernarbt und ausgelaugt. Vom Nahen wirkte ihre dunkle Haut nicht mehr so perfekt, wie anfangs vermutet. Wie Kit auch durchzogen Narben das dichte Gewebe. Wie sie diese Wunden wohl erlangt hatte?
»Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht«, sagte Arya ehrlich,»Als wir dich gefunden haben, dachte ich, du seist Evelyn. Du sahst ihr so ähnlich, trotz der Verbrennungen. Und als mir bewusst wurde, dass sie es nicht sein kann, warst du einfach das Mädchen, das Hilfe benötigte, und zwar dringend. Also brachten wir dich hierher, doch in der Zeit hatte sich deine Haut wieder vollständig regeneriert und ich wusste, dass ich es nicht über mich bringen kann, wieder einen Menschen wegen eines Virus umzubringen.«
Arya musste tief Luft holen.
»Wer ist Evelyn?«, fragte das Mädchen vorsichtig und lehnte sich ein bisschen weiter vor.
Sie sah eine kleine Träne im Augenwinkel der Frau aufblitzen, die sie aber augenblicklich wegwischte.
»Sie war... meine Freundin. Ich habe sie kennengelernt, nachdem meine Familie von einer Horde Blaster getötet wurde. Sie war für mich da und-«, ihre Stimme schwankte kaum merklich,»Es tat so gut jemanden an seiner Seite zu haben, doch irgendwann haben sich die ersten Symptome der Krankheit bei ihr bemerkbar gemacht. Evelyn hat mich gebeten, sie zu töten, da sie niemanden weh tun wollte. Und... Das Schlimmste ist, dass ich es getan habe.«
Sie deutete mit ihrem Zeigefinger an ihre Schläfe:»Ich habe den Lauf der Pistole ihr direkt an den Kopf gehalten. Ihre Augen waren vollständig violett und sie hatte meine Hand gehalten, als hätte es das erträglicher gemacht. Ich hätte es vielleicht nicht tun sollen, schließlich habe ich sie geliebt und sie war krank, wer weiß, ob sie das wirklich gesagt hat, weil sie es wollte. Aber ich konnte ihr noch nie eine Bitte ausschlagen, vor allem nicht so etwas Wichtiges. Und wenn ich lange genug darüber nachdenke, denke ich, dass ich genauso gehandelt hätte. Ich hätte mich eher töten, als zu einem dieser Dinger zu werden!«
»Und wenn ich dich darum bitten werde?«
Sie würde lügen, wenn sie sagen würde, dass es sie kalt ließ. Dass es ihr nicht im Herz schmerzte, wie diese Frau, die sie seit gut 20 Minuten kannte, so traurig war. Auch, wenn Arya es nicht zeigen wollte. Und am liebsten hätte sie sie getröstet, sie in den Arm genommen und den Schmerz, der ihr auf der Seele lastete, genommen. Doch sie war ihr sicher schon mit ihrer Frage zu nah getreten.
Arya sah sie wieder an, antwortete leise:»Ich will, dass jeder selbst bestimmen kann, ob er leben oder sterben will. Wenn du zu einem Menschen zerfleischenden Kannibalen werden willst, ist es deine Entscheidung, aber spätestens dann werde ich dich töten, denn das ist kein menschliches Wesen mehr, nur noch ein Monster, das es so schnell wie möglich auszuschalten gilt.«
Ihre Stimme hatte einen verbitterten, aggressiven Ton angenommen, den sie unter normalen Umständen als erschreckend empfunden hätte. Doch die letzten Minuten waren sie irre gewesen, dass sie eine wütende Frau kaum noch verunsicherte.
»Gut«, murmelte sie und erwiderte Aryas starren Blick.
Einen Augenschlag später lächelte Arya wieder und meinte dann, mit alt vertrauter, gut gelaunter Stimmlage:»Ich denke, das Wasser sollte jetzt heiß sein.«
Mit einem leisen Schaben rutschte sie mit dem Stuhl zurück und bewegte sich auf die das Feuer zu.
Das Mädchen saß dabei unruhig auf ihrem Stuhl, knetete die Finger. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas hätte sagen sollen. Irgendwelche tröstenden Worte. Aber sie war mit der ganzen Situation überfordert gewesen, schließlich kannte sie Arya überhaupt nicht und wusste nicht, wie sie ihr helfen konnte. Zumal sie nicht ein mal einen Plan hatte, wie sie sich selbst helfen sollte. Arya hatte es schon gesagt. Sie würde sie am Leben lassen, wenn sie es wollte. Solange sie ein Mensch war, war das ihre Entscheidung. Und wofür sollte sie noch groß länger leben, wenn ihr Schicksal eh schon vorherbestimmt war? Sollte sie nicht lieber sterben, solange sie noch keine Bombe war? Wer wusste, ob sie nicht Arya umbringen würde als Blaster, bevor sie es tun konnte?
Andererseits besaß sie einen natürlichen Überlebensinstinkt. Sie hatte ihre Schwester, ihre Eltern, Serafina, auch, wenn sie im Moment noch nicht wusste, wo sie waren. Sie würde es schon herausfinden und dann gab es erst mal einen Grund, um hier zu bleiben.
Sie biss sich auf die Unterlippe, während Arya eine dampfende Tasse vor ihr auf den Tisch stellte. Ihren Kopf stützte sie mit dem Handballen, die andere Hand nestelte an dem Tassengriff, als sie plötzlich eine Stimme von draußen hörte.
»Arya!?«
Es war eindeutig eine männliche Stimme.
Angesprochene, die sich gerade gesetzt hatte, stand jetzt wieder auf den Beinen und zog den Reißverschluss des Zeltes auf. Das Mädchen lehnte sich ein bisschen zurück, um einen Blick auf den Gast erhaschen zu können.
Der Mann war nur ein wenig größere, als Arya und hatte, soweit sie das beurteilen konnte, etwas Ähnliches, wie Kit – dieses Ekelpaket – an. Seine dunkelblonden Haare hingen ihm strähnig im Gesicht, einige längere Strähnen erreichten sogar seine markante Nasenspitze.
»Was ist, Kosta?«
Sie erinnerte sich daran, dass Arya Kit vorhin zu einem gewissen „Kosta“ geschickt hatte. War er das?
»Kit meinte, ich solle dich holen.«
Arya seufzte leise auf, blickte kurz zu dem Mädchen und dann zurück zu Kosta.
»Ist es dringend?«, versuchte sie sich raus zu reden.
»Der Blaster will 'den Chef des Ladens hier' mal persönlich sprechen«, erklärte der junge Mann und musterte kurz unauffällig das Mädchen, das noch immer am Tisch saß und begonnen hatte, den Tee zu trinken.
Wieder entkam der Frau ein Seufzen, sie schien mit sich selbst zu ringen.
»Blaster?«, wandte sie sich ihr zu,»Du kommst mit. Lass die Tasse einfach stehen, darum kümmere ich mich später.«
Sie wusste nicht, wieso sie den „anderen Blaster“ sehen sollte, aber insgeheim war sie froh darüber, nicht alleine hier bleiben zu müssen. Sonst müsste sie sich wieder mit all den unangenehmen Gedanken auseinandersetzen, die ihr in den Sinn kamen, sobald Ruhe herrschte.
Also trank sie den letzten Schluck aus der schlichten Tasse – die Kopfschmerzen hatten tatsächlich ein wenig nachgelassen – und folgte Kosta und Arya, die schon außerhalb des Zeltes auf sie warteten.
Sie fühlte sich wohl in den Klamotten, die Arya ihr gegeben hatte, nicht mehr so aussätzig und anders, wie zuvor, wo sie diesen Kittel getragen hatte. Man hätte aus 10 Metern Entfernung mit Sicherheit sagen können, dass sie nicht hier hin gehörte. Und jetzt? Jetzt fiel sie kaum auf. War eine junge Frau, wie Arya oder die eine Brünette da an dem Zelt, das ein Kind auf dem Arm trug.
Arya hatte recht; es war eine ganz normale Zivilisation. Vielleicht erinnerte das alles eher an einen Indianerstamm, als an Menschen aus dem 21. Jahrhundert, aber eine Sache, die sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, war dass nichts so war, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie würde nicht fast jeden Morgen in der völlig überfüllten U-Bahn sitzen und den Vorlesungen ihrer Professoren lauschen. Sie würde auch nicht nach der Uni und ab und zu in der Mittagspause das Café Amilia mit Serafina besuchen – die heiße Schokolade dort war göttlich. Und irgendwie vermisste sie es. Aber wenn Arya recht behielt, dass sie zum Sterben verurteilt worden war, dann musste sie sich vielleicht nicht mal mit dieser Tatsache arrangieren.
Sie war hin und hergerissen; ob sie Arya bitten sollte, sie umzubringen oder ob sie versuchen sollte, den Rest ihres jämmerlichen Lebens zu genießen und dann, kurz bevor sie sich in einen „richtigen“ Blaster verwandelte, auf das Angebot zurückzukommen.
Es fiel ihr schwer, eine Antwort auf diese Frage zu finden, weswegen sie, einerseits um keine Kopfschmerzen hervor zu beschwören, andererseits, um Kosta und Arya zu lauschen, die Gedanken beiseite schob.
»Weswegen wollte der Junge mich sprechen?«, fragte Arya.
»Er fühlt sich in seiner Freiheit eingeschränkt, sagt er.«
Empört schnaubte die Frau:»Der Kleine hätte dich und Kit beinahe getötet, als ihr ihn im Wald aufgegabelt habt. Da lass ich ihn doch nicht frei hier rum laufen!«
»Das stimmt schon, aber..«
»Es ist schon weit fortgeschritten, ich weiß, ich habe es gesehen. Aber das ist keine Entschuldigung für alles.«
Betreten blickte der Braunhaarige zu Boden. Das Mädchen musterte sein zierlich wirkendes Profil. Seine Nase, seine Lippen, seine langen Wimpern, alles an ihm wirkte grazil, ja, beinahe feminin. Aber er war hübsch, mit seinen braunen Augen. Er und Arya könnten glatt als Geschwister durchgehen.
»Arya«, setzte Kosta ernst an,»Evelyn hat zwei unserer Forscher umgebracht.«
Ihr Blick wurde starr. Die Wärme wich einem zornigen Ausdruck.
»Ist dieser Junge Evelyn? Sind sie sich in irgendeiner Weise ähnlich? Evelyn wollte nach diesem Vorfall angekettet werden und ich habe es nicht getan, weil ich wusste, dass sie ein guter Mensch ist.. war! Aber weiß ich das bei diesem Blaster?«
Beschwichtigend hob Kosta die Hände:»Nein, das weißt du nicht, aber genauso wenig weißt du mit Sicherheit, dass er schlecht ist. Du hast es selbst gesagt; Evelyn war gut, und trotzdem hat sie gemordet. Also schließt es nicht die Möglichkeit aus, dass es bei dem Jungen auch so ist.«
Das Mädchen, das nur stumm dem Gespräch lauschte, hätte damit gerechnet, dass Arya etwas Garstiges erwidert, stattdessen grinst sie Kosta schief an.
»Du bist deinem Vater so ähnlich«, meinte sie schließlich versöhnlich.
»Das höre ich oft«, erwidert der Größere grinsend,»Bitte sieh ihn dir wenigstens an. Wenn du ihn nicht magst, bleibt er eben an der Kette. Aber gib ihm eine Chance, so wie du ihr eine Chance gibst.«
Mit „ihr“ ist das Mädchen gemeint. Er macht eine leichte Kopfbewegung in ihre Richtung. Daraufhin nickt Arya nur verständnisvoll, lächelt wieder.
»Wie heißt du eigentlich, Blaster?«, erkundigte sich Kosta.
Bevor sie antworten konnte, meldete sich Arya zu Wort:»Sie weiß es nicht. Ich finde, sie sollte sich einen aussuchen dürfen, bis er ihr wieder einfällt.«
Kosta zog eine Augenbraue in die Höhe, musterte sie eingehend.
»Soll mir recht sein.«
„So viel zum Thema Kopfschmerzen vermeiden.“
In Gedanken ging sie die Namen einiger Bekannten durch; Autoren, Schauspieler, Familienmitglieder, ein paar Fernsehstars.
Ihre Wahl fiel letztendlich auf „Ellen“, was sie den beiden auch sogleich mitteilte.
»Ellen«, wiederholte Arya ihren Namen fast andächtig.
»Klingt schön«, meinte Kosta.
Dann kamen sie wieder auf den Blaster zu sprechen.
»Wo wir schon beim Thema Namen sind.. Hat er seinen Namen verraten?«
Koste grinste leicht, ehe er antwortete:»Kit hat er angespuckt, als er gefragt hat. Während der sich dann die Augen auswaschen gegangen ist, habe ich noch mal gefragt und eine Antwort erhalten.«
Der Brünette wirkte regelrecht stolz.
»Und?«
»Oliver heißt der Blaster.«
»Wunderbar, dann haben wir immerhin Namen für die beiden!«
Es herrschte vorerst Stille. Ellen – ihr gefiel der Name sehr – nutzte diese, um den Lauten zu lauschen. Der Zeltplatz war auf einer großen Wiese nahe eines Waldes errichtet worden, weshalb man den ein oder anderen Vogel zwitschern hörte. Sie sangen eine Melodie, die in den Ohren der Blonden dröhnte. Sie spitzte die Lippen, um mit den Tieren zu pfeifen. Arya und Kosta drehten sich zu ihr um, sagten aber nichts; Kosta stimmte sogar mit ein und nach ein paar Augenblicken entstand ein Canon aus Melodien, die den dreien im Kopf schwirrten.
Abrupt verstummten sie allerdings, als ein lauter Schrei durch die Umgebung hallte. Sofort spannten sich die Muskeln der Soldaten an. Aryas eine Hand zuckte zu den Revolvern an ihrem Gürtel, jederzeit bereit, sie zu benutzen.
»DU SCHEISS BENGEL!«, schrie es ganz aus der Nähe.
„Das war doch Kit, oder etwa nicht?“
Sofort rannte Kosta los, weiter in die Richtung, in die sie gehen wollten. Ellen stolperte über den unebenen Boden hinter den beiden hinterher, die ein Zelt anvisierten. War das das Zelt, in dem der Blasterjunge untergebracht war?
Desto näher sie dem Unterschlupf kamen, umso lauter wurde das Keuchen und die Schreie. Es rumpelte laut, als sei etwas zu Boden gefallen.
Unverzüglich riss Arya – nun mit gezückter und entsicherter Pistole – den Vorhang auf. Ellen stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf das Szenario zu erhaschen.
Mitten auf dem Boden lag Kit, schwabbelig und dickbäuchig, wie eh und je. Auf ihm ein sportlicher, fast schon mager aussehender Junge mit pechschwarzem Haar.
»Du Perversling!«, zischte der Junge mit tiefer Stimme und erhob den Arm, als wolle er Kit schlagen.
Gerade, bevor die Faust auf sein Gesicht traf, fing der Dicke die Hand auf. In einem kleinen Moment der Unachtsamkeit und Verwunderung, überwältigte Kit ihn und drehte ihn bäuchlings auf den Boden, wo er seine Arme fest am Rücken hielt.
»Wenn du nicht sofort aufhörst, schieße ich, Blaster!«, rief Arya ungehalten, ihre Waffe fest zwischen ihren zwei Händen.
»Dann schieß' doch! Ich sterbe eh! Komm, trau dich, Fotze!«
Ein ohrenbetäubender Schuss hallte durch den kleinen Raum, sodass es in Ellens Ohren dröhnte. Reflexartig presste sie ihre Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen. Alles drehte sich und ihre Beine drohten einzuknicken. Während sie leicht taumelnd versuchte, das Gleichgewicht zu halten, spürte sie, wie kleine Stromstöße jedes Glied ihres Körpers einnahmen und einen brennenden Schmerz verursachten. Sie riss den Mund auf, als wolle sie schreien, doch kein Laut entkam ihrer Kehle.
Dann ebbte der Schmerz so plötzlich ab, wie er gekommen war. Ellen wimmerte leise, als sie die Arme sinken ließ. Hektisch suchte sie den Raum nach etwas ab, an dem sie sich festhalten konnte, doch bevor sie etwas entdecken konnte, ließ die Kraft in ihren Beinen nach und sie hätte vermutlich nicht gerade schmerzfrei Bekanntschaft mit dem Boden gemacht, hätten sie nicht zwei warme Arme aufgefangen.
Ellen fühlte sich zu schwach, um die Augen weiter offen zu halten, doch sie konnte Aryas betörenden Duft vernehmen, die Wärme ihrer Hände, die sie oben hielten, an den Hüften spüren.
»Kosta, kümmer' du dich um den Jungen«, konnte die Blonde Arya entfernt und gedämpft, wie durch ein Kissen, sagen hören.
Schritte. Wimmern. Worte, die sie zwar hörte, aber nicht zuzuordnen wusste. Stille.
Diese Stille hielt an, bis sie die Augen wieder aufschlug und in die tiefbraunen Irden Aryas blickte. Die Frau lehnte über ihr, schien durch sie hindurch den Boden zu mustern. Ihre Kehle war trocken und ihr Kopf schmerzte stechend. Doch sie fühlte sich längst nicht mehr so schwach, wie zuvor. Dazu trug auch ungewollt Aryas Duft bei.
»Was ist passiert?«, hörte Ellen sich murmeln.
Arya realisierte wohl erst jetzt, dass sie aufgewacht war, denn sie brauchte einen Moment, bis sie ihre Gedanken sortiert hatte und antworten konnte.
»Ich habe auf den Boden geschossen. Menschen, die sich in der Verwandlungsphase befinden, reagieren sehr extrem auf solche lauten Geräusche. Leider habe ich nicht bedacht, dass du auch davon betroffen sein wirst.«
Vorsichtig setzte Ellen sich auf. Sie lag wieder auf einem dieser Feldbetten.
»Kosta kümmert sich gerade um Oliver. Keine Sorge, ich lasse mich nicht so leicht von einem pubertären Blaster aus der Ruhe bringen.«
Arya grinste schief, strich Ellen ein paar lästige Strähnen aus der Stirn. Sie streckte sich der zarten Hand leicht entgegen, genoss die Sanftheit, mit der die Größere sie bedachte. Wider allem, was sie bis jetzt in dieser neuen Welt kennengelernt hatte, war Arya so vollkommen. Als hätte sie genau eine Ahnung, was sie tun musste und, was hier vor sich ging.
Auf einmal ließ Arya ihre Hand wieder sinken, räusperte sich kleinlaut.
»Ich werde nach dem Jungen sehen. Möchtest du mitkommen oder fühlst du dich noch nicht gut genug?«
»Es geht schon«, murmelte Ellen und ließ sich von der Dunkelhaarigen aufhelfen.
Sie erkannte das Zelt, in dem sie noch vor ein paar Stunden aufgewacht war. Ob das das Krankenzelt war?
Ellen bemerkte, dass Arya sich die Haare mittlerweile zu einem Zopf geflochten hatte, der zwischen ihren Schulterblättern pendelte. Ein paar kürzere Strähnchen hatten sich von den Strängen verabschiedet und hingen nun widerspenstig in der Luft herum.
»Wieso hat mein Körper so stark darauf reagiert?«, durchbrach Ellen die Stille.
»Ich weiß es nicht. Es hängt mit dem Virus zusammen, das ist klar, aber da wir nach wie vor nicht sehr viel darüber wissen, kann ich dir das nicht sagen.«
Ellen schwirrte eine Frage im Kopf, die sie lieber nicht stellen wollte. Sie wusste mittlerweile, dass „Evelyn“ ein Tabuthema für Arya war, doch was nützte es, wenn sie hier lebte, ohne eine Ahnung von irgendwas zu haben?
»Kosta meinte vorhin, Evelyn habe zwei eurer Forscher umgebracht. Was meinte er mit Forschern?«
Kurz blitzte etwas in ihren Augen auf, einen Augenschlag später war es schon wieder verschwunden, dass Ellen sich nicht sicher war, ob sie sich das nur eingebildet hatte.
»Einige Menschen, meist ausgebildete, studieren das Verhalten der Blaster, den Werdegang der Krankheit, wie lange es durchschnittlich dauert, was es für charakterliche Veränderungen gibt und und und..«
»Und wieso hat Evelyn sie getötet? Ich meine, es ist doch gut, dass versucht wird, das Virus zu erklären.«
»Hör mal, ich würde ungern über sie reden, aber da ich wahrscheinlich nicht drum rum komme, sagen wir es so: es kann während des Verwandlungsprozesses zu Anfällen kommen. Oliver hatte so einen in dem Wald, in dem Kosta und Kit ihn gefunden haben. Und Evelyn eben auch. Es ist egal, wer da um dich herum ist, du willst ihn töten. Und du tust es auch, wenn du nicht daran gehindert wirst. Deswegen wusste Evelyn nicht, was sie da tat.«
Verständnisvoll nickte Ellen, wagte es aber nicht, weitere Fragen zu stellen.
Auf ihrem Weg zu dem Zelt, in dem sie vorhin zusammengebrochen war, kam ihnen eine Frau entgegen, die sich besorgt erkundigte, was vorhin passiert sei, dass geschossen wurde.
Arya meinte nur, ein wild gewordener Blaster habe Bekanntschaft mit Kit gemacht. Die Frau lachte höflich, sie verstand wohl.
„Ob ich hätte schreien sollen, als ich Kit das erste Mal gesehen habe?“, fragte sie sich leicht grinsend.
»Was für eine Rolle hat Kit hier eigentlich?«
»Er kümmert sich um die Neuen. Das heißt Menschen, die Zuflucht suchen und Blaster, wie du.«
»Ist das zum Abschrecken, um stets genügend Platz hier zu haben?«, scherzte Ellen und erntete dafür ein Kichern von Arya.
»Er ist echt in Ordnung, wenn man sich an seinen Mundgeruch und die etwas seltsame Art gewöhnt hat. Und er war mir immer loyal gegenüber.«
»Und Kosta..?«
»Er ist mein bester Freund und wie ein kleiner Bruder für mich. Er hilft mir, dass mir das nicht alles über den Kopf hinauswächst.«
»Bekommen alle solche Rollen verteilt?«
»Anders würde es nicht funktionieren. Viele melden sich freiwillig für die Essenssuche oder Bewirtschaftung kleinerer Felder und der Tiere. Andere spielen Tagesmutter und Lehrer, um die Neugeborenen und Kinder über die ganze Situation aufzuklären. Ab dem 12. Lebensjahr werden die Kinder im Bereich Selbstverteidigung ausgebildet. Hier reicht es nicht, die Männer in den Kampf zu schicken. Die meisten „Völker“ heutzutage sind so aufgebaut.«
Ellen zog eine Augenbraue in die Höhe.
»Ich wusste nicht, dass wir uns im Krieg befinden.«
»Denkst du, die Blaster hören auf, uns Menschen zu töten, wenn wir sie lieb anlächeln und ihnen Kekse geben?«
Langsam verstand sie. Die Menschheit kämpfte gegen ein Virus. Das alles ähnelte diesen furchtbar schlechten Zombiefilmen, die sie hin und wieder mit Serafina angeschaut hatte.
»Ich war bis vor 2 Jahren mit meiner Familie in einer viel größeren Zivilisation. Unsere ganze Kleinstadt hatte sich zusammengeschlossen und ums Überleben gekämpft. Aber wir wurden von einer Horde Blaster überrannt. 5 von 108 Menschen haben dieses Massaker überlebt, Kosta und ich sind zwei von ihnen.«
»Was würde hiermit passieren?«, Ellen machte eine kreisartige Bewegung, um das Dörflein anzudeuten.
Aryas Blick war wieder ernst. Nichts erinnerte an die zärtliche Frau, die vorhin noch neben ihr saß.
»Der Großteil würde vermutlich sterben. Wir sind nicht sehr groß, aber wir halten zusammen, wo es nur geht. Doch was im Ernstfall passieren würde, kann ich nicht mit Gewissheit sagen.«
Aus dem Zelt drangen leise Stimmen und Gelächter, welche wohl Kosta und dem Blaster Oliver gehörten. Arya öffnete den Reißverschluss und lugte herein. Nachdem sie sich in den Raum geschoben hatte, folgte Ellen ihr, die eingehend die beiden verstummten Jungs musterte.
Olivers schwarzes Haar reichte ihm fast bis zu den Schultern und hatte markante Gesichtszüge und eine gerade, kantige Nase. Er erwiderte ihren Blick aus kalten, grünen Augen. Sie fühlte sich unter seinem penetranten Blick unwohl, weshalb sie schnell zu Kosta schaute. Dieser grinste nur total blöd und schien ein wenig hibbelig.
»Geht es ihm besser?«, erkundigte Arya sich.
Sie schien Oliver völlig zu ignorieren.
»Warum fragst du mich nicht selbst, he?!«, kam es aufmüpfig von dem Schwarzhaarigen, welcher allerdings weiterhin keine Beachtung geschenkt bekam.
»Bis gerade eben war er echt gut drauf«, berichtete Kosta ohne das Grinsen zu unterbrechen.
Arya lachte auf:»Ich nehme das jetzt einfach nicht persönlich.«
»Ellen scheint es auch besser zu gehen.«
»Zum Glück«, hörte Ellen Arya flüstern.
»Ach übrigens Kosta?«
Angesprochener, der seinen Blick wieder dem Größeren gewidmet hatte, sah jetzt zu Arya auf.
»Warum ist er nicht festgemacht?«
Ein genervter Blick seitens Kostas, ein lautes Schnauben von Oliver und einen Augenblick später standen Arya und Kosta vor dem Zelt und diskutierten so leise, dass Ellen nur kleine Wortfetzen, wie „tot“ oder „Ketten“ verstand, aber es war offensichtlich, dass es um den Blasterjungen ging.
Sie verstand nicht, warum sie nicht auch an ein Bett gekettet wurde, wo doch die Gefahr ziemlich groß war, dass sie einen „Anfall“ hatte und dann über die Menschen hier herfiel.
»Und du bist?«, riss eine tiefe Stimme die Stehende aus ihren Gedanken.
Perplex stierte sie Oliver an. Er meinte sie.
»Ellen.«
»Ich bin-«
»Oliver, ich weiß.«
Und als sie seinen verwirrten Blick sah, fügte sie noch hinzu:»Kosta hat ihn uns vorhin verraten.«
»Ah.«
Damit war das Gespräch zunächst beendet.
»Bist du ein Mensch?«, fragte der Schwarzhaarige schließlich.
Unter normalen Umständen hätte sie ihn gefragt, was sie denn sonst sein sollte. Aber dann wurde ihr wieder bewusst, dass sie gar kein Mensch war. Zumindest nicht mehr ganz. Sie war ein Mensch, der mit einem Virus infiziert war, den sie seit ein paar Stunden kannte.
»Nein, ich bin wie du«, sagte Ellen.
Oliver lachte:»Wohl kaum. Dann würden die sich auch darüber streiten, ob sie dich an ein Bett fesseln sollen oder nicht.«
»Ich habe noch nicht versucht, Kosta umzubringen.«
»Und Kit schon?«, grinste er.
»Ich hätte ihn einmal fast geschlagen.«
»Bei diesem Dickwanst kein Wunder. Aber bei dem Kleinen wäre das wirklich schade gewesen.«
Nervös lachte Ellen kurz, verstummte dann wieder.
»Ist es nicht, Kosta!«, vernahm man jetzt laut und bestimmt Aryas Stimme.
»Im Gegensatz zu deinem Lover da drinnen, kann sich Ellen kontrollieren!«
Lover? Ellen schielte zu Oliver, um seine Reaktion zu sehen, doch das Grinsen auf seinem Gesicht hatte sich kein Bisschen verändert.
»Er ist nicht mein Lover! Und woher willst du das wissen? Ellen ist seit 4 Stunden bei uns und schon nimmst du sie bei jeder Kleinigkeit in Schutz. „Nein Kosta, ich finde, wir sollten sie noch nicht mit dem Ganzen hier konfrontieren! Nein Kosta, sie wird nicht gefesselt! Nein Kosta, das ist nicht unfair, sie ist viel verantwortungsbewusster, als Oliver!“«, äffte Kosta sie wütend nach.
»Jetzt hör mal auf, zu übertreiben! Der Kleine hätte Kit allein heute fast 2 Mal getötet!«
»Und Kit kann sich ja auch nicht alleine verteidigen, ist klar!«
Oliver hat aufgehört zu grinsen und blickt nun interessiert Richtung Eingang, ebenso Ellen.
»Der Punkt ist doch, dass er gefährlich ist. Du hast gesagt, ich soll ihn mir angucken. Das habe ich und ich habe beschlossen, dass er entweder jetzt exekutiert wird oder angekettet bleibt, bis er mir beweist, dass er ungefährlich für uns alle hier ist.«
Es bleibt einige Momente still, bis Kosta mit fester Stimme meinte:»Ich trage für ihn die Verantwortung.«
»Oh, das wirst du nicht!«
»Es ist meine Entscheidung! Du bist weder meine Schwester, noch meine Mutter. Und wenn ich sage, dass ich die Verantwortung für jeden Schaden, den er anrichtet, übernehmen werde, ist es meine Sache.«
Schweigen. Seufzen.
»Du hast recht, aber ich bin deine Freundin, die sich Sorgen macht. Um die Menschen hier und vor allem um dich...«
Den Rest des Satzes flüsterte sie, sodass Ellen und Oliver unwissend blieben.
»Das wird nicht passieren!«
»Gut, dann hast du auch die Aufgabe, ihm alles zu zeigen. Aber er wird weiterhin in diesem Zelt schlafen!«
Es wurde noch leise das ein oder andere Wort gewechselt, dann betraten die beiden wieder das Innere des Zelts.
»Komm mit, Oliver, ich zeig dir das Dorf«, meinte der Brünette und wartete darauf, dass der Blaster aufstand und ihm aus dem Unterschlupf folgte.
Er warf Arya noch ein kleines, fast schon gehässiges Grinsen zu, sein Blick wanderte daraufhin ziemlich auffällig zu Kostas Hintern, dann waren sie verschwunden. Als die Schritte verklungen waren, seufzte die Größere lautstark.
»Kosta ist so furchtbar naiv!«, knurrte sie verzweifelt, vergrub das Gesicht in den Händen.
»Ich meine, er lässt sich von diesem Vollhorst um den kleinen Finger wickeln und heult mir dann die Ohren voll, dass er ach so ungerecht behandelt wird!«
Kosta stand also auf Oliver. Nun, rückblickend hätte Ellen sich das fast denken können. Aber ob sie davon so begeistert war, wusste sie nicht. Schließlich war ihr Oliver ziemlich unsympathisch. Er war diese Art Mensch, die andere benutzten, um an ihre Ziele zu gelangen. Offenbar hatte es geklappt.
»Oliver wird ihm das Herz brechen«, murmelte Arya, halb zu Ellen, halb zu sich selbst,»Wenn ich ihn davor umbringe, hat er erst gar keine Möglichkeit.«
»Ich denke, das ist eine schlechte Idee. Kosta mag ihn, also würde er dir nicht verzeihen, wenn du ihm etwas antätest, solange er noch ein Mensch ist.«
Arya blickte auf. Sie sah Ellen direkt in die Augen, die es nicht wagte, zu blinzeln. Helle Sprenkeln zierten ihre dunkle Iris und die Augenringe unter ihren Augen fielen der Blonden in diesem Moment mehr auf, als zuvor.
»Ich weiß. Nur nachdem er seine Familie verloren hat, will ich ihn irgendwie vor noch mehr Schmerz beschützen. Das war früher nicht anders.«
»Ihr kanntet euch schon vor dem Ganzen?«
»Wir waren jahrelang in derselben Schule. Erst auf der Uni haben sich unsere Wege getrennt.«
»Was hast du studiert?«, fragte Ellen interessiert.
»Englisch – wunderschöne Sprache – und Geschichte im 2. Semester. Und du?«
In einer Welt, wie der, in der Ellen aufgewacht war, erschien dieser Smalltalk mit Arya so entspannend und erholsam, so vollkommen normal, dass es ihr schon fast lächerlich erschien. Aber dieses Gespräch machte sie glücklich. Sie redeten über Belangloses und Wichtiges, lernten einander besser kennen. Und als sich die beiden auf machten, um etwas zu Essen – ihr Magen hatte Ellen verraten -, fühlte die Blonde sich in Aryas Anwesenheit geborgen und sicher, wie lange nicht mehr.
Ellen erinnerte sich daran, dass sie einen ziemlichen Streit mit einer Kommilitonin gehabt hatte, weshalb sie Serafina angerufen und um Rat gefragt hatte. Normalerweise kam sie mit so ziemlich jedem aus, aber entweder, man mochte sie total oder hasste sie, da gab es leider selten ein Zwischending. Und mit Joanna, so hieß das Mädchen, hatte sie jemanden kennengelernt, auf den letzteres zutraf.
Das Essenszelt war größer, als jedes andere Zelt. Lange Biertische mit Bänken reihten sich in dem großen Innenraum aneinander und der Geruch von Essen lag in der Luft, der Ellens Magen gleich ein weiteres Mal knurren ließ.
»Erwarte am besten kein Fast Food oder ein Fünf-Gänge-Menü«, meinte Arya grinsend.
Der Abend verlief, im Gegensatz zum bisherigen Tag, ruhig, ja beinahe windstill, dass Ellen die penetrante Angst beschlich, gleich würde irgendetwas aus einem Gebüsch fallen und sie alle töten. Mit anderen Worten: Unbewusst hielt die Blonde das alles für die Ruhe vor dem Sturm.
Konnte es überhaupt so still und festlich sein? In einer solchen Situation? Vielleicht war sie einfach zu kurz hier, um das zu wissen. Aber sie ließ die Öffnungen an der Zeltwand keine einzige Sekunde außer Augen.
Während des Essens wurden Ellen und Oliver dem ganzen „Volk“ vorgestellt. Nicht jeder war so begeistert von ihrer Anwesenheit, zumal viele eine Gefahr in ihnen sahen. Doch zum Glück konnte die Masse vorübergehend besänftigt werden, doch dieser Zustand würde wohl nicht allzu lange anhalten, dessen war sich die Blonde sicher. Sie und Oliver waren die Geächteten. Und die Menschen, deren Heimat das hier darstellte, waren die wütenden Bürger mit brennenden Fackeln und Mistgabeln. Es war eine Frage der Zeit, bis sie sich mit lautem Gebrüll auf sie stürzten und hinrichteten.
»Nun«, setzte Arya unsicher an,»Ich hoffe, du findest irgendwie ein bisschen Ruhe.«
Die beiden Frauen standen vor einem kleinen Gästezelt. Hinter ihnen erstreckten sich die schwach beleuchteten Unterschlüpfe. Hin und wieder ging ein Licht aus, Raunen schlängelte über den Platz. Ein geflüstertes „Gute Nacht“ hier, ein lautes Gähnen da. Es wurde immer stiller, sodass die Landschaft beinahe etwas Idyllisches hatte. Die Sonne stand tief am Horizont, griff mit ihren roten Armen durch das dichte Geäst des Wäldchens, weit entfernt genug, damit das Dorf hier sicher war.
Ellen blinzelte ein, zwei Mal.
»Wenn ich ehrlich bin, bin ich kein Bisschen müde.«
Das entsprach der Wahrheit. Ihr kleines Schläfchen vor dem langen Gespräch mit Arya und die Tatsache, dass sie davor schon stunden-, wenn nicht sogar tagelang, geschlafen hatte, ließen nicht viel Platz für Müdigkeit.
»Komm mit«, meinte Arya nach ein paar Augenblicken der Stille und deutete Ellen mit einer Handbewegung, ihr zu folgen.
Sie entfernten sich von den Lichtern der Zivilisation, kamen dem Ungetüm von Wald immer näher. Wie ein spitzzahniges Monster beugte er sich dunkel und bedrohlich über sie, streckte seine Krallen nach ihnen aus, nagte an ihren Kleidern und hüllte sie nach und nach in seine undurchdringliche Dunkelheit ein. Sie waren eins mit dem Ungeheuer geworden.
Im Schutz des Waldes fand Ellen ihre Stimme wieder:»Wohin gehen wir?«
Es war aufregend, prickelnd. In einem Film würde jetzt ein Axtmörder hinter einem Baum hervorkommen und die beiden Frauen töten. Und der Gedanke löste in Ellen eine Welle der Euphorie und des Adrenalins aus, die sie zu überrollen und unter sich zu begraben schien.
»Ich gehe hier öfter hin, wenn ich nicht schlafen kann. Wir sind gleich da.«
Grillen zirpten laut und durchschnitten die Stille, wie Messer. Vereinzelt konnte man noch das Zwitschern einiger Vögel vernehmen. Es war so dunkel, dass Ellen kaum die eigene Hand vor Augen sehen konnte und sie spürte, wie sich Äste an um ihre Beine schlangen, sie festhielten. Sie beschloss, größere Schritte zu machen, um nicht hinzufallen.
Plötzlich vernahm sie ein Zwitschern und das Geräusch von schlagenden Flügeln, so dicht an ihrem Ohr, dass sie nur schwer einen Schreckenslaut zurückhalten konnte. Instinktiv sprang sie einen Schritt zur Seite und griff nach dem nächstbesten Baum; allerdings fühlte sich der Baum nicht wirklich rau und baumig an, sondern zart und warm. Ellens erster Gedanke war, dass sie sich in irgendein Tier gekrallt hatte, doch als sie Aryas „Shh, alles ist gut“ hörte, atmete sie erleichtert aus. In ihrem Kopf hatten sich schon alle möglichen Horrorszenarien breit gemacht. Sie und Arya, tot, zwischen den Bäumen; von einem Axtmörder zerhackt, von einem Tier zerfleischt. Nur Arya, ermordet von ihr.
Doch zum Glück traf nichts von all dem ein.
Die Finger der beiden verschränkten sich ineinander und Ellen fühlte sich um einiges sicherer, als zuvor. Von Aryas Hand ging eine unglaubliche Intensität aus, eine durchdringende Wärme und das Gefühl von Geborgenheit, sodass sie sich am liebsten an ihren Arm geschmiegt hätte, um die Empfindung zu verstärken. Kleine Blitze zuckten ihren Unterarm nach oben, durch ihre Venen, ließen einen wohligen Schauer über ihren Rücken rieseln.
Ellen drückte Aryas Hand und sie drückte zurück.
Nach ein paar Minuten, die sich anfühlten, als würden ganze Ewigkeiten und Gezeiten davon rinnen, türmte sich vor ihnen etwas Großes, Dunkles auf. Im Dämmerlicht der einbrechenden Nacht konnte Ellen nicht ausmachen, was es war, doch Arya schien genau danach gesucht zu haben. Mit ihrer freien Hand tastete sie das Ding – die Blonde vermutete einen großen Felsen – ab und tat schließlich ein paar Schritte nach links. Arya bahnte sich einen Weg durch etwas gestrüppartiges und zog Ellen vorsichtig hinter sich durch den Vorhang aus Pflanzen, der sie leicht im Gesicht kitzelte. Ein paar Blätter verfingen sich in ihren Haaren und ließen sie sofort ihren Kopf befühlen.
Ellen hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Der Boden unter ihr war nicht länger uneben und weich, sie trat auf Stein. Die Schritte hallten leise von irgendwelchen Wänden wider. An diesen Ort drang kein Sonnenlicht. Ihr kam der Gedanke, dass es vielleicht eine Falle gewesen könnte und Arya sie nun hier umbringen wollte. Doch das wolle sie nicht glauben. Das passte nicht in das Bild, das sie von ihr hatte. Du kennst sie doch gar nicht, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf. Sie hatte recht und das machte die Kleinere aus einem unerfindlichen Grund wütend.
»Schließ die Augen«, meinte Arya, kaum, dass sie sich weiter bewegt hatten.
Da war diese Stimme. Doch Ellen ignorierte sie, ließ die Lider zufallen und spürte gleich darauf zwei Arme um ihre Hüfte. Arya hatte sie schon mal so festgehalten, doch nun war sie bei vollem Bewusstsein. Ungewollt zuckte sie leicht zusammen, als die Fingerspitzen über ihre Taille strichen und ihren Körper leicht nach vorne drückten.
»Geh einfach gerade aus, ich sag dir Bescheid, wenn du wieder gucken darfst, okay?«
Ellen nickte, fügte noch ein „Okay“ hinzu, als ihr wieder in den Sinn kam, dass die andere sie ja nicht sehen konnte.
Dann setzten sie sich in Bewegung. Ihre Schritte wirkten laut und durchdringend in der vollkommen Stille. Keine Grillen und keine Vögel waren zu hören. Ellen nahm nur Aryas Hände wahr, wie sie federnd und leicht an ihrem Körper lagen und sie davor bewahrten, gegen eine Wand zu laufen.
Ellens ganzer Körper fühlte sich warm, beinahe heiß an. Sie hätte sich gerne die Haare zu einem Zopf gebunden, um die Luft an ihrem Nacken spüren zu können, aber sie hatte keinen Haargummi.
Als Arya stehen blieb, tanzten kleine weiße Punkte vor ihren Augen und ihr war ein wenig schwindelig. Die Größere war ganz nah an ihrem Hinterkopf, sie konnte ihren heißen Atem spüren, wie sie ihn gegen ihr Ohr blies.
»Du kannst jetzt die Augen öffnen.«
Ellen atmete noch ein mal tief durch, sog jede kleinste Wahrnehmung in sich auf. Plätschern, Surren, Arya. Dann schlug sie die Augen auf.
Der Anblick, der sich ihr nun bot, ließ sie alle Sorgen, alle Bedenken, alles, was sie in den letzten Stunden erfahren hatte, vergessen. Sie wurde völlig eingenommen von der Magie dieses Ortes.
Die Höhle, in der sie sich befand mündete in einem großen, rundlichen Hohlraum, der fast vollkommen von Moos und kleinen, rosa Blüten überwuchert war. Mitten zwischen der Blumenpracht schimmerte türkis ein kleiner Teich, über dessen Wasser hunderte, wenn nicht sogar tausende von Glühwürmchen schwirrten. Sie erleuchteten den kompletten Raum und tauchten alles in ein dämmriges, aber magisches Licht. Ja, magisch beschrieb das, was Ellen sah, wohl am besten.
Beinahe hätte sie mit offenem Mund gestarrt, sie konnte sich gerade noch zurückhalten.
»Ich habe diesen Ort vor ein paar Monaten gefunden«, murmelte Arya, meinte dann noch kleinlaut,»Mit Evelyn zusammen. Sie hat die Glühwürmchen geliebt.«
Die Brünette stand immer noch hinter ihr, sie spürte die Wärme ihres Körpers.
»Als sie begann, zu vergessen, habe ich sie hierher gebracht. Ich hatte gehofft, wenn sie etwas sah, was mit so vielen Erinnerungen bestückt war, dann würde sie sich erinnern. Dann würde sie vielleicht nicht..«
Sie hörte Arya schlucken.
»Es hat nicht funktioniert, oder?«, schlussfolgerte Ellen unsicher, da sie wusste, dass die Größere das Thema eigentlich nicht gerne besprach.
»Nein. Aber ich konnte es mir eigentlich denken. Doch ich musste es zumindest ausprobieren. Jedes kleine Bisschen, das wir über die Blaster herausfinden, kann uns helfen, sie zu bekämpfen und irgendwann, sie zu retten.«
»Denkst du, man kann einen schon verwandelten Blaster noch retten?«
Arya schüttelte den Kopf. »Ich befürchte nein. Na ja, wer weiß..«
Stille breitete sich über den beiden aus, wie ein schweres Tuch, luftundurchlässig und belastend. Trotzdem genoss Ellen die Stille, da es etwas Intimes, Einzigartiges hatte. Arya hatte ihr diesen Ort der Zuflucht gezeigt, obwohl es sie an Evelyn erinnerte und obwohl sie doch eigentlich nur eine Fremde war.
»Warum hast du mir diesen Ort gezeigt?«
Ihre Stimme zitterte leicht; sie konnte sich selbst nicht erklären, warum. Vielleicht, weil sie die Tatsache, dass Aryas Antwort sehr viel bedeuten würde, ziemlich nervös machte.
Während Arya Luft holte – sie spürte den Luftzug – begann sie, sich langsam umzudrehen. Ihre braunen Irden waren übersät von hellen Flecken und so dunkel und unendlich in dieser Höhle, dass Ellen befürchtete, zu versinken, wenn sie sich nicht schnell an etwas klammerte. Ihr Blick schweifte zu ihren Lippen, über die zarten Konturen ihrer Nase, wieder hoch zu ihren Augen.
Sie standen so dicht beieinander, dass ein leichter Windstoß ausgereicht hätte, dass sich ihre Lippen berührten. Arya hob den Arm, um eine lästige Strähne aus Ellens Gesicht zu streichen. Sie zuckte bei der Berührung nicht zurück, blickte konstant weiter in das tief dunkle Meer. Unmerklich, fast schleichend kamen sie einander näher und vermutlich hätten sie sich geküsst, hätte Ellen nicht unsicher den Blickkontakt unterbrochen und zur Seite gesehen. Sie spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss, nun, wo ihr bewusst wurde, wie nah sie Arya gewesen war.
Arya räusperte sich.
»Weil ich dir vertraue.«
Es war nur ein Wispern, doch Ellen verstand es klar und deutlich. Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
Am nächsten Morgen erwachte Ellen wenige Minuten, bevor Arya sie abholen kam, aus ihrem traumlosen Schlaf. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte sich um. Das Zelt war ockerfarben, wie sie jetzt im Dämmerlicht des Morgens feststellen konnte. Kühler Tau haftete an der Zeltwand und ließ sie erzittern, als sie über den Stoff strich. Arya hatte ihr gestern noch ein Jäckchen da gelassen.
»Morgens ist es immer ein bisschen frisch«, hatte sie gemeint.
Ellen schlüpfte in die Jacke und atmete mit einem leichten Lächeln den Duft der Besitzerin ein; unverkennbar Arya. Sie dachte an die Nacht zurück, die sie fast komplett in der Höhle verbracht hatten. Sie hatte sich an den Teich gesetzt, den Glühwürmchen fasziniert zugesehen, wie sie über dem Wasser schwebten. Sie hatten begonnen, sie zu zählen und dann kichernd aufgegeben, da sie immer wieder Grimassen schnitten, um die andere aus dem Konzept zu bringen.
Es war wundervoll gewesen. Die wohlige Wärme, die sie verspürt hatte, als sie einfach dagesessen und sich oder den moosigen Boden angeblickt hatten. In den paar Stunden, die sie Arya kannte, wurde sie ihr vertrauter, als andere Menschen, die sie schon jahrelang kannte.
Arya vermittelte ihr ein Gefühl, das sie zuvor noch nie gespürt hatte; sie konnte es weder definieren, noch deuten, aber vielleicht war das auch ganz gut so. Einfach risikofrei die Arme ausbreiten und sich fallen lassen, denn am Ende ihres Sturzes würde Arya da stehen und sie auffangen. Sie musste nicht darüber nachdenken, denn es fühlte sich richtig an.
Als Arya sie zum Essenszelt brachte, spürte Ellen das altbekannte Gefühl von Routine. Die Gespräche schienen vertraut und sie wusste, wo sie abbiegen musste, um zum Essenszelt zu gelangen.
Seltsam, wie man sich so schnell an etwas gewöhnen konnte..
Nach dem Essen half Ellen beim Abwaschen und Sauber machen. Es waren etwa vier Frauen dafür zuständig, die ihre Arbeit mit einer einzige fließenden Bewegung erledigten, als hätten sie nie etwas anderes getan. Sie kam sich seltsam störend vor, als würde sie diesen vertrauten Ablauf durcheinanderbringen und im Weg stehen.
»Wie lange bist du schon infiziert?«, hatten sie gefragt.
»Du wirst uns alle umbringen«, hatte ein blondes Mädchen gemeint und sie aus finsteren, grünen Augen angestiert. Sie erklärte Ellen für schuldig, bevor sie überhaupt etwas getan hatte.
Nicht zum ersten Mal überlegte sie, ob es nicht das Beste wäre, Arya jetzt sofort zu bitten, sie zu töten. Solange sie noch sie selbst war; solange sie noch niemanden getötet hatte.
Sie war erleichtert, als sie aus dem stickigen Zelt konnte. Sie ließ ihren Nacken kurz knacksen und hielt Ausschau nach einem bekannten Gesicht.
Irgendwann beschloss sie, Arya in ihrem Zelt zu suchen. Ellen kannte den Weg noch in etwa. Über die Wiese bis hin zu der trockenen Erde, nach links, links und- Sie hielt abrupt inne, als sie ein Geräusch vernahm, dass nicht in eine Welt, wie diese, passte. Vielleicht passte es auch und sie hatte nur eine seltsame Vorstellung der Erde, dennoch verwirrte es sie. Sie folgte dem Geräusch – einem Keuchen – und entdeckte schließlich, an einer Zeltwand lehnend, Kosta und Oliver. Kosta, der von Oliver an den Stoff gepresst wurde, Oliver, der schroff seine Hand zwischen den Beinen des Kleineren bewegte.
Ellen spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss und sie bereute es, nachgesehen zu haben. Sie versuchte, jegliche Gedanken – inklusive dazugehöriges Kopfkino – daran abzuschütteln und sich lieber Arya zu widmen.
Arya.. Sie würde davon nicht begeistert sein. Sie würde Kosta für seine Naivität kritisieren und er würde ihr vorwerfen, dass sie nicht das Recht hatte, zu urteilen.
Die beiden schienen sich gut zu verstehen, doch sie fühlte sich schuldig; als sei sie für ihre Streitereien verantwortlich. Nur, weil sie hier aufgetaucht war, diskutierten sie darüber, wie man mit ihr umgehen sollte. Es machte sie wütend. So verdammt wütend und das, ohne einen Grund dafür zu haben. Unbewusst knirschte sie mit den Zähnen, spannte ihre Muskeln an. Es kribbelte in den Sehnen und für einen Moment wurde ihr heiß.
Sie versuchte, tief durchzuatmen, sie schloss die Augen.
Ein...
...und aus...
Ein...
...und aus...
Dann – puff! - verschwand die Wut und zurück blieb nur ein unbehagliches Gefühl.
Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass sie dieser Zorn übermannte. Ihre Fingerspitzen zuckten gefährlich und sie hatte Angst; Angst vor sich selbst, Angst davor, jemanden etwas antun zu wollen.
Arya lief vor ihr, sie lächelte.
»Beeil dich, Ellen!«, rief sie,»Die anderen haben Hunger!«
Die anderen. Ja, die anderen. Die nicht Infizierten. Die, die ihr Leben leben konnten, ohne Angst haben zu müssen, zu einem Killer zu werden. Die anderen.
Sie streiften durch den Wald. Die Zweige knacksten unter ihren Füßen und der Rückwind ließ sie noch schneller über den Boden gleiten, als Ellen abrupt anhielt.
Da war sie wieder. Diese Wut. Woher nahmen sich die anderen das Recht, einfach so zu leben?! Warum sah man auf sie herab? Was hatte sie ihnen getan? Diese Menschen waren so egoistisch! So verdammt egoistisch! Sie würde.. Sie würde am liebsten...- Eine kleine Stimme in ihr schrie; sie durfte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Sie- Diese Menschen.. Die anderen. Sie verletzten Ellen ohne Grund. Sie hielten sie für eine Mörderin, hn? Sie hatte das dringende Bedürfnis, es ihnen unter die Nase zu reiben. Einen von ihnen zu zerfetzen und mit blutigen Fingern mit einem Arm vor ihnen rumzuwedeln. Ihr habt es so gewollt, dachte sie.
Es brodelte in ihr. Sie ballte die Hände zu einer Faust, so fest, dass es schmerzte. Ihre Fingernägel bohrten sich in die blasse Haut, sie spürte warm das Blut heraustreten. Ihr Atem ging schwer, als sei sie gerannt; viel zu lange, als dass ihr schwacher Körper dem standhalten könnte.
Unweigerlich dachte sie daran, wie sehr diese Finger anderen Schmerz zufügen könnten. Arya- Sie würde mit der Fingerspitze über ihren Kiefer fahren, die zarte Haut unter ihrer Hand spüren, wenn sie zudrückte. Und was für Laute Arya dann von sich geben würde. Gequält, schmerzverzerrt. Sie würde nach Luft schnappen. Ihre Venen würden sich pochend von ihrer Kehle abheben, gerade zu danach schreien, berührt zu werden. Ellen wollte diesen Ausdruck in Aryas Augen sehen; den der puren Angst, Verzweiflung. Sie wollte sie brechen. Das Knacksen von Knochen vernehmen. Melodisch, wie der Gesang eines Vogels. Sie würde jeden Zentimeter ihres Körpers erkunden und die Gelenke brechen, bis sie nur noch ein Haufen aus unbeweglichen Trümmern war. Und dann würde sie fortfahren; ihre reine Haut aufschlitzen. Stück für Stück. Beobachten, wie das Blut aus den Wunden perlt und dann die Unebenheiten ihres Körpers entlang fließt.
Ellen keuchte schwer. Ihre Gedanken spannten sich weiter, sie konnte nichts dagegen tun. Sie war Gefangene ihrer Fantasien. Sie nahm ihre Umwelt kaum noch war. Helle Punkte tanzten vor ihren Augen.
Schwarz.
Undurchdringliches Schwarz.
Ihr Kopf dröhnte.
Stimmen.
So viele Stimmen.
Sie wollte sie zum Verstummen bringen.
Streckte blind die Hand aus.
Griff ins Nichts.
Nichts.
Nichts.
Und wieder Nichts.
Wo war sie?
Ihr Name ertönte.
Ellen..
Ellen...!
Erkannte die Stimme.
Ihr Brustkorb drückte schmerzhaft und sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
Rang nach Luft.
»Ellen.«
Da war er schon wieder; ihr Name.
Eine unbändige Welle des Selbsthasses überkam sie. Sie, Ellen, wollte töten. Sie wollte einem Menschen das Kostbarste, das er besaß, nehmen. Sie; Ellen. War sie überhaupt diese Ellen?
»Wach auf!«
Sie war doch wach, was wollte die Stimme?
»Ellen!«
Sie öffnete die Augen. Es blitzte. Sofort schloss sie sie wieder. Spürte den unebenen Boden unter ihrem Körper. Die raue Erde unter ihrer Handfläche. Die warme Hand an ihrer Wange. Langsam lichteten sich ihre Gedanken. Sie erinnerte sich an das, was geschehen war. An die unendliche Dunkelheit und die Angst kehrte zurück. Sie hatte Arya töten wollen, schoss es ihr durch den Kopf. Immer wieder dieser eine Satz. Ihre Gedanken wiederholten sich. Wie ein Echo. „Sie würde mit der Fingerspitze über ihren Kiefer fahren, die zarte Haut unter ihrer Hand spüren, wenn sie zudrückte.“ Sie wollte es so sehr, doch etwas hielt sie auf. Sie fühlte sich schwach, ausgelaugt und dennoch tobte in ihr ein Sturm.
»Ellen!«
Wieder versuchte sie, ihre Lider zu heben. Sie sah Arya, wie ihr ein paar verschwitzte Strähnen an der Stirn klebten. Zu gerne hätte sie die Hand ausgestreckt und sie ihr hinters Ohr gestrichen. Hätte ihre zarte von Kratzern übersäte Haut gespürt, um zu wissen, dass alles gut war. Dass sie da war, lebte, dass Ellen sie nicht töten wollte.
Sie wollte ihren Namen sagen, doch ihre Kehle brannte. Hatte sie geschrien?
»Gott, zum Glück geht es dir gut!«
Aryas Stimme war brüchig. Es tat gut, sie zu hören; sie war da.
Ellen schossen so viele Sätze durch den Kopf, die sie ihr sagen wollte. Was ist passiert?, oder, Habe ich dich angegriffen?, oder vieles mehr. Doch sie fürchtete sich; vor sich selbst, vor den Konsequenzen, davor, was sie tun könnte. Sie hatte kaum darüber nachgedacht, da hörte sie schon ihre krächzende Stimme.
»Bitte bring mich um..«
Es war nur ein Wispern. Arya zog die Augenbrauen zusammen, das sah sie. Sie hatte sie nicht verstanden.
»Bring mich um«, wiederholte sie,»Arya.«
Ungläubig weiteten sich ihre Augen.
»Nein!«, stieß sie aus.
»Nein! Du weißt, ich kann das nicht! Oh Gott, Ellen, das willst du nicht, wir kriegen das noch hin!«
Ellen hörte, wie ihre Stimme immer hysterischer wurde, immer höher. Sie hatte fast vollkommen ihre angenehme Tiefe verloren, war nur noch ein ersticktes Flehen.
»Du hast es mir versprochen«, röchelte Ellen.
Auf ein mal war ihr kalt. Sie hätte am liebsten ihre Gliedmaßen angezogen, einen Schutzwall errichtet, doch sie war zu erschöpft.
»Scheiße!«
Arya sprang auf. Sie sah, wie sie ihre Hände knetete, ihr Blick fiel auf die blutige Stelle an ihrem Unterarm; ein Biss.
»Das war ich, oder?«, sprach sie ihren Gedanken aus.
Ertappt senkte sie den Kopf.
»Das ist nichts, das war bei Evelyn auch so, ich meine, es ist klar, das Virus-«
Ich habe sie verletzt, schoss es ihr durch den Kopf. Das war meine Schuld.
»Und wie lange hat es gedauert, bis sie sich danach vollkommen verwandelt hat?«
»Das hat doch nichts damit zu tun! Ellen, ich kann dich nicht umbringen! Ich will nicht noch jemanden verlieren!«
Ihre Stimme klang nicht mehr so quietschend, eher brüchig, als würde sie jeden Moment nachgeben und Arya stumm zurücklassen. So, wie Ellen es tun müsste...
In ihrem Kopf spukte dieser eine Gedanke. Die Sache, vor der sie so Angst gehabt hatte: sie hatte sie verletzt. Ob sie es wollte, oder nicht. Es war eine Tatsache. Ernüchternd und doch so real, so nah, so greifbar.
Ihre Brust drückte schmerzhaft, als sie sah, wie verzweifelt Arya war. Ihre Stirn hatte sich in eine faltige Landschaft verwandelt, ihre Augen glänzten wässrig im Licht der Sonne, das durch das Dickicht brach. Sich mühsam einen Weg durch die Äste bahnte, nur, um ihre Augen erstrahlen zu lassen. Um Ellen diesen wunderschönen Anblick zu geben. Sie konnte sich nicht vorstellen, je so einen schönen Menschen gesehen zu haben, wie Arya es war. Die Wunden an ihren Wangen schimmerten frisch. Wie kleine Perlen haftete das Blut an den Striemen, sie waren getrocknet. Doch es war unverkennbar Ellens Werk. Sie würde ihre Schönheit vernichten, würde sie am Leben bleiben. Sie würde den Menschen ihre Führerin nehmen, die Hoffnung und Kosta seine einzige Familie. Wenn sie weiter leben würde.. Sie würde sich verwandeln. Sie würde es nicht aufhalten können, außer Arya tötete sie. Oder sie brachte sich selbst um.
»Bitte Arya, gib mir deine Waffe.«
Ellen meinte die Waffe, die Arya stets unter dem Stoff ihrer Hose versteckt hielt. Es war ein Revolver, mit dessen Schuss sie und damit die Gefahr binnen weniger Augenblicke vernichtet werden könnte.
Arya sackte in sich zusammen. Ihre Füße gaben nach und ihre Körper fiel schlaff auf den Boden, nur wenige Zentimeter vor Ellen. Mit einem Schlag war der Schmerz verpufft. Sie schleppte sich zu Aryas eingesunkenen, bebenden Körper. Schlang ihre Arme um sie. Spürte ihre Wärme, ihr pochendes Herz. Spürte, dass sie lebendig war - noch.
Ellen hatte ihren Kopf auf Aryas gelegt, sie atmete ihren Duft ein. Ihre Augen brannten schmerzhaft, als sie gedämpft ihr Schluchzen vernahm. Herzzerreißend und so echt. Alles an dieser Situation war so beschissen echt.
»Ich will dich nicht noch mehr verletzen«, stammelte Ellen.
Doch nichts, was sie jetzt noch hätte sagen können, hätte den unbändigen Schmerz in Arya verebben lassen können.
Mühselig rührte sich Arya. Ellen sah nicht, was sie tat. Sie hielt sie weiterhin fest umschlungen, hatte nicht vor, sie loszulassen.
Dann spürte sie das Metall an ihrem Kopf. Hörte das Klacken der Sicherung.
»Es tut mir so leid, Ellen«, wimmerte Arya.
Die sonst so starke, taffe Soldatin war verschwunden. Zurück blieb das, was sie war; zerbrechlich, zwar stark, aber geprägt. Viel zu früh erwachsen geworden.
»Ich war so kurz davor, dich zu lieben.«
Ein lauter Knall ertönte.
Dann war es vorbei.