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Was wirklich zählt
Es war einmal eine junge Frau. Sie hieß Mia und hatte lange braune Haare. Sie hütete ein großes Geheimnis. Damit niemand jemals herausfand, was es war, verboten Mias Eltern ihr jeglichen Kontakt mit Menschen. Allerdings war Mia mittlerweile 18 Jahre alt und beschloss, diese Regel nun zu ignorieren. Sie wollte unbedingt einen Freund, wie alle ihre Heldinnen in ihren Lieblingsfilmen. So hat es sich zugetragen, dass sie eines Tages mit einem jungen Mann namens Finn ausging.
Sie wollten sich um Mitternacht in einem Café treffen, das sich am anderen Ende der Stadt befand. Mia schlich sich aus dem Haus, als ihre Eltern schliefen. Als sie hinaus in die kalte Winterluft trat, fröstelte sie und zog ihren Mantel enger zu sich heran. Während sie die verschneite Straße entlang ging, versuchte sie ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. "Tief ein- und ausatmen.", versuchte sich sich in Gedanken vorzusagen. Doch sie kehrte immer wieder zu demselben Gedanken zurück: "Was, wenn es heute passiert?" Je näher sie dem Café kam, desto heftiger klopfte ihr Herz. Als sie Finn sah, klopfte es schon so laut, dass sie befürchtete, er könnte es hören. Zudem waren ihre Knie weich und sie glaubte nicht mehr lange stehen zu können.
Er grinste ihr schon von Weitem entgegen und sagte: „Du bist ja noch schöner als bei unserem letzten Zusammentreffen.“ Mia kicherte und kratzte sich verlegen am Kopf. Er hatte sie vor zwei Tagen in der Stadtbibliothek angesprochen und sie um ein Date gebeten. Finn reichte ihr seinen Arm und sie hakte sich bei ihm unter, während sie durch den Schnee gingen. Das Café war überfüllt, aber sie ergatterten noch einen Platz in der Mitte des Raumes. Er nahm ihr den Mantel ab und schob ihren Stuhl bereit. Sie setzte sich erleichtert hin. Noch länger hätten sie ihre Beine nicht getragen. Er setzte sich ihr gegenüber hin.
„Ach ist er aufmerksam!“, dachte sie bei sich. Er sah ihr tief in die Augen und sie konnte den Blick nicht abwenden. „Und wie schön er doch ist!“ Wie bei der letzten Begegnung konnte sie sich an seinem Anblick nicht satt sehen. Doch leider wendete er den Kopf zu früh ab, schaute auf die Karte und fragte: „So Mia, mich würde brennend interessieren, was dein Geheimnis ist.“ Finn hob den Kopf und sah sie gespannt an. Sie konnte nur verblüfft zurückstarren. Dann wurde sie wütend. Sie interessierte sich für seine Familie, war gespannt auf seine Hobbies und Interessen und das Erste, was er wissen wollte, war, welches Geheimnis sie verbarg. Ging es ihm nur darum? Scheinbar merkte er den Stimmungsumschwung, denn er grinste wieder und sagte: „Irgendwann werde ich es schon erfahren. Verzeih, ich war neugierig.“ Und als er ihre Augen fixierte und fragte: „Was magst du gerne? Wie kann man dir eine Freude machen?“, konnte sie ihm nicht lange böse sein. „Dich“, antwortete sie und wurde rot, als sie bemerkte, was sie gerade gesagt hatte. Er lachte und griff nach ihrer Hand, während ihr Herz einen Salto machte. „Geht mir genauso.“, sagte er leise.
Sein Gesicht näherte sich ihrem. Ihr Herz schlug mittlerweile Purzelbäume und ihr Bauch kribbelte. Als seine Lippen sich auf ihre legten, änderte sich plötzlich ihre Umgebung. Nebel stieg auf und hüllte Mia ein. Als sie erkannte, was das bedeutete, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Sie konnte es nicht fassen. Ihr wurde eiskalt. "Bitte nicht hier. Lass es nicht hier passieren. Bitte.", dachte sie verzweifelt. Sie versuchte sich mit aller Kraft bei Bewusstsein zu halten, krallte sich mit beiden Händen an die Stuhllehne unter ihr. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, als sie dennoch vom Stuhl abhob und sich schwindelerregend schnell zu drehen begann. Plötzlich knallte es und es fühlte sich so an, als würde sie in tausende kleine Teile zerspringen. Es tat nicht weh, aber sie glaubte ein Stück ihrer Seele zu verlieren. Dann wurde kurzzeitig alles schwarz. Als sie wieder zu sich kam, saß sie auf dem Stuhl und beobachtete, wie der Nebel sich langsam wieder entfernte. Sie blickte an sich hinunter. Obwohl sie es so oft gesehen hatte, brach es ihr immer noch das Herz. Sich so zu sehen, war furchtbar. Sie wimmerte und fühlte sich verlassen und einsam. Statt ihrer saß nun ein Erdmännchen auf ihrem Platz.
Ja, das war ihr Geheimnis, das sie hütete. War sie aufgeregt, verwandelte sie sich in ein Erdmännchen und zwar solange, bis sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. Wie man sich vorstellen kann, ist das immer unterschiedlich lang. Einmal ist sie zwei Stunden in dieser Gestalt gewesen. Es war eine sehr lästige Angewohnheit, wie Mia fand.
Fieberhaft überlegte sie, ob sie schnell aus dem Café flüchten sollte. Mit etwas Glück würde Finn denken, er habe es sich nur eingebildet und sie wäre nur nach draußen gegangen. Aber es war hoffnungslos, denn viele im Café und auch Finn hatten es sehr deutlich gesehen. Langsam, sehr langsam hob sie ihren kleinen Kopf und sah Finn an. Er war ziemlich blass geworden und starrte sie befremdet an. Er rieb sich die Augen und sah sie dann nochmal an. Dann schüttelte er immer wieder den Kopf und sprach vor sich hin: "Es ist alles in Ordnung. Ein Mensch hat sich nur gerade in ein Erdmännchen verwandelt." Er zuckte zusammen, stand hastig auf und floh. Mia war wie benommen. Sie konnte sich nicht rühren. Tiefer Selbsthass breitete sich in ihr aus. Einzig die schockierten Blicke der anderen, brachten sie dazu, das Café zu verlassen. Sie sah Finn von diesem Tag an nie wieder.
Nach dem Vorfall traf sich Mia noch mit ein paar anderen Männern. Um so eine peinliche Situation wie mit Finn zu vermeiden, erzählte sie diesen schon vor der ersten Verabredung, was ihr Geheimnis war. Leider glaubten sie, das Geheimnis wäre nur ein Märchen. Als sie es mit eigenen Augen sahen, ließen sie Mia daher trotzdem erneut stehen. Mias Selbstwertgefühl war im Keller. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein und weinte tagelang. Sie fühlte sich so leer und antriebslos und verstand die Welt nicht mehr.
Am dritten Abend ihres Rückzugs hatte sie einen Traum. Sie ging einen Schotterweg entlang, der von Bäumen, Wiesen und Blumen umsäumt war. Rosenduft lag in der Luft und die Steine übten einen leichten Druck auf ihren nackten Füßen aus. Doch sie ließ sich davon nicht beirren. Ein innerer Drang führte sie immer weiter den Weg entlang. Ganz vorne auf einem Podest stand eine Frau, die aussah wie eine ältere Version von ihr. Als Mia bei ihr ankam, sagte sie: „Mia, sei nicht traurig. Ich sage dir jetzt etwas. Es wird bergauf gehen, du musst nicht immer unglücklich sein. Im Leben geht es um den Charakter und nicht darum, wie man aussieht oder welche Fehler man hat. Du hast keinen leichten Einstieg ins Leben, aber ich verspreche dir, du schaffst das. Es verdient dich nur der, der dich so akzeptiert wie du bist. Jemand, der Geduld mit dir hat, bis du dich besser unter Kontrolle hast und dich nicht in ein Erdmännchen verwandelst, wenn du es nicht möchtest. Und ich finde, deine Fähigkeit ist etwas ganz Besonderes.“ Mia schaute sie an und spürte, wie auf einmal wieder mehr Leben ins sie kam, die die Leere beinahe vollständig verdrängte. „Ich kann es kontrollieren?“, fragte sie hoffnungsvoll. „Ja, wenn du genug übst, wirst du es können. Dann kannst du dich gezielt hin- und zurückverwandeln.“ „Wow. Das ist cool. Können Sie das auch?“ Die Frau lachte freundlich. „Ich bin die erwachsene Version von dir. Daher bin ich mir ja so sicher, dass es bergauf geht.“ Mia starrte die Frau verblüfft an. Eigentlich hat sie es insgeheim schon geahnt. Diese Erkenntnis ließ die Traurigkeit ganz verschwinden und neue Hoffnung und Vorfreude durchströmte sie. So eine starke, selbstbewusste Frau wollte sie schon immer unbedingt werden.
So ging sie ihren eigenen Weg und wurde glücklich. Auch wenn das Treffen mit ihrem zukünftigen Ich nur ein Traum gewesen war, hatte er ihr doch ihre Möglichkeiten offenbart. Sie würde es schaffen, egal wie hart es werden würde. Sie würde sich nicht verrückt machen, denn der Mann, der sie so akzeptierte wie sie war, würde noch kommen. Und sie würde sich nicht mit weniger zufrieden geben. Eines Tages würde sie die Frau sein, die sie in ihren Träumen getroffen hatte. Da war sie sich ganz sicher.