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Wasser bis zum Hals
Im Jahr 2143 war der Meeresspiegel so weit gestiegen, dass sich die Menschheit in wenige Städte von der Größe ganzer Länder zurückgezogen hatte. Die sogenannten Megacitys entstanden und wurden vor den Wassermassen durch riesige Dämme geschützt.
Richards Arbeit war keine Freude an dem Tag, als der äußerste Schutzwall von Megacity 13 durch die Wassermassen einzubrechen drohte. Richards Aufgabe bestand darin zu verhindern, dass Unbefugte ohne Zugangsberechtigung über den zweiten Schutzwall gelangten.
Megacity 13 bestand aus sechs Zonen bis zum innersten Kreis. Jede Zone grenzte sich dabei durch einen eigenen Wall von den anderen Zonen ab wobei in der äußersten Zone überwiegend Flüchtlinge lebten, die über das Meer gekommen waren, keine Befugnis für die inneren Zonen besaßen und für die Öffnung der Tore demonstrierten.
Richard hob sein Gewehr hoch und zielte auf einen Mann, der mit Saugnäpfen den Wall hinauf kletterte. Er hatte bereits die Hälfte des hundertdreißig Meter hohen Walls erreicht. Richard hatte gehofft nicht eingreifen zu müssen, da diese Kletterer nach wenigen Metern oft wieder herunterfielen, aber dieser war hartnäckig. Die Masse unter ihm jubelte dem Kletterer zu. Als er schoss, donnerte es und über dem Kletterer schlug ein Schuss ein. Dieser duckte sich nur und kletterte unbeeindruckt weiter.
Richard zielte ein weiteres Mal und schoss diesmal auf die Saugnäpfe. Er erwischte den Mann mit einem Streifschuss an der Hand und dieser fiel hinunter in die Menge, die ihn auffing. Hubschrauber erschienen am Himmel die Versorgungspakete herunter ließen und die Menge war vorerst beschäftigt. Ein halbes Jahr hatte Richard diese Arbeit verrichtet ohne einen Vorfall und gerade an diesem Tag musste so etwas passieren. An seinem hoffentlich letzten Tag in Megacity 13.
Er nahm den Anruf über den Video Bildschirm entgegen, der seit ein paar Minuten in Warteschleife gesetzt war. Es war wichtig, dass er nicht suspendiert wurde, um die Nachtschicht beim Abwasserbecken antreten zu können. Das war ein wichtiger Bestandteil des Plans.
Auf dem Display erschien ein dünner, bärtiger Mann in Uniform mit einer Mütze des Militärs auf dem Kopf. Der fliegende glorreiche Adler mit den gespreizten Flügeln als Zeichen der Stärke und einer positiven Zukunft.
„Sir ich ...“
„Was denken sie sich eigentlich, was sie da oben machen? Die Zone bleibt bis auf Weiteres geschlossen und sie pennen, wenn da irgendwelche Unregistrierten den zweiten Damm hinauf klettern bei dieser angespannten Situation zurzeit. Wenn wir nicht die Regeln und die Befehlskette aufrechterhalten, bricht das totale Chaos aus. Der Versuch die Zonen unbefugt zu überqueren wird mit sofortiger Exekution bestraft, haben wir uns verstanden?“
„Ja Sir.“
„Wir brauchen hier draußen Männer die handeln und unsere Stadt schützen. Wenn sie sich dazu nicht in der Lage sehen, bitte ich darum, den Posten für jemand freizumachen der das kann.“
„Ich hatte die Situation unter Kontrolle. Ich akzeptiere meine Befehle, aber heute jemanden der Demonstranten zu erschießen, hätte
alles schlimmer gemacht. Ich kenne die Anordnungen, aber mir erschien die Menge heute sehr angespannt. Ein Toter hätte die Stimmung nicht verbessert.“
„Hören sie, wir sind alle angespannt und haben außerdem zu wenig Personal. Meinen sie die Leute in den inneren Zonen interessiert was hier draußen passiert? Nein. Aber das sind nun mal meine Vorgesetzten und ich werde mich dafür verantworten müssen. Die ganzen Aufnahmen gehen jetzt schon durch die Nachrichten. Wenn wir nicht durch greifen, werden die automatischen Waffensysteme eingesetzt. Dann ist Zone 1 offiziell aufgegeben. Sie brauchen sich hier nicht als Wohltäter zu verkaufen.“
„Sir ich übernehme die volle Verantwortung.“
„Geschenkt. Wenn das nächste mal irgendein Held auf die Idee kommt, den Wall zu besteigen greifen sie früher durch. Sobald irgendjemand nur den Ansatz macht zu klettern, werden sie dazwischen gehen mit allen Mitteln die ihnen zur Verfügung stehen. In diesem Fall wäre eine Degradierung ihrer Position als Schichtleiter noch die mindeste Bestrafung.“
„Sir. Ich brauche die heutige Schicht und den Zuschlag. Meine Frau ist krank. Bitte Sir.“
„Es ist ihr Glückstag, dass wir Personalmangel haben, aber ich verwarne sie hiermit. Beim nächsten Vorfall kommen sie zu den Straßeneinheiten.“
„Danke Sir.“
Richard hatte es geschafft. Das war wichtig gewesen. Keine Suspendierung von der Nachtschicht. Nach der Arbeit zog er sich im Personalraum um. Auf dem Parkplatz im achtzigsten Stock stieg er in sein Flugauto und bewegte den Wagen über die zweite Zone in Richtung der Wohnblöcke für Angestellte der Behörden. Als Wachturmschütze besaß Richard eine Wohnung mit seiner Frau in der dritten Zone.
Die Rede des neuen Präsidenten lief gerade im Radio. Seit der steigenden Überbevölkerung hatte der rechte Flügel stark an Macht gewonnen in der Politik. Der neue Präsident vertrat insbesondere Interessen die inneren Zonen und deren Wohlstand.
„….deswegen haben wir gestern zehn Unregistrierte exekutiert, die unbefugt ihre Zonen verlassen haben, damit die Leute endlich verstehen, dass wir unsere Bewohner schützen müssen. Die Zonen müssen eingehalten werden, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Wer genauso ohne Bewilligung ein Kind zeugt, unterschreibt dessen Todesurteil. Sind wir nicht damals ausgelacht worden als unsere großen Vorfahren diesen enormen Wall errichtet haben, um uns zu schützen? Als wir die Geburtenkontrolle einführen mussten? Nun brechen alle anderen Riesenstädte ein und sie kommen zu unserer glorreichen Megacity 13, dem Ort, wo brave Bürger in Voraussicht ihren Dienst geleistet haben, um der Menschheit beim Überleben zu helfen.
Die Flüchtlinge in Zone 1 haben unser vollstes Mitgefühl, aber wir müssen die Bewohner der inneren Zonen schützen. Wir wissen nicht, wer von dort draußen hier rein will. Anschläge können passieren, Krankheiten können sich ausbreiten, wir dürfen nicht dem Chaos verfallen. Wir müssen standhaft bleiben. In den inneren Zonen arbeiten die Wissenschaftler noch immer daran eine Rakete zum Mars zu schicken. Diese Hoffnung haben wir nicht aufgegeben.
Bis dahin brauchen die Menschen mehr denn je eine Führung und Ordnung der Gesetze an die sie sich halten können. Dafür bin ich gewählt worden und das werden wir durchsetzen, um die Überbevölkerung zu dezimieren. Bis zu Zone 4 werden die Geburten ab jetzt gestoppt. Jeder, der einem Unregistrierten hilft oder ein unregistriertes Kind zur Welt bringt, unterschreibt dessen Todesurteil. Ich habe selber Familie und ...“.
Richard schaltete das Radio ab. Die riesigen Wohnblöcke standen dicht an dicht. Die Wohnungen darin waren Tausende, gleiche rechteckige Räume ausgestattet mit Betten, einer Strahlsanddusche, einer ausfahrbaren Toilette, einem 3-D Bildschirm und einer Kochnische mit Zugang zu drei Litern synthetischem Wasser mit einer Mikrowelle für die Erhitzung der Ernährungspräparate.
Richard parkte den Wagen im Parkhaus auf seiner Etage und ging über den langen röhrenförmigen Gang zu seinem Appartement. Er lauschte an der Tür. Es war nichts zu hören. Er öffnete sie und ging hinein.
Susanna lag auf dem auf der Seite und wachte auf als Richard das Zimmer betrat. Sie drehte den Kopf zur Seite und der kleine Kopf des Babys schaute aus der Decke hervor. Er küsste sie und dann das Baby.
„Heute ist es so weit Schatz. Der letzte Tag, an dem wir in dieser Stadt leben müssen.“
„Ich bin eingeschlafen. Tut mir leid, aber sie hat nicht geschrien. Du weißt ja, wie sie ist, ein ruhiges Baby.“
„Ein ruhiges illegales Baby“, sagte Richard.
„Sag so etwas nicht“, sagte Susanna und gab ihm Gwen, die fasziniert mit ihrer Schmusedecke spielte.
„Sie haben im freien Kanal behauptet, dass der Damm bald nachgeben wird. Wie war es dort heute?“
„Frag nicht. Bald wird dort alles zusammenbrechen. Aber das wird uns bald nicht mehr interessieren. Endlich ist es so weit. Du weißt, wir haben keine andere Wahl. Es ist unmöglich auf dem Schwarzmarkt eine Registrierung zu bekommen für Gwen. Wir sind es ihr schuldig es zu versuchen. Wir haben es bereits so oft angeschaut aber die Fotos sind echt“, sagte Richard und holte zwei verblichene Fotos und eine zerknitterte Karte aus einem der Wandfächer hervor.
Er hatte die Karte und Fotos bei den Durchsuchungen angeschwemmter Boote, deren Besitzer auf der langen strapaziösen Reise gestorben waren, gefunden und eingesteckt. Auf den Fotos war die legendäre Wasserstadt, von der es viele Legenden gab, aber auf den Fotos war der Beweis abgebildet. Die Aufnahmen zeigten fortgeschrittene Technik mit Solaranlagen, Häusern und einer modernen Gesellschaft. Die Stadt bestand aus riesigen Bojen, die auf dem Wasser schwammen. Die Fotos waren auf den Zeitraum vor einem Jahr datiert.
„Auf der Rückseite des Fotos steht, das dort jeder willkommen ist,“ sagte Richard.
„Nur weil es dort steht, hat das nichts zu bedeuten“, sagte Susanna.
„Sie werden keine Familien abweisen.“
„Falls es wirklich existiert. Vielleicht erlaubt sich jemand damit einen Scherz.“
„Ich bin zu müde zum Diskutieren Susanna. Wir haben alles beredet, geplant und vorbereitet. Leg dich bitte noch etwas hin. Wir nehmen nur wenige Sachen mit.“
Richard liebte seine Frau und ihren Sinn für das Praktische, aber sie hatten nicht wirklich eine Wahl. Das Wasser stand ihnen bis zum Hals. Seine kleine Schusswaffe, die er vom Schwarzmarkt erstanden hatte, steckte er in die Innenseite seiner Tasche. Mehr mussten sie nicht mitnehmen. Proviant, Wasser und Medikamente befanden sich auf dem Boot.
Nachdem Susanna schwanger wurde, weil die Verhütungsmittel im Essen bei ihr wirkungslos geblieben waren, hatte Richard die Karte gefunden und beschlossen seine Familie zu retten. Er brauchte ein Transportmittel und wusste von dem Boot im Abwasserbecken. Jede Nacht öffnete sich die Schleuse und das Abwasser wurde hinaus ins Meer gelassen über eine Öffnung die sich bis jetzt noch zwanzig Meter über dem Meeresspiegel befand. Das Boot blieb während des Vorgangs mit dem Steg verbunden um nicht mitgerissen zu werden.
Das Boot durfte den Sicherheitsbedingungen nach nur benutzt werden bei geschlossener Schleuse, das sahen die Sicherheitsvorschriften so vor. Richards Plan war es, mit dem Boot während der Öffnung der Schleuse und dem Sog des ablaufenden Abwassers hinauf aufs Meer geschossen zu werden. In der Theorie war es möglich.
Daraufhin hatte er sich als Sicherheitskraft beworben und als guter Schütze die Position in einem der Wachtürme erhalten. Dazu gehörte der Dienst im Wachturm für das Abwasserbecken. Die nächsten zwei Stunden saß er im Dunkeln der Wohnung und versuchte sich auszuruhen. Eine Stunde vor Dienstbeginn weckte er Susanna und sie machten sich direkt auf den Weg.
Susanna nahm Gwen unter den Umhang. Das Kind schlief tief und fest. Sie flogen rüber zum Parkplatz der Behörde und gingen zum Eingang durch einen langen Korridor bis zu der Sicherheitstür. Richard zog seine ID-Karte durch den Schlitz und das grüne Licht blinkte. Dann setzten sie sich Atemmasken auf, weil der Gestank unten direkt am Wasser unerträglich war. Dann waren sie direkt am Becken. Die Wände des Beckens waren riesig und über ihnen ragte ein dunkler Himmel voller Sterne. Müll und Plastikteile schwammen auf der Oberfläche des Beckens. Richard ging hoch zu dem Wachturm um die Zeituhr für die Schleusenöffnung zu aktivieren, während Susanna nach unten zum Boot kletterte mit dem Baby um sich unter Deck in Sicherheit zu bringen.
Als Sarah zu weinen anfing auf dem Weg zum Boot, verstärkte der Hall des Beckens die Lautstärke. Richard aktivierte die Schleuse mit drei Minuten Zeit bis zur automatischen Öffnung. Als er auf der Leiter nach unten kletterte, tauchten die Hubschrauber auf und Lichtkegel suchten das Becken ab. Sie schossen direkt.
Richard rannte über den Steg und spürte einen Schuss an der Schulter, er geriet ins Stolpern, fing sich wieder und sprang auf das Boot. Die Schleuse öffnete sich mit einem gewaltigen Rauschen und die Schüsse prasselten auf das Boot. Mittlerweile war das Becken erhellt wie im Tageslicht.
Richard löste die Leine und das Boot wurde mit einem heftigen Ruck in Richtung der Schleuse gezogen. Richard fiel nach vorne und stieß sich den Kopf. Er hörte Gwen weinen und wollte sie gerne beruhigen.Das Boot drehte sich immer schneller. Dann wurde alles schwarz.
Als Richard die Augen öffnete, sah er gelb, dann denn hellblauen klaren Himmel durch ein kleines rundes Plastikfenster und dann wurde ihm schlecht. Er setzte sich aufrecht hin und begann zu würgen. Sie befanden sich in der Rettungskapsel des Bootes.
„Bitte nicht hier drin,“ sagte Susanna, die neben ihm saß und einen Verband um seine Schultern legte.
„Die Rettungskapsel. Sind sie uns nicht gefolgt?“
„Ich konnte dich gerade noch mit reinziehen, das Boot war am Sinken, sie haben es völlig durchlöchert. Inmitten des ganzen Plastikmülls ist ihnen die gelbe Kapsel nicht aufgefallen. Sie dachten wir sind mit dem Boot untergegangen.“
„Glaubst du wir schaffen es?“, fragte Richard und nahm Gwen auf den Arm.
„Wasser und Vorräte werden eine Woche reichen. Wir haben einen Elektroantrieb über die kleine Solaranlage auf der Spitze der Kapsel. Wir haben einen Kompass und die Karte. Ich denke wir haben gute Chancen“, sagte sie.
Richard öffnete das Fenster in dem zeltartigen Innenraum und schaute in Richtung der Megacity. Ein schwerer schwarzer Koloss, der nun sehr klein wirkte. Die Rettungskapsel schaukelte in entgegengesetzte Richtung dem Horizont entgegen.