- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Wasserwelten
Wasserwelten
Niedrigwasser. Die ersten Jogger nutzten die Gunst der Stunde, um noch vor Arbeitsbeginn ihren Kreislauf auf Trab zu bringen. Es war kurz nach Sonnenaufgang. Ideale Bedingungen, leichte Brise. Sie liefen im Watt oder auf dem Deich, täglich, je nach Tide. Möwenkreischen. Hin und wieder trug der Wind entfernte Geräusche herüber; das Tuten von Ozeanriesen, das Schrillen des Arbeitsbeginns einer Werft vom anderen Ufer. Keine Besonderheiten. Tägliches Leben an diesem Ort.
Doch plötzlich: Einer der Jogger stockte, lief ein Stück querab Richtung See auf einen roten Gegenstand zu.
Eva geht hinaus ins Watt, bekleidet mit Badeanzug und rotem T-Shirt, Muscheln sammeln.
Patsch, patsch, Erleben des Meeresbodens mit den Fußsohlen. Spüren des wellenartigen Watts. Kleine Krebse huschen bis zum nächsten Versteck, Wattwürmer befördern spaghettiförmigen Sand an die Oberfläche. Kleine Rinnsale tragen unermüdlich Wasser in größere, suchen sich ihren unergründlichen Weg, kurvenreich, verzweigt. Dort eine Muschelbank. Weiß, rosa, gelb, geriffelt, groß und klein, dicht an dicht.
Der Wind brist auf. Schrilles Kreischen der Austernfischer, die schwarz-weiß-rot paarweise ihre Runden drehen. Aus den Rinnsalen werden Flüsse, die sich rasant ansteigend ausbreiten. Sie schwellen an, ergießen sich, treffen auf andere, bedecken den Boden des Meeres ohne ihren Sog zu verlieren, reißen alles mit, was sich ihnen in den Weg stellt. Sturm aus Nordwest. Gellende Schreie, ungehört. Kein Land in Sicht. Peitschende Gischt im Wellenrhythmus.
Blicke aufs Meer, Stemmen gegen den Sturm. Blitzartig durchzuckt es einen der Betrachter:
„Schreie?“ Kurz darauf weiße Möwen vor schwarzen Wolken, laut kreischend.
Ich verlangte nach meiner Mutter und meinem Vater und ich fand die Nacht und das Meer
Kalil Ghibran