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Was wirklich mit Rotkäppchen passierte
„Dann macht‘s mal gut, ihr drei“, rief die Mama. Sie stand an der Tür und wollte gerade ausgehen.
Sie hatte ihre schicken schwarzen Schuhe an und roch gut nach Parfüm.
„Willst du jetzt schon gehen?“, fragte Papa erschrocken.
„Du machst das schon. In einer halben Stunde müssen sie ins Bett“, meinte die Mama und zwinkerte den Kindern zu. „Und lass dir nicht wieder auf der Nase herumtanzen.“ Damit zog sie die Tür hinter sich zu.
„Hat man sowas schon gehört“, brummelte Papa. „Mir tanzt niemand auf der Nase herum, nicht mal eine Fliege.“
Und tatsächlich lagen Bert und Annika bereits drei Stunden später im Bett. Baden hatten sie heute wegen Zeitmangel ausfallen lassen.
„Erzähl uns noch eine Geschichte, Papa!“, rief Annika.
„Au ja“, schrie Bert. „Etwas vom mutierten Zombiekiller, der alle Feinde mit seinem Todesatem kaltmacht!“
„Nein, nicht das!“, schimpfte Annika. „Ein Märchen!“
„Märchen sind doof.“
„Sind sie nicht!“
„Also“, Papa ergriff das Wort, „ich denke auch, dass ein Märchen etwas Nettes ist. Vom Zombiekiller kann euch dann die …äh …Mama erzählen.“
Bert schmollte und Annika setzte sich erwartungsvoll im Bett hin.
Papa räusperte sich und begann: „Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Rotkäppchen.“
Bert stöhnte und warf sich auf das Kissen. Papa ignorierte ihn.
„Das Mädchen hieß so, weil ihre Großmutter ihr eine rote Samtkappe geschenkt hatte.“
„Sah die schön aus?“, fragte Annika.
„Ja, wunderschön und rot. Deshalb hieß sie Rotkäppchen.“
„Wir wissen’s nun“, meinte Bert.
„Ssscchhhhh“, machte Annika böse.
„Die Großmutter wohnte alleine im Wald und war alt und krank und Rotkäppchen sollte ihr Kuchen und Wein bringen und …“
„Warum musste sie im Wald wohnen?“, fragte Annika neugierig.
„Sie liebte den Wolf, den Wald meine ich …und …“, Papa sah verwirrt aus. „Sie wohnte eben einfach da!“
„Könnte mir auch gefallen“, sagte Bert. „So ganz allein im Wald, ohne lästige Schwester!“
Annika schmiss ihm ein Kissen an den Kopf.
„Soll ich nun erzählen, oder nicht?“, fragte Papa.
Die Kinder nickten.
„Also, das Rotkäppchen sollte in den Wald zur Oma gehen, aber nicht mit dem Wolf reden.“
„Wölfe reden nicht“, sagte Bert gelangweilt.
„Dieser schon!“, antwortete Papa. „Rede nicht mit dem bösen Wolf“, sprach die Mama zu Rotkäppchen.“ Papa machte eine ganz hohe Frauenstimme nach und Annika lachte.
„Aber das Rotkäppchen hörte nicht auf die Mama und redete doch mit dem Wolf.“
„Warum denn?“, fragte Annika.
„Nun unterbrich mich doch nicht dauernd!“, schimpfte Papa. „Sonst weiß ich gar nicht mehr, wie es weitergeht!“
„Jeder weiß, wie es weitergeht.“ Bert winkte müde ab. „Das dusslige Rotkäppchen erzählt dem Wolf alles, der frisst die Großmutter und zieht ihr Nachthemd an. Das dusslige Rotkäppchen merkt nicht, dass es der Wolf im Nachthemd ist“, hier rollte Bert mit den Augen, „und am Ende rettet sie der Jäger.“
„Du bist gemein“, sagte Annika.
„Außerdem geht die Geschichte nicht so“, meinte Papa. Er sah jetzt entschlossen aus.
„Dieser Wolf war unglaublich schlau. Er konnte drei Fremdsprachen sprechen und Leute hypnotisieren. Er war das gefährlichste Tier im ganzen Universum. Sein Atem war totbringend. Jeden, den er anhauchte, fiel in eine eisige Starre. Er war auch nicht nur ein Wolf, er war ein Vampir, der in der Nacht so gut wie am Tage sehen konnte. Er roch Menschen aus sechzig Kilometern Entfernung.“
„Toll“, flüsterte Bert. Annika hielt sich die Hände vors Gesicht.
„Deswegen sagte auch Rotkäppchens Mama ‚Hüte dich vor dem Vampirkillerwolf mit dem Todesatem. In deinem Körbchen habe ich ein Schweizer Taschenmesser versteckt und dein roter Umhang ist gleichzeitig ein Universalkampfanzug. Blicke dem Wolf nicht in die Augen, damit er dich nicht hypnotisieren kann!“
Bert und Annika starrten Papa mit offenem Mund an.
„Rotkäppchen hatte seit ihrem zweiten Lebensjahr Karate gelernt und außerdem einen Kurs in Spionage mitgemacht. Sie hatte keine Angst. Als sie durch den schaurigen Wald ging, hörte sie die Zweige knacken und versteckte sich hinter einem Baum. Da sah sie den Wolf vorbeischleichen. Sein Atem roch unglaublich furchtbar, so wie Berts Socken unter dem Bett.“
Annika kicherte.
„Der Wolf konnte riechen, dass ein Mensch in der Nähe war und rief: ‚Zeig dich, wer immer du bist! Du sollst mein Frühstück werden! Und deine Oma gleich mit! ‘ Dann wiederholte er es noch in Englisch, Spanisch und Japanisch. Rotkäppchen zückte ihr Taschenmesser, warf ihren Umhang um und sprang hinter dem Baum hervor.“
Annika wimmerte und hielt wieder die Hände vors Gesicht. Bert zog sich vor Aufregung an den Haaren.
Papa machte weiter: „Hiiijah“, machte das Rotkäppchen und zertrümmerte dem Wolf mit einem gezielten Karateschlag die Nase. Der Wolf wollte sie anatmen, aber ihr Universalumhang schützte sie. Schnaufend versuchte er, sie abzuwerfen, aber das Rotkäppchen saß auf seinem Rücken und hielt ihm das Schweizer Taschenmesser an die Kehle. ‚Grrrr‘, machte der Wolf wütend, aber das Rotkäppchen drückte nur noch fester zu. Dann sagte sie: ‚Entweder du ergibst dich und versprichst, für immer zu verschwinden, oder ich hole meinen Ultra Laser Taser aus dem Korb. ‘ Der Wolf ergab sich.“
„Und dann?“, fragten Bert und Annika wie aus einem Munde.
„Dann rannte er, so schnell er konnte weg. Rotkäppchen klopfte sich die Erde von der Strumpfhose und ging mit ihrem Körbchen zu Omas Haus. Dort aßen sie Kuchen und Rotkäppchen erzählte alles. Oma lachte sich halbtot, weil Rotkäppchen ja gar keinen Laser Taser hatte.“
„Wow“, sagte Bert.
Unten klappte die Tür ins Schloss und Mama kam die Treppe hochgeeilt.
„Na, ihr seid ja noch wach?“, sie tat ganz verwundert. „Und so still. Was hat Papa denn gemacht?“
„Er hat uns Rotkäppchen erzählt“, antworteten Annika und Bert.
„Wirklich?“, fragte die Mama erstaunt. „Interessiert euch das denn noch?“
„Total“, sagte Bert.
„Unglaublich“, sagte Annika.
Papa lächelte und machte das Licht aus.