Was wirklich wiegt...
"Die Haftreibung oder auch Ruhereibung ist die Form der Reibung zweier fester Körper, die in dem Augenblick auftritt, indem sie sich in Bewegung setzen. Sie kennzeichnet den Widerstand eines Körpers gegen das Gleiten und wird durch die Haftreibungszahl µr gekennzeichnet. Kann mir jemand ein Beispiel dafür nennen?“
Der Professor für Physik ging im Hörsaal auf und ab, während er versuchte, uns die Lehre der Reibung näher zu bringen. Leider stieß er damit bei uns Studenten nur auf mäßiges Interesse, da es der frühe Nachmittag eines Montags Anfang Juni war und jeder der Anwesenden sich lieber in einen schattigen Schanigarten wünschte anstelle des verstaubten Hörsaals. Gedankenverloren ließ ich meinen Blick aus dem Fenster über die Bäume im Innenhof schweifen und träumte vor mich hin.
Plötzlich stieß mich meine Sitznachbarin mit dem Ellbogen in die Seite. Unwillig drehte ich mich zu ihr um, wurde jedoch schlagartig munter, als ich bemerkte, dass mich der Professor mit fragenden Augen fixierte und ich mit einem Mal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des gesamten Hörsaals stand. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was der Professor von mir wissen wollte. Ich stammelte kurz herum, während mir der Schweiß ausbrach und mein Gesicht die Farbe einer sehr reifen Tomate annahm, bis ich schließlich verstummte.
„Leute, so geht das nicht!“ platzte dem Professor nun endgültig der Kragen, womit er sich Gott sei Dank wieder dem ganzen Auditorium zuwandte. „Ich kann verstehen, dass Sie bei dem Wetter, das draußen herrscht, unaufmerksam sind, aber bedenken Sie, dass in wenigen Wochen die Abschlussprüfung ansteht und dann werden die Fragen wesentlich schwieriger werden als diese hier. Da müssen sämtliche Definitionen auch mathematisch korrekt hergeleitet werden. Ich kann Ihnen nur immer wieder ans Herz legen: Die Mathematik ist die Sprache der Naturwissenschaften! Ohne sie ist die Physik nichts! Und wie wir gesehen haben: Das gesamte Leben ist Physik und kann mathematisch erklärt werden! Das müssen Sie verinnerlichen, wenn Sie es in diesem Beruf zu etwas bringen möchten!“
Der Professor redete immer weiter und als er begann, über die Wichtigkeit der Berechnungen in multidimensionalen Räumen zu dozieren, schaltete ich endgültig ab. Laut ihm sollten die Physik und die Mathematik für jeden normal denkenden Menschen den Lebensmittelpunkt darstellen. Der hatte sie doch nicht mehr alle. Während ich mich noch fragte, ob der denn kein Privatleben hätte, war die Vorlesung auch schon vorbei.
Auf dem Heimweg, während die Landschaft am Fenster des Zuges vorbeizog, begann ich, noch einmal über die Worte des Professors nachzudenken. Konnte es sein, dass er Recht hatte? Musste ich die mathematischen Definitionen der Naturwissenschaften wirklich stärker in mein Tun und Denken integrieren? Bisher hatte ich immer dazu tendiert, die Dinge mit dem Gefühl und dem Herzen zu begreifen, nicht aber nur das mathematische Konstrukt hinter dem ersten Eindruck mit dem Verstand zu erfassen.
Ich war so in Gedanken, dass ich beinahe meine Ausstiegsstation verpasst hätte. Im letzten Augenblick schlüpfte ich durch die sich schon schließenden Türen und fand mich auf dem sonnenüberfluteten Bahnsteig ganz allein wieder. Langsam ging ich zu dem großen Fahrradständer, sperrte das Schloss meines Rades auf und schwang mich in den Sattel. Vom Bahnhof bis zu meiner Heimatgemeinde waren es nur zirka zweieinhalb Kilometer und wann immer es das Wetter zuließ, legte ich diese Strecke mit dem Rad zurück.
Heute war so ein herrlicher Tag, dass ich beschloss, es mir auf halbem Wege auf einer Bank gemütlich zu machen. Vor mir entfaltete sich die Landschaft in ihrer gesamten frühsommerlichen Pracht, strotzend vor Kraft und sattgrün aufgrund der Regenfälle der letzten Wochen.
Das Getreide, das sich auf den Feldern leicht bewegte, hatte bereits Ähren ausgebildet und kündete davon, dass die Ernte nicht mehr fern war. Auch die Sonnenblumen daneben sehnten sich danach, endlich ihre Blütenköpfchen entfalten und der Sonne entgegen strecken zu dürfen. Über mir spannte sich ein tiefblauer Himmel, der als einzige Zier dicke, weiße Schönwetterwolken über den blassblauen Bergen am Horizont trug.
Die Luft war erfüllt vom Gezwitscher der Vögel in den Bäumen des Windschutzgürtels hinter mir, durch dessen schattiges Blattwerk hindurch mich immer wieder einzelne Sonnenstrahlen auf der nackten Haut meiner Arme kitzelten. Ein leichter Windhauch spielte mit meinem Haar und wehte mir die verschiedensten Düfte in die Nase, die Süße blühender Sträucher und Blumen am Wegesrand aber auch die Herbheit der dunklen Erde eines brachliegenden Feldes, die darauf wartete, für die Saat im nächsten Jahr vorbereitet zu werden.
Mit allen meinen Sinnen und meiner ganzen Seele nahm ich jede einzelne Facette dieses Augenblicks in mir auf und schlagartig traf mich vor der Kulisse des Landes, das schon meine Urgroßväter bearbeitet hatten und meiner Familie auch heute noch als Lebensgrundlage diente, eine jähe Erkenntnis.
Was nützte es einem, die Haftreibung auf mathematisch korrekte Weise definieren zu können, wenn man durch zu lange Suche der Regeln der Physik in multidimensionalen Räumen den eigenen Boden unter den Füssen bereits verloren hat? Was bedeutete schon die Haftung auf einem Boden, wenn man diesen gar nicht mehr kannte, da man den Bezug dazu schon vor Jahren völlig verloren hatte?
Ich stand auf, ging ein paar Schritte und kniete mich hin. Langsam ließ ich eine Handvoll Erde durch meine Finger rieseln. Hätte mich mein Physikprofessor in diesem Moment um die Definition der Haftreibung gefragt, ich hätte ihm ohne zu Zögern eine Antwort geliefert: Die wahre Haftreibung hat in meinen Augen nichts mit mathematischen Formeln oder physikalischen Gesetzen zu tun. Sie besteht in der Verbundenheit des Individuums zu seiner Herkunft, seinen Wurzeln, seiner Lebensgrundlage. Für mich ist es erst die Existenz dieser Bodenhaftung, die den wahren Wert des Lebens ausmacht.