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Wasserrot
Wasserrot
Es ist einer der ersten wärmeren Tage im Juni, aber hier oben in den Vogesen ist es nachts noch kühl. Am Tage wechseln Sonne und etwas Regen. Vier mutige Männer haben sich zusammengefunden. Wir hausen, etwas abgelegen, in einem ehemaligen Kurhaus. Verlassene Nebengebäude, in denen sich Künstler niedergelassen haben. Am Bach liegt ein verwilderter Garten, und die Pfade bachabwärts sind wenig begangen. Zwei Frauen leiten uns an, und wir wollen mit Körperfarben experimentieren; bunt und wild soll es sein. Als Gegenpol und Ergänzung zur Farbe soll sich die innere Körperwärme am Tantra entfachen. Ich vermisse zwar den Reiz des anderen Geschlechts, fühle mich aber in der Männerrunde durchaus wohl.
Der erste Abend dient der Annäherung und Eingewöhnung; wir lernen uns kennen. Wir wissen wenig bis nichts voneinander, doch die gemeinsame Anonymität der Vornamen beruhigt, sich einzulassen auf Nicht-Alltägliches. Dem einen fällt es leichter, dem anderen weniger. Frauen beruhigen, Männer kichern vielleicht innerlich. Was soll’s: Ich habe dieses kleine Abenteuer gebucht und will es jetzt. Das Essen ist sehr schmackhaft, die Einzelzimmer im großen Haus wie in Omas Dachkämmerchen; große Duschen sind im Keller.
Wir sind „anderswo“ und lassen uns darauf ein. Frühstück in fröhlicher, auf das Neue gespannter Runde. Langsam und bedächtig geht es los. Wir bedenken unsere Lieblingsfarben, unsere Vorlieben für bestimmte Sinneseindrücke, für Tiere, die wir „sein“ wollen. Wir bedenken, was wir wollen und warum wir das wollen. Die ersten Entwürfe entstehen auf dem Papier, werden besprochen, verändert, nehmen langsam Form und Farbe an. Entspannende Übungen lockern innere und äußere Blockaden. – Die Umgebung wird erkundet. Wo ist „mein Ort“ in dieser kleinen, aber reich gegliederten Landschaft von Bach, Wiese, Wald, Weg mit Wasserlauf, überhängenden Tannen, verwunschenen Ecken und wo weiter? Ich habe keine Probleme damit, auch aus meiner Kleidung herauszuschlüpfen, um die gewählten Orte hautnah zu erleben.
Und wieder arbeiten wir an unseren Entwürfen, manche ent- und verwerfen bis in die späten Abendstunden hinein. Es ist erstaunlich, wie vielfältig die Wünsche und Vorstellungen sind. Da wir nur eine Haut zum Einfärben haben, soll es offenbar die absolut richtige Fassung sein. In unseren Wünschen und in den Phantasien bleiben wir frei und werden behutsam weitergeführt.
Der nächste Morgen erlebt uns früh, sehr früh. Es soll ein langer Tag werden. Im Ofen ist eingeheizt, die Farben sind hergerichtet, die Reihenfolge und die Zusammenarbeit sind schnell geklärt. Ich glaube, wir sind alle recht aufgeregt, als es losgehen soll. Mit dem letzten Kleidungsstück ist auch die Scheu vor dem Ungewohnten verschwunden und wir stürzen uns mit Elan in die Aufgaben. Die Farbe wird mit Schwämmchen getupft: langwierig und mühsam, aber haltbar und deckend. Wir helfen uns gegenseitig in der groben Linienführung; Feinheiten übernimmt die Meisterin, die wir jetzt bewundern lernen. Was oberflächlich erst wie Gaudi anmutet, entpuppt sich als angewandte Kunst, der wir mit unserer Haut die Unterlage anbieten. Es macht unglaublich Spaß, ist auch ein durchaus sinnliches Erlebnis, und die Zeit vergeht im Flug. Stärkung in Form von lecker belegten Broten und Salaten wird gebracht. Getrunken wird, soweit bereits eingefärbt, mit dem Strohhalm.
Wir sind vier Malgründe; vier völlig verschiedene „Gründe“ tun sich auf. Das ist für mich das Aufregendste in diesem Prozess, wie jeder schrittweise in seine neue Haut schlüpft, langsam mit ihr eins wird, aber doch auf sehr verschiedene Weise. - Der „Feuermann“, mit dem ich mich zusammengetan habe und wie ich im etwas fortgeschrittenen Alter mit eher gerundeten Proportionen, erscheint für mich im Gesicht mit den vertrauten, warmen Augen, aber jetzt hinter einer Maske, die umheimlich stark wirkt und aus ihrer Tiefe gewaltige Kräfte ausstrahlt. Gelblicher Grund, von den Füßen her über die Beine mit kraftvoll züngelnden Flammen; ein schmales, rot- und weißgegründetes Ornament an den Oberarmen, in der Taille und im Gesicht. - Der „Uhu“, ein schlanker, junger Mann, schwebt mit seinem Körper gleichsam in sein luftig gewähltes Tannengrün hinein und erhebt daraus sein strahlenförmiges, brauntöniges Uhu-Gesicht, das Ruhe und Besonnenheit, ja geradezu Weisheit ausstrahlt. Er hat eine Gestalt gefunden, in der er sich dynamisch bewegt und ruhig flatternd regt. – Die „Schlange“ hat sich eine Oberfläche aufgezwängt, die alles zudeckt: dicke, stark deckende Farbe in kräftigem Blau, ein aggressives Zickzackmuster, ein züngelndes Gesicht. Er windet sich, ist Schlange, und fordert ständig auch entsprechende Beachtung. Mir scheint es, als ob er die Form seines wahren Ich gefunden hat, die mich hier zwar beeindruckt, aber eher abweist und fast erschreckt. Diese Masken stellen zugleich unglaublich bloß.
Ich selbst sehe an den anderen Masken, wie die Menschen darunter leben, wie sie in ihnen leben, in sie hineinschlüpfen. Der Entstehungsprozess ist mindestens so spannend wie das Ergebnis, dem wir uns langsam nähern. Die Modellzeichnungen dienen als Vorlage, aber im Schaffensprozess ändert sich noch manches. Ich habe Wasser gesucht und den Delphin, aber beides ist mir zu kalt. Also wähle ich ein warmes Grün und einen breiten, roten Streifen, der sich über den Körper zieht, von den Füßen herauf, über Beine, Schenkel, Po, Bauch und Brust und am Hals, unter dem Gesicht, gewaltig endet und strahlend aufscheint bis zu den eingegeelten, rötlich eingefärbten Haarspitzen. Heute würde ich die Figur „Wasser-Rot“ nennen; warum, weiß ich nicht. Der Name flog mir nachträglich zu. Ich erlebe, wie ich mich zunehmend eins fühle mit meiner neuen Haut, weder unter der Farbe stecke, noch mich darunter verstecke, sondern einfach meine richtige Farbe gefunden habe, die sich auf bzw. in der Haut entwickelt. Es ist ein sehr gutes Gefühl, das dabei entsteht. Bei dieser Linienführung wollte ich mein Geschlechtsteil nicht aussparen, auch nicht verstecken, sondern mit einbinden. Die breite, rote Linie, in sich gegliedert, betont das Geschlecht nicht als körperliche Mitte, übergeht sie aber auch nicht als etwas, dessen man sich schämen müsste. Die anderen übernehmen diese Idee, und uns alle verbindet eine kräftig rote Geschlechtsmarkierung.
Nach vielen Stunden, es ist inzwischen Nachmittag und die Augen gehen zuweilen zweifelnd zum immer wieder verregneten Himmel hinauf, sind wir so weit, dass wir uns ans Fotografieren wagen wollen. Der Auszug in die Natur ist wie ein kleines Fest. Auf dem Weg – inzwischen reißt die Sonne Löcher in die Wolken und schafft ein wunderbares, weiches Licht – finden wir unsere Plätze und nehmen sie in buntem Besitz. Wir begleiten uns gegenseitig, finden in Gruppen und Formen zueinander, spielen vergnügt und vergessen dabei fast, dass Berührung die Farbe mindert, das nasse Gras die Fußsohlen entfärbt, eine etwas unbedachte Bewegung die weiße Haut durchbrechen lassen könnte. Zwischendurch stellen wir uns an den Bäumen unter, turnen über eine Brücke, bevölkern Steine im Bach, finden die Kuhle am Ufer, räkeln und strecken uns: der Uhu im Baum, die Schlange im Kampf, der Feuermann kraftvoll auf Steinen im Bach. Als es auf die Rücksicht gegenüber den Farben nicht mehr so ankommt, schwingen wir uns angereiht auf einen faulenden Baumstamm, kuscheln im Moos, und zuletzt ränkeln wir uns im Knäuel mit unseren beiden Frauen auf der Betonplatte vor dem Haus.
Die Rückkehr braucht Zeit, wir wollen aus dieser Haut, die uns Heimat wurde, nicht schlüpfen. Auf der Terrasse finden wir uns zum leckeren Abendessen zusammen. Nackt? Das spielt schon lange keine Rolle mehr. – Später helfen wir uns gegenseitig unter der Dusche. Jetzt, wo sie runter soll, die Farbe, merken wir, wie gut sie haftet. Merkwürdig zu sehen, wie langsam alles von uns abfließt und darunter das versteckte, alltägliche Weiß wieder dominiert. Gegen Kleidung wehre ich mich noch, und eine gegenseitige Ölmassage tut Körper und Seele gut.
Der vierte Tag – waren wir wirklich so lange zusammen? Unheimlich schnell verflog die Zeit – findet uns nach dem Frühstück bei Ritualen der Ruhe und des Abschieds. Ich fahre langsam, sehr langsam, durch die Vogesen in Richtung Heimat. Erst über ein halbes Jahr später versuche ich, das Erlebte in Worte zu fassen.