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Was weht, steht still
Was weht, steht still
Unter meinen Schritten knirscht die Straße wie zerknülltes Papier. Der Abend bricht an, und ich habe eine lange Reise hinter mir, doch die Wunder dieser Stadt blenden meine Augen, die sich schon an den milden Schein der Dämmerung gewöhnt haben. Zu meiner Rechten erhebt sich das Haus eines Kaufmanns oder eines Schneiders, jedenfalls eines Mannes, dessen Liebe zu edlem Tuch, zu kostbaren Borten und spinnwebfeinen Schleiern seine Entsprechung gefunden hat in einem Gebilde, das als Haus zu bezeichnen fast schon frevelhaft ist. Darf man etwas, das den Anschein erweckt, es könne von einem einzigen Lufthauch in alle Winde verweht werden, mit Fug und Recht als Haus bezeichnen? Wie soll ich etwas beschreiben, dessen Beschreibung ich nur einem Blatt Papier anvertrauen würde, welches aus Daunen gewebt ist, und welches ich nicht mit einer Feder beschreiben dürfte, sondern nur mit dem Haar eines jungen Mädchens, getränkt mit Blau des Himmels? Hinter den Tüchern nehme ich Schemen wahr, doch ich bemerke keine Fenster. Der Erbauer dieses Hauses muß das Licht der Sonne abgewogen haben: die Menge an Licht, die sonst durch Scheiben in ein Zimmer hineinstrahlt und die Gegenstände und Personen darin genau so erhellt, daß einerseits ihre Vorzüge im hellen Scheine erstrahlen, andererseits noch genügend Schatten bleiben, um ihre Geheimnisse zu wahren, genau diese Menge an Licht muß auch hinter den Tücherwänden wohl verteilt sein. Wage ich es, dieses Haus zu betreten? Doch wo sollte ich anklopfen?
Eben möchte ich mit von dem prächtigen und verwirrenden Anblick abwenden, da höre ich ein Flüstern hinter einem der wehenden Schleier, so leise, daß es fast mit dem leisen Knistern des Stoffes verschmilzt: „Fremder! Wenn Euch an Eurem Leben etwas gelegen ist, so kommt näher und hört mich an!“ Ich trete an das Haus heran, verwundert, wer mich da so keck angesprochen haben mag, und antworte: „Wer spricht dort? Zeigt Euch, damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe!“ – „Nein, ich darf mich Euch nicht zeigen, denn bei meinem Anblick würde Eure Seele vor Liebe verwehen. Doch Ihr dürft mich küssen, wenn Ihr wollt, und ich werde Euch einen Rat dafür geben.“ Die Stimme der Unbekannten strahlt einen solchen Liebreiz und eine solche Vertrauenswürdigkeit aus, daß ich erfreut ausrufe: „Dies erscheint mir ein geringer Preis für einen guten Rat! Und selbst für schlechten Ratschlag haben Männer schon teurer bezahlt. Wohlan, ich will es wagen.“ Ein Schatten legt sich auf die Stimme der schemenhaften Verführerin, als sie erwidert: „Ich muß Euch warnen: jetzt erscheint Euch der Preis noch gering, doch täuscht Euch nicht: unversehens könntet Ihr als Schuldner dastehen, und Zeit und Erinnerung sind herzlose Gläubiger. Seid Ihr gewiß? “ – „Ja, ich bin gewiß, denn Zeit und Erinnerung scheren mich nicht: sollten sie vor meiner Türe Zeter und Mordio schreien, werde ich von nun an eben im Augenblicke unseres Kusses leben.“
Kaum habe ich dies gesprochen, zieht mich eine Hand tiefer in die unzähligen Lagen von Damast und Dämmerlicht, und ich spüre, wie sich meine Sinne in den vielverwundenen Tuchbahnen verwirren. Eine erfrischende Kühle umfaßt mich, und während ich versuche, mich im Halbdunkel zurechtzufinden, vielleicht die geschwungene Linie eines Wangenknochens oder den flirrenden Schatten eines Haarschopfes zu erahnen, wehen um mich die seltsamsten Wahrnehmungen: mal ist es mir, als würde feinstes Gespinst auf meinem Gesicht in einem steten Reigen immer neue Muster und Formen bilden, sich dabei in Gedankenschnelle auflösend und wieder neu verknüpfend; mal ist es mir, als würde ich beim Versuch, mir einen Weg durch die verwickelten Formen und Farben zu bahnen, an einem Netz aus dickem Tau abprallen, das unsichtbar hinter der Fassade aus durchscheinendem Tuch gespannt ist. Da! Meine Lippen erspüren eine lautlose Nähe. Ein Atemzug? Nein, dies ist eher der Seufzer eines Traumes, der weiß, daß er vergessen sein wird, sobald der Träumer erwacht! Ich erstarre, und mit der Berührung ihrer Lippen berührt mich auch das Gras, das im Sommer meinen Rücken streichelt, wenn ich in den Himmel blicke; es berührt mich der salzige Wind, der vom Meer herweht, und die eisige Frische des Bades, das ich im See nehme, gleichzeitig spüre ich die Wärme des Feuers, die sich wie ein samtener Mantel um meine Schulter legt. Ihre Lippen lösen sich von den meinen, und ich zersplittere.
„Nun, da Ihr Euren Preis gezahlt habt, vertrauter Fremder, sollt Ihr auch vernehmen, was es mit diesem Hause auf sich hat: aus allen Berührungen, die ein Mensch erfährt, seien es die Reize der Natur, seien es die kunstfertigen Erzeugnisse aus seiner eigenen Hand, seien es die Liebkosungen seiner Nächsten, wird hier ein edles Tuch gewebt, und alle Tücher aller Menschen, die jemals gelebt haben, bilden dieses Haus. Seid froh, daß Ihr nur einen kleinen Teil Eures eigenen Tuches gespürt habt, sonst wärt Ihr vergangen. Doch nun sollt Ihr auch meinen Ratschlag hören. Er lautet:
Was weht, steht still
Wer liebt, der will
Berühret sein –
Bleibt doch allein!
Nehmt dies auf Euren Weg mit, und verlaßt die Stadt vor Anbruch des Morgens!“ Mit diesen Worten im Ohr stolpere ich aus dem Tuchgewirr und begrüße den ausgetrockneten Graben rechts der Straße als guten Freund. Ob er wohl des Nachts träumt, er sei ein reißender Fluß?
Fast ist es schon Nacht geworden, und über die Stadt senkt sich eine eigenartige Stille, die nur ab und an von einem trockenen Rascheln unterbrochen wird, als ob sich Ungeziefer oder Mäuse ein Stelldichein gäben. Ich schlendere ziellos durch die Straßen, bewundere an der einen Ecke einen kunstvollen Brunnen aus ineinander verschlungenen Efeuranken, welche aber durch keinen Draht und keine Strebe gehalten werden, sondern sich vollkommen frei in die Luft erheben; an einer anderen Ecke bleibe ich erstaunt vor einem steinernen Baum stehen, der bis in die dünnsten Äste und feinsten Blätter einem lebendigen Baum nachempfunden ist, ja dessen Wipfel sogar im Winde leicht zu schwanken scheint. Ich biege in eine dunkle Gasse ein, an deren Ende ich ein einladendes Flackern wahrnehme. Ein Wirtshaus, an dessen Eingang freundliches Fackellicht angebracht ist, um dem einsamen Wanderer in dieser Stadt den Weg zu weisen? Doch nein, je näher ich dem unsteten Schein komme, desto unnatürlicher und unheimlicher erscheint mir das Flackern, und schließlich stehe ich geblendet vor einem Gebäude, das alle Seltsamkeiten, die mir hier schon begegnet sind, übertrifft. Über einem Mauerring aus dunkel glänzendem Metall erhebt sich eine gewaltige Kuppel aus Stahl, aufgebaut aus unzähligen Facetten, die der gesamten Konstruktion den Anschein eines riesigen Insektenauges geben, das in den Himmel starrt. Doch nicht genug: die Facetten leuchten in unregelmäßigen Abständen auf, wobei manche nur eine schwache Rotglut erreichen, manch andere wiederum in einem blendendem Weiß erstrahlen. So entsteht der Eindruck, als ob der gestirnte Himmel in ein lebendiges Auge blicke, das auf jeglichen Reiz, den es empfängt, mit einem neuen, vorher nie dagewesenen Muster reagiert. Begleitet wird dies erstaunliche Schauspiel von einem ungeheuren Lärm: die Metallfacetten dehnen sich in ihrer Glut aus und ziehen sich wieder zusammenziehen, so daß die Kuppel in einer Kakophonie metallischen Kreischens und Stöhnens erbebt. Was mag hinter diesem fremden Auge aus Glut und Hitze vorgehen? Welche Welt schaut es an? Die unsere?
Eine Tür öffnet sich im Mauerring, und eine wohltönende, volle Stimme spricht: „Ich sehe, Fremder, daß Ihr mit Wohlwollen mein Wunder hier betrachtet. Wollt Ihr wissen, wozu dies alles dient?“ Ich antworte: „Gewiß doch, aber wollt Ihr Euch nicht zeigen, damit ich weiß, wer Ihr seid?“ – „Nein, ich darf mich Euch nicht zeigen, denn bei meinem Anblick würde Eure Seele vor Liebe verbrennen. Doch hört mir gut zu: dies Auge betrachtet alle Freuden und alle Leiden der Menschen, und wenn eine Freude oder ein Leid besonders groß ist, dann weint es eine Träne aus glühendem Metall. Diese Träne fällt in ein Wasserbecken und kühlt ab, und jedes Jahr verkaufe ich die erstarrten Tränen an einen Händler, der sie wiederum den Menschen weitergibt. So kommen die erhabensten Gefühle der Menschen wieder an sie zurück.“ Als ich diese Worte höre, rufe ich aus: „Törichtes Weib! Wißt Ihr nicht, wozu die Menschen diese Tränen verwenden? Sie fügen sich damit nur um so mehr Leid zu!“ Ein erbitterter Unterton mischt sich in ihre Stimme: „Ach, wenn sie nur könnten! Dann wäre meine Arbeit hier wenigstens nicht umsonst.“ Ich antworte voller Zorn: „Verblendet seid Ihr, und Habgier schwächt Eure Urteilskraft. Ihr verkauft mit Euren Tränen den Tod!“ Wütend gibt sie zurück: „Ich dachte, Ihr wüßtet mittlerweile, daß meine Tränen nicht töten können. Doch seid Ihr unwissend, solltet Ihr Euch vorsehen, mein Tun zu verurteilen.“ Ihre Stimme besänftigt sich, und sie fährt fort: „Ich möchte aber dennoch nicht, daß Ihr in Unfrieden geht, deswegen biete ich Euch einen Versöhnungskuß an. Vielleicht behält mich dann wenigstens Euer Herz in guter Erinnerung, wenn Euer Verstand mir auch zürnt. Doch seid gewarnt: Euer Herz könnte zu Eurem ärgsten Feind werden, deswegen überlegt gut. Wollt Ihr mich küssen?“ Ich zögere zunächst, da ich nicht weiß, ob ich der Unbekannten vertrauen kann, andererseits: wie sollte ich ein solches Angebot ausschlagen? So entgegne ich: „Wenn Ihr die Wahrheit sprecht, so mag es denn sein. Ich möchte Euch nicht zum Feind haben, und mein Herz pocht, wenn ich daran denke, daß Euer Kuß genauso leidenschaftlich wie Eure Rede sein könnte!“
Ich trete einen Schritt auf den Mauerring zu, und schon ergreift mich eine Hand und zerrt mich mit sanfter Gewalt durch die Türöffnung ins Innere. Geblendet schließe ich meine Augen, doch selbst durch meine Augenlider hindurch nehme ich schemenhafte Flächen wechselnder Intensität wahr, welche sich in einem wilden Reigen um mich herum bewegen. Unmerklich wallt Hitze auf mich zu: zuerst die angenehme Hitze eines Frühlingstages, die noch etwas unsicher auf den Beinen ist und in kindlichem Spiel vor dem Schatten eines erblühenden Baumes davonläuft, dann die aufbrausende Hitze einer Liebesnacht im Frühsommer, die ankämpft gegen einen milden Luftzug, welcher durchs offene Fenster hineinweht, schließlich die träge Hitze eines Hochsommertages, die sich wie eine Riesenschlange um Arme, Beine und Brust windet, bis keine Luft mehr zum Atmen bleibt. Gerade meine ich, Licht und Hitze könnten sich nicht mehr steigern, ohne daß ich erblinde oder zu Asche zerfalle, da sehe ich durch meine geschlossenen Augenlider, durch meine Hände, die ich losgerissen und vor meine Augen gepreßt habe, wie eine Sonne geboren wird und vom Himmel ins Meer fällt. Über mir flackern in grellen Blitzen Myriaden von Fünkchen auf. Sie umkreisen einander zunächst, vereinigen sich, streben wieder auseinander, bis sie sich zuletzt zu einem Punkt noch unerträglicherer Helligkeit verbinden. Dieser Punkt wächst langsam an, senkt sich herab und berührt schließlich einen Horizont, der die neu entstandene Sonne mit einem Male verschluckt, wobei Schwaden von Wasserdampf freigesetzt werden. In diesem Dampf verliere ich vollends die Orientierung, so daß ich hilflos durch ein Meer aus waberndem, blendendem Licht wate.
Plötzlich verspüre ich einen scharfen Schmerz an meiner Wange, als ob mich ein glühender Draht gestreift hätte. „Vermeidet es, meine Haare zu berühren, während Ihr mich küßt!“ flüstert mir eine Stimme ins Ohr, und kaum habe ich mich umgedreht, fühle ich schon ihre begierigen Lippen auf den meinen. In diesem Augenblick fließt alles Licht und alle Hitze von außen in mich hinein und verwandelt sich in ein Übermaß an Leidenschaft, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Ich fühle den erstaunten Triumph eines Kriegers, der eben seinem Feind den tödlichen Stoß versetzt hat, zugleich die Verzweiflung eines Mädchens, deren Tränen den letzten Brief ihres verschollenen Geliebten benetzen, die Schande einer Hure nach ihrer ersten Liebesnacht, den Stolz eines Bettlers, die Angst eines Königs, die Liebe einer Mutter. Unfähig, dies alles auf einmal zu ertragen, reiße ich meine Lippen von den ihren los, worauf sie mich noch näher an sich heranzieht und wispert: „Aber, aber, ich habe doch noch ein besonderes Geschenk für Euch! Kommt her!“ Nochmals verschweißen unsere Lippen miteinander, obwohl ich mich wehren will, laut aufschreie, mich in ihren Armen hin- und herwerfe, zwecklos. Wieder überfällt mich eine Flut von Gefühlen, doch diesmal ist mir, als ob mir diese Gefühle vertraut seien, als ob sie einstmals Teil von mir oder ich Teil von ihnen gewesen sei. Der Wasserdampf hat sich mittlerweile verzogen, und so bin ich wieder in der Lage, meine Umgebung wahrzunehmen. Doch was sehe ich? Zwei sich ineinanderwirbelnde Lavaströme bewegen sich auf mich zu, wollen mich in ihr Zentrum ziehen, mich hinabziehen! Mir wird schwarz vor Augen, denn ich begreife, was ich in diesem Augenblick sehe, was ich in diesem Augenblick verspüre: den Haß und die Liebe der Frau, die ich einst verstoßen habe.
Als ich auf der Straße wieder zu mir komme und mir unsicher meinen Weg ertaste, da ich noch völlig geblendet bin, hallen in meiner Erinnerung Worte wider, die ich wohl in halber Bewußtlosigkeit vernahm, aber dennoch wiederzugeben im Stande bin:
„Unsere Herzen sind wieder versöhnt, Fremder, und deswegen gebe ich Euch noch einen Rat mit auf den Weg:
Was brennt, bleibt neu
Wer liebt, nicht treu
Dein innres Erbeben
Nimmt dir das Leben!
Verlaßt diese Stadt vor Anbruch des Morgens!“
Langsam kehrt meine Sehkraft zurück, während ich durch die Gassen stolpere, und silbernes Mondlicht kühlt die Schemen ab, die sich mir eingebrannt haben und die mir noch einige Male - rot flackernd - den Weg verstellen. Ich verweile lange Zeit an einem Teich und bewundere das muntere Treiben der Schattenfische, ja, ich bin mir sogar fast sicher, daß sie, meine Aufmerksamkeit achtend, meinen Namen ins Wasser geschrieben haben. In einer weitläufigen Parkanlage höre ich die Mondlilien singen und lege mich auf ein Schachbrett aus verwittertem und brüchigen Marmor, um zu spüren, wie die Figuren einer eingebildeten Schachpartie über meinen Körper hinweg steigen. Wer bewohnt überhaupt diese Stadt? Wer ist ihrer Wunder teilhaftig? Wieso bin ich hierher geraten? Meine Haut ist trocken und brüchig, mein Atem rasselt, dennoch erfüllt eine seltsame Leichtigkeit meine Gedanken und meinen Körper, und für einen kurzen Moment bin ich überzeugt, daß der Wind, würde er mir das Mark aus den Knochen saugen und dann in diese hohlen Röhren hineinfahren, mich anheben und über der Stadt schweben lassen könnte wie einen Papierdrachen.
Bevor mich meine Gedanken wahrhaftig davontreiben lassen, erhebe ich mich und folge dem leisen Plätschern von Wasser, das aus der Ferne ertönt. Ein geschwungener Weg führt auf einen Hügel, dessen Spitze von einem gläsernen Gewächshaus gekrönt wird. Was für ein prächtiger Bau! Zwar erscheinen im Mondlicht die kunstvollen Verzierungen der Fassade und die vielgestaltigen Pflanzen, die ich durch das Glas im Innern erkennen kann, lediglich in fein abgestuften Grauschattierungen, doch wie muß dieses Gebäude erst im Sonnenlicht erstrahlen! Auch das gläserne Dach erweckt meine Bewunderung: pagodenartig steigt es in mehreren geschwungenen Stufen nach oben, wobei jede einzelne Stufe wiederum mit Türmchen, Arabesken und Perlen verziert ist. Doch woher kommt das Geräusch fließenden Wassers, das immer stärker geworden ist? Ich möchte mein Ohr an die Glaswand legen, um zu horchen, ob das Geräusch aus dem Innern des Gewächshauses kommt, doch – ich spüre keinen Widerstand! Erschrocken stürze ich durch die Wand und reiße im Fallen eine der Pflanzen mit, welche unter meinem Körper in tausend Stücke zerbricht. Als ich wieder auf die Beine komme, läuft mir Wasser übers Gesicht, und verdutzt betrachte ich die Glasscheibe, durch die ich gefallen sein muß, von innen: sie ist völlig unbeschädigt, und auch das matte eingravierte Ornament ist unverändert. Ich berühre das Glas mit meiner Hand, führe sie widerstandslos nach außen und fühle dabei den sanften Druck von fließendem Wasser auf meiner Haut. Sollte dieses Gewächshaus vollständig aus Wasser bestehen? Und die zersplitterte Pflanze? Ich gehe in die Knie und betrachte die Überreste, die auf dem Boden verstreut sind. Es handelt sich um lauter kleine Eiskristalle, messerscharf gebrochen, und auch die übrigen Blumen, Sträucher und Bäume, die das Gewächshaus bevölkern, sind bei näherer Betrachtung vollständig aus Eis. Was hat mir doch das Mondlicht für einen Streich gespielt!
Auf einmal vernehme ich hinter mir eine Stimme: „Ich gratuliere Euch, Fremder! Wenn Ihr wüßtest, was Ihr gerade zerstört habt…“ Ich erwidere trotzig: „Euer Gewächshaus ist Blendwerk, darum müßt Ihr Euch nicht wundern, daß ich, geblendet vom Schein der Dinge, Euch hier so unvermutet ins Haus gefallen bin. Doch sagt: darf ich mich umdrehen und Euch ins Gesicht sehen?“ Ich spüre, wie sich die Gestalt in meinem Rücken zurückzieht, und zögerlich erhalte ich die Antwort: „Nein, das dürft Ihr nicht, denn bei meinem Anblick würde Eure Seele vor Liebe zerfließen.“ – „Ähnliches wurde mir schon früher gesagt, doch wieso sollte ich dem glauben? Ich scheine dieser Stadt sowieso schon verfallen zu sein, wieso also nicht das Wagnis eingehen?“ Sie gibt mir mit zitternder Stimme zurück: „Sagt so etwas nicht! Noch ist es nicht zu spät für Euch!“ Doch bereits während ich diese Worte vernehme, drehe ich mich zu der Sprecherin um, und was ich erblicke, raubt mir den Atem: vor mir steht eine hochgewachsene Frau in einem schlichten weißen Kleid, und ihre langen schwarzen Haare umrahmen ein Gesicht voller Anmut und Traurigkeit. Über ihr Kleid weht ein leichter Schimmer, wie ihn das Mondlicht auf einer leicht gekräuselten Wasseroberfläche hervorbringt, während in ihrem Haar kleine Eiskristallsonnen funkeln. Ihren Augen, die nicht nur mich, sondern auch dich, Leser, und die ganze Welt anblicken, entschlüpfen zwei Tränen, während sie spricht: „Ihr habt es also getan, nun ist es nicht mehr rückgängig zu machen. Wie kann ich noch verhindern, daß es um Euch geschehen ist?“ Ich antworte: „Sagt mir, wer Ihr seid, und küßt mich, denn geküßt hättet ihr mich sowieso, nun werde ich wenigstens wissen, von welchen Augen ich träumen muß, wenn ich an den Kuß zurückdenke.“ Sie lächelt. „Wer ich bin, müßt Ihr schon selbst herausfinden, doch ich werde Euch zunächst darüber aufklären, was Ihr hier zerbrochen habt in Eurer Ungeschicklichkeit. All die Pflanzen, die Ihr hier seht, entstanden aus den Gedanken von Menschen. Wohlgewordnet wuchsen sie, ein klarer und reiner Gedanke nach dem anderen. Die Erscheinungsformen der Gewächse sind mannigfaltig, und sie wirken, obwohl an Material und Substanz transparent und kristallin, dennoch chaotisch und verwunden. Doch so sind die Gedanken der Menschen, und dies macht jedes einzelne Gesträuch, jeden Baum, jeden Ast für mich zu etwas besonderem. Seht Ihr nun, was Ihr zerstört habt?“ Ich stehe stumm da und betrachte die wundersamen Gewächse voller Ehrfurcht, und auch mir kommen die Tränen.
Tröstend ergreift sie meine Hand und flüstert: „Grämt Euch nicht. Kein Gedanke währt in Ewigkeit, so wertvoll er auch sein mag, und auch meine Pflanzen sind nicht das, was sie scheinen.“ Unversehens liege ich in ihren Armen, und während meine Lippen ihr kühles Gesicht liebkosen, schließlich auf ihre Lippen treffen, verwandle ich mich in eine der Tränen, die über meine Wange läuft. Doch nicht nur das: ich verwandle mich auch in eine der Tränen, die über ihre Wange läuft, verwandle mich in das Wasser, welches das Gewächshaus bildet, fließe um mich herum, sehe mich in meinem Innern stehen, sehe uns in unserem Innern stehen, und zugleich fühle ich die salzige Schwere und süße Leichtigkeit unseres Kusses. Noch schneller wirble ich, lasse die Begrenzungen des Gewächshauses hinter mir und erreiche den Fluß, der durch die Stadt fließt, von dort aus geht es in vielerlei Schleifen und Windungen übers Land zur nächsten Stadt, und von dort aus schließlich ins Meer. Was für eine Freude, so durch den Strom ungeformter, ungeordneter Gedanken zu schwimmen, Gedanken, die eines Tages vielleicht zu einem wundervollen, kristallklaren, verästelten Zweig werden oder gar zu einem breiten, soliden, unverrückbaren Stamm eines Baumes! Was für ein Vergnügen, den Meeresgrund alles Wissens auszuloten, aller möglichen Weisheit, die erst noch im Entstehen begriffen ist, jedoch hier schon wartet, in den vielfältigsten, variationsreichsten, unvorstellbarsten Formen in den Himmel zu wachsen! Was für ein Gefühl, mit den Augen des Wassers zu sehen, die sanfte Berührung des Sturms zu spüren, mit dem Meer ein- und auszuatmen!
Nachdem ich jeden einzelnen versunkenen Schatz gezählt habe, finde ich mich Jahrhunderte später im Gewächshaus wieder. „Ich möchte hierbleiben“, sage ich zu meiner Geliebten, und sie antwortet traurig: „Ich befürchtete, daß es so enden würde. Aber wißt Ihr nicht:
Was fließt, ist starr
Wer liebt, ein Narr
Kein Wissen der Welt
Das nicht zerfällt!
Noch habt Ihr die Gelegenheit, die Stadt zu verlassen! Denkt darüber nach, was ich Euch gesagt habe, und beherzigt die Ratschläge, die ich Euch gegeben habe. Was weht, steht still. Was brennt, bleibt neu. Was fließt, ist starr. Versteht Ihr nicht? Bitte, verlaßt mich, um Eurer selbst willen, und gedenkt dieser Stadt in Euren Träumen!“
Doch ich bleibe ruhig sitzen, und als die Morgendämmerung heraufzieht, blicke ich in das Gesicht meiner Geliebten. Sie lächelt mich an, aber in ihren Augen sehe ich eine tiefe Bitterkeit. Habe ich etwas falsch gemacht? Ein kurzer Zweifel überfällt mich, dann versenke ich mich in das Spiel ihrer Haare und vergesse meine Sorgen. Als schließlich die Sonne aufgeht, fühlt sich meine Seele so leicht, daß sie in den Himmel hinaufsteigen und jauchzen, ja, in raschem Fluge - so schnell, wendig und elegant wie ein Papierflieger - der Sonne entgegeneilen könnte, getragen vom Atem meiner Geliebten. „Es ist zu spät“, höre ich meine Geliebte sagen, aber ich kann sie nicht verstehen. Wieso sollte sie traurig sein? Ich bin bei ihr, ich werde bei ihr bleiben für immerdar, und ich werde sie beschützen vor jeglichem Sturm, vor jeglichem Feuer, vor jeglicher Flut, was da auch komme. Ich bin glücklich.
Epilog
Es war einmal eine Prinzessin, die so anmutig war, daß ihr die Herzen aller Männer im Lande zuflogen. Doch nur drei Bewerber gab es, die sich wegen ihrer edlen Abkunft Hoffnung machen durften, sie zu freien: den Sohn des Windherrschers, den Sohn des Feuerkönigs und den Sohn der Meereskönigin. Als erster versuchte der Sohn des Windherrschers sein Glück, doch von der stolzen Prinzessin wurde ihm beschieden, er sei als Freier ungeeignet, da sie bei ihrer Hochzeit niemanden gebrauchen könne, der ihre kunstvolle Frisur durcheinanderbringe. Erzürnt schickte der Windherrscher einen Sturm über die Stadt, in der die Prinzessin lebte, und ein Drittel der Bewohner ging zugrunde. Daraufhin wagte der Sohn des Feuerkönigs, um die Hand der Prinzessin anzuhalten, doch er erhielt zur Antwort, sie habe keine Lust, sich ihre feinen Hände bei ihrer Hochzeit mit Ruß zu beschmutzen, deswegen sei er als Freier abgewiesen. Wütend schickte der Feuerkönig eine Feuersbrunst über die Stadt, und ein weiteres Drittel der Bewohner ging zugrunde. Schließlich sandte der Sohn der Meereskönigin einen kunstfertigen Brief an die Prinzessin, in dem er sie bat, ihn zum Manne zu nehmen, doch die Prinzessin ließ ihn wissen, als Freier würde sie ihn niemals anerkennen, da sie bei ihrer Hochzeit mit ihren teuren Schuhen nicht knietief im Wasser waten wolle. Erbost schickte die Meereskönigin eine Flut über die Stadt, und das restliche Drittel der Bewohner versank mitsamt der Stadt im Meer. Nur die Prinzessin und ihre gebrechliche Dienerin überlebten im höchsten Turme des Schlosses. Doch anstatt selbst an Land zu schwimmen und Hilfe zu holen, sandte die Prinzessin ihre Dienerin, welche auf halbem Wege ertrank. Im Todeskampf sprach die Dienerin folgenden Fluch aus: Fortan und in alle Ewigkeit solle sich die Prinzessin ihre Stadt, welche sie durch ihren Stolz vernichtet habe, aus Papier wieder aufbauen, so lebensgetreu, daß niemand sie von einer echten Stadt unterscheiden könne. Sei sie einstmals zufrieden mit ihrem Werk, so solle es sofort wieder vergehen, und zwar durch dieselben Gewalten, die sie einst über ihre Untertanen beschworen habe. Auch sei alles, was sie liebe, dazu verflucht, im Verlaufe eines Tages oder einer Nacht zu Papier zu werden.