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Was wiegt eigentlich?
Frühstück. Lange nach Sonnenaufgang. Schlafen ist schön. Träumen ist schön. Sonne ist auch schön. Zwei, die in ihrer Küche sitzen und dort frühstücken. Ein großes Fenster lässt die Strahlen herein. Sie erhellen den viereckigen, zitronengelben Raum mit der kleinen Ecknische. Sie scheinen auf den Küchentisch, das rote Tischtuch und das bunte Besteck. Es riecht nach frisch gebrühtem Kaffee. Sie liest Zeitung, wieder nur Mord und Totschlag, er kaut Brötchen.
Er sagt: „Wir haben eine neue Küchenwaage.“
Sie sagt: „Ja.“
Er sagt: „Lass uns was wiegen.“
Warum nicht, denkt sie, auch wenn es eigentlich keinen Sinn hat. Das sind so Kindereien, die hat man gemacht, als man noch jung war.
Sie sagt: „Okay.“
„Was willst du wiegen?“, fragt er.
„Was wiegt eine halbe Avocado?“
(Sie hat gerade fast eine halbe gegessen und da ist ja auch viel Fett drin, sagt man.)
„Heißt es eigentlich der oder die Avocado?“, fragt er.
Sie nimmt ihr Tablet vom Küchenregal und guckt bei Wikipedia nach.
„Die Avocado!“, sagt sie stolz und liest laut noch ein wenig weiter. „Der bis zu 15 Meter hohe Baum hat seinen Ursprung in Südmexiko und wurde bereits von der Coxcatlán-Kultur in Tehuacán kultiviert. Im tropischen und subtropischen Zentralamerika wird die Frucht schon seit etwa 10.000 Jahren genutzt. Die Spanier brachten sie in die Karibik, nach Chile und Madeira, bis sie im Laufe des 19. Jahrhunderts Verbreitung bis nach Afrika und Madagaskar, Malaysia und den Philippinen fand.“
„Wer aber weiß“, schließt sie, „ob die Avocado in all den Sprachen weiblich ist?“
„Wer weiß“, sagt er und grinst.
„Auf jeden Fall“, sagt sie, „ist das auch ein Lorbeergewächs. Ein heiliges Geschöpf also, in welches die erste, große Liebe des römischen Sonnengottes Apollon verwandelt wurde.“
„Klugscheißer!“, sagt er, nimmt ihr das Tablet aus der Hand und legt die Waage hinein.
„Jetzt wiegen wir!“
Das ist schon seltsam, denkt sie. Die Waage ist genauso flach und handlich wie das Tablet. Hat fast dieselbe Form und doch ein ganz anderes Innenleben.
„Und wie wiegt man jetzt damit?“, fragt sie ahnungslos.
Er schmunzelt und sagt: „Du musst sie auf einen flachen Untergrund stellen.“
Sie stellt die Waage auf die Fensterbank, das Sonnenlicht kitzelt ihre Nasenspitze. Sie betastet das Gerät und niest.
„Gesundheit!“
„Danke. Das ist doch auch ein Touchdings, oder?“
Er lacht, stellt sich neben sie und schnellt mit seinen Fingern über die weiße, glatte Oberfläche. Seine Augen glitzern. Auf einmal leuchtet das Display in bunten Farben.
„Wie hast du das gemacht?“, fragt sie verwundert.
„Na, ganz einfach. So und so“, zeigt und erklärt er ihr. „Du kannst jetzt gucken, ob da 'g' steht.“
„?“, guckt sie ihn an.
„Na 'g', für Gramm.“
„Ach so.“
Es erstaunt sie jedes Mal aufs Neue, wie schwierig die einfachsten Dinge sein können. Vielleicht aber ist es auch so, denkt sie, dass die Dinge nur deshalb schwierig sind, weil man sie sich nicht bewusst macht. Es reicht scheinbar nicht, etwas anzufassen und daran herum zu tatschen. Vor allem, wenn man gleichzeitig niesen muss. Es wäre besser, zu versuchen, es zu verstehen. Sie seufzt. Besser wäre es, aber es ist eben auch so schwer.
Die halbe Avocado wiegt 134 g.
„Was wiegt eigentlich mehr?“, fragt er dann. „Die Schale oder der Kern?“
„Du meinst die Hülle, Fruchtfleisch oder den Kern?“
„Ja, also das Drumherum oder der Kern.“
„Lass es uns herausfinden!“
Glücklicherweise befindet sich ein reicher, weicher Schatz an Avocados im Küchenregal, so dass sie ein intaktes Vergleichsobjekt heranziehen können. Schon will sie Zettel und Stift zücken, um mit der Rechnerei zu beginnen, als er eine weitere Funktion der Waage präsentiert. Man kann ihr bei einem bestimmten Gewicht befehlen, dieses als Nullstelle zu akzeptieren.
„Wieso weißt du das alles?“
„Bedienungsanleitung. Lesen hilft.“
Das Ergebnis: Schale 18 g. Fruchtfleisch mit Schale 195 g. Kern 42 g.
„Ich hätte gedacht, dass der Kern schwerer ist“, sagt sie, „Immerhin sind darin doch all die Informationen gespeichert, um eine neue Avocadopflanze entstehen zu lassen.“
„Ja“, sagt er, „aber das Drumherum ist auch entscheidend. Es gibt die Möglichkeit, davon zu leben.“
Und dann wiegen die beiden alles Mögliche, was sich in der Küche findet. Messer, Gabel, Orange, Streichhölzer, ein Blumenblatt, ein Blatt Papier, drei Zahnstocher. Alles hat Gewicht. Nur das Blumenblatt ist zu leicht.
Zuletzt wiegen sie einen Teller.
„Meinst du, er wiegt mehr oder weniger als eine Avocado?“
„Weiß nicht. Lass mal fühlen.“
Es ist der Keramikteller, auf dem die aufgeschnittenen Avocados für gewöhnlich ihren Platz finden. Noch ein wenig beschmiert mit der hellgrünen, fast gelblichen Paste. Ungefähr so flach, aber insgesamt dicker als ein Kuchenteller, zeigt er ein Muster aus drei Kreisen von innen nach außen oder von außen nach innen. Je nachdem, wie man guckt. Zwischen den beiden äußeren Kreisen sind Blumenmuster gerahmt, in den Farben blau, grün und rot. Im mittleren Kreis ist eine Taube zu sehen, die einen grünen Zweig im Schnabel hält. Darunter steht das Wort „Shalom“. Der Teller war ein Geschenk und hat eine weite Reise hinter sich.
Sie sagt: „Gerade mal 138 Gramm!“
Er sagt: „Gar nicht so schwer.“