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Was wirklich zählt

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01.10.2001
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Was wirklich zählt

"Wann war...?" Er hörte die Unheil verkündende Frage in seinem Ohr dröhnen und war einen Moment wie vor den Kopf gestoßen. Nur träge drang der Sinn dieser Worte bis in sein Gehirn vor, unendlich langsam begannen sich die Rädchen seines Verstandes zu drehen. Wann war...? Zögern. Die Antwort hätte eigentlich wie aus der Pistole geschossen kommen müssen. Aber da war nichts. Dieses Ereignis! Solch ein Datum! Er spürte Panik in sich hochsteigen. Was mache ich jetzt? Keine Zeit zum Nachdenken. Antworte! Antworte! Sag etwas. Irgendetwas. "Ähh, das war so cirka..." Welch wage Zeitangabe! Das war ja schlimmer als Schweigen. Hoffentlich hatte der Gegenüber nicht das Zögern bemerkt. Nicht die Unsicherheit. Nicht das leichte Zittern der Stimme. Sehr unwahrscheinlich. Solch eine Unwissenheit- einfach peinlich. Dennoch: Keine weiteren Fragen. Puh! In Gedanken atmete er tief durch und wischte sich einen imaginären Schweißtropfen von der Stirn. Das war ja gerade noch einmal gutgegangen. Zumindest auf den ersten Blick - denn er spürte, dass seine Wissenslücke nicht unentdeckt geblieben war. Doch sein Gegenüber beliebte großzügigerweise darüber hinwegzusehen. Aber ich möchte nicht wissen, was er jetzt über mich denkt. Für dieses Mal hast du noch Glück gehabt. Aber du kannst dich nicht immer darauf verlassen. Warum so eine unsichere Antwort? Hättest du dir doch noch einen Sekundenbruchteil Zeit genommen und dich auf eine Antwort festgelegt. Hättest sie mit (nicht vorhandener) Überzeugung präsentiert. Keiner hätte es gemerkt Und keiner hätte es so schnell nachprüfen können. Alles wäre bestens gewesen... - Nein! schalt er sich. Nichts wäre "bestens" gewesen. Schließlich bin ich kein Schauspieler - sondern Historiker. Meine Aufgabe ist es zu wissen - nicht zu täuschen. Aber wie sollte er jemals gut in seinem Fach werden, wenn er nicht einmal die fundamentalsten Daten im Gedächtnis behalten konnte? Jeder x-beliebige Mensch hätte diese Frage beantworten können. "Wann war...?" Lächerlich. Das war ja wie: Wann entdeckte Kolumbus Amerika? In welchem Jahr endete der 2. Weltkrieg? Er wehrte sich gegen die Vorstellung, so ein Lapsus wie eben könnte ihm auch bei der nächsten Prüfung passieren. Seine Kollegen würden ihn bestenfalls mitleidig belächeln, wahrscheinlicher jedoch mit Spott und Hohn überschütten - oder womöglich noch Schlimmeres. Aber das war ja noch nicht einmal das Bedrohlichste an der ganzen Situation. Schließlich hatten derartige Fehltritte auch im privaten Bereich gravierende Folgen. "Wann war...?" Das war nämlich auch wie: Seit wann sind wir zusammen? An welchem Tag haben wir geheiratet? Eine derartige Frage mit "Ähh, das war so cirka..." zu beantworten würde ihn in Teufels Küche bringen. Unverzeihlich. So ein Datum musste unauslöschbar im Gedächtnis abgesichert sein. Im Schlaf können musste man das. Die Leute wussten solche Dinge auf den Tag, auf die Stunde genau. Warum nur ich nicht? "Wann war...?" Niemand wollte die Antwort im Moment hören, dennoch ließ es ihm keine Ruhe mehr. Nicht noch einmal so eine Situation. Nie wieder solch ein peinliches Zögern und Stammeln. Die Frage hatte sich verselbstständigt. Umfing ihn. Die Welt schien sich nur noch um diese Worte zu drehen: "Wann war...?" Ich muss es wissen! Vorsichtig versuchte er, sich in diese so ferne Zeit zurückzuversetzen. Überflog den Verlauf der Geschehnisse. Drang ein in das Gewirr von Nebensächlichkeiten und Hintergrundinformationen, in dem sich irgendwo das entscheidende Datum verbergen musste. Konzentrierte sich auf das Wesentliche: "Wann war...?" November. Völlig klar sah er den Monat vor Augen. Seltsam. Normalerweise sollte doch die übergeordnete Größe, das Jahr, besser im Gedächtnis verankert sein. Das Jahr? Rekonstruktion. 1996 hatte er die Schule erfolgreich abgeschlossen. 11 Monate Zivildienst. Dann das Geschichtsstudium begonnen. Das war's: 1997. November 1997. Beinahe geschafft! Aber der Tag? 3.? 5.? 7.? Einer davon musste es sein. Glaube ich. Oder war es doch der 12.? Daran konnte er sich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern. Keine Chance. Er kapitulierte. Nahm die Brieftasche zur Hand. Zog vorsichtig ein ausweisgroßes Stück Karton zur Hand. Die rettende Gedächtnisstütze. Immerhin die hatte er allzeit griffbereit. Öffnete. Las: Zur Erinnerung. 5. Es war der 5. Die Erlösung. 5. November 1997. Präge es dir ein! 5. November 1997. Immer wieder sagte er sich das Datum vor - auf dass es endlich gespeichert würde. Für jetzt und auf ewig. 5.11.1997. Was mehr muss man wissen? - über den Tod seines Bruders.

 

Das ist eine der besten Geschichten, die ich auf KG.de bisher gelesen habe.

Anders als bei den meisten anderen Texten stimmt hier vor allem eines: Der Schluß! Lange Zeit war ich beim Lesen etwas verwundert und sogar gelangweilt, dass selbst ein Historiker sich so hineinsteigert, nur weil er ein Datum bei einer blöden Geschichtsprüfung nicht weiß. Aber durch den emotionalen Knalleffekt am Ende wird alles aufgelöst und man möchte am liebsten gleich alles nochmal lesen.

Es passiert mir selten, dass ich hier eine Geschichte finde, die mir wirklich sehr gut gefällt und die mich zum Nachdenken bringt. Dies ist so eine. Weiter so!

Flop

 

muss mich flop anschließen, die geschichte ist sehr gut gelungen!

sie ist von oben bis unten kurzweilig zu lesen und der schluß ist sowieso sehr überraschend.

mich hat sie jedenfalls zum nachdenken angeregt und ich bin mir sicher, dass dies auch so beabsichtigt war.

 

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