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Wassertropfen

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30.08.2003
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Wassertropfen

Wassertropfen sind wie Menschen.

Die meisten von ihnen schwimmen in einem großen Meer, anonym unter Milliarden, ohne Einfluss auf auch nur die geringsten Dinge. Diese Wassertropfen sind stolz; ständig versichern sie einander im Brustton der Überzeugung, warum sie sich ausgerechnet diesen Ozean ausgesucht hätten - aber dabei sind sie nur durch eine Laune des Schicksals an eben dieser Stelle vom Himmel gefallen.

Tagsüber, wenn die Sonne scheint und eine leichte Brise weht, kann man die Wassertropfen an der Oberfläche jauchzen hören: “Wir leben!”, rufen sie, “Wir sind stark, wir bestimmen unser Leben und gehen, wohin wir wollen!”, und genießen den frischen Wind, der ihnen um den Kopf weht - während sie gerade von einer Welle auf die Klippen geworfen werden, wo sie innerhalb weniger Sekunden verdunsten.
Und auch wenn die Sonne untergegangen ist, wenn Wolken am Himmel aufziehen, flüstern die Wassertropfen noch miteinander, denn vor der Dunkelheit fürchten sie sich. “Wir sind viele”, hört man sie murmeln, “Wir haben zusammen Kraft, wir brauchen uns vor nichts zu fürchten! Ihr seht ja, was für große Wellen wir verursachen...!”
Der Mond blinzelt dem Wind zu, und beide lächeln in stummem Einverständnis.

Aber natürlich gibt es nicht nur an der Oberfläche des Meers Wassertropfen: Weit unten, in der Tiefsee, wo stets ein diffuses Dunkel herrscht, wo sich kaum ein Sonnenstrahl hinverirrt, dort befinden sich ebenfalls Wassertropfen.
Ihre Bewegungen sind weniger hektisch, sie werden nicht von unsichtbaren Fäden gelenkt, sondern bestimmen über sich selber. Und so kommt es, dass sie im Laufe der Zeit etwas entwickelt haben, was sie das “Kreisdenken” nennen: Ständig im sanften Fließen und Wirbeln begriffen, zeichnen die Wassertropfen komplizierte Muster in den Sand am Meeresgrund und raunen dabei vor sich hin.
Zunächst mag es dem Beobachter vielleicht wie zusammenhanglose Gesprächsfetzen vorkommen, doch wer genau hinhört, dem offenbart sich eine äonenlange Diskussion über das Leben.
Nun, da die Wassertropfen schon seit Ewigkeiten am Grund des Ozeans leben, müssen ihre Dispute früher oder später natürlich zwangsläufig in eine Sackgasse geraten - denn was wissen sie eigentlich schon davon, wie das Leben außerhalb ihrer uralten, finsteren Umgebung aussieht? Können sie dann überhaupt über das Leben an sich diskutieren, wenn sie es nur von einer Seite kennen?
Die meisten Wassertropfen ziehen es vor, mit einem “Ja, hm, das sind so die Probleme...” seufzend ihre Kreise weiterzumalen, wenn einmal eine solche Frage aufkommt.

Aber eines Tages geschah es, dass sich einige der jüngeren Wassertropfen, die erst seit wenigen Jahrhunderten kreisdachten, sich einig wurden, es müsse etwas unternommen werden. So beschlossen sie, das Aufsteigen an die Oberfläche zu wagen.
Viele rieten ihnen von ihrem Vorhaben ab, doch sie wollten es nicht hören, zu verlockend schien ihnen der Gedanke an all die Abenteuer, die sie dort oben wohl erleben würden...
Gesagt, getan. Die Wassertropfen begannen ihren Aufstieg, zunächst langsam, dann immer schneller. Als sie schließlich an die Oberfläche kamen, erblickten sie die rote Sonne, die wie sie selber gerade aus dem Meer aufgetaucht zu sein schien.
“Bitte, kannst du uns etwas über das Leben erzählen?”, riefen sie ihr zu. Die Sonne lächelte und erwiderte: “Natürlich kann ich das - denn ich bin das Leben! Leben ist Vielfalt, ist Freiheit... So ihr denn wollt, werde ich euch mitnehmen und euch zeigen, was es heißt, am Leben zu sein.”
“Ja, bitte!”, begeisterten sich die Wassertropfen und wirbelten erregt durcheinander.
Und so kam es, dass die Wassertropfen von der Sonne umarmt wurden und auf einmal fühlten, wie sie schwebten. Unter sich erblickten sie Dinge von einer nie gesehenen Herrlichkeit: Grüne Landmassen, auf denen unzählige Lebewesen verschiedensten Aussehens wuselten; sie spürten berauschende Hitze; hatten die lieblichen Gesänge der Vögel in den Ohren... “Warum haben wir bloß so lange am dunklen Meersgrund verbracht?”, wunderten sie sich gerade, als einer von ihnen plötzlich schrie: “Hey! Hilfe! Was ist mit mir geschehen??? Ich löse mich auf...” Seine Stimme wurde immer leiser und leiser, aber das fiel den anderen gar nicht auf, denn auch sie bemerkten bei sich das Gleiche...
... und schon war nichts mehr zu sehen als die gleißende Sonne, die am Himmel stand und zusah, wie die Wellen auf die Felsen gespült wurden, als sei nichts geschehen.

 

@ tagträumer:

Danke für die liebe Kritik, werd das Ganze in den nächsten Tagen noch mal ein bisschen verändern!
Bis denne, wölfin

 

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