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Was ist nur mit unseren Dichtern los?
Bericht von Lisa Leisetreterin, Hamburg, 2011
„Einen Scheiß habt ihr die schöne Sprache auf eurer Seite! Gäbe es einen Markt für antike Worte, könntet ihr euer Zeug an Wortmuseen verkaufen. Verschont das Forum vor versfüßiger Tyrannei!“
Irgendein Nerd mit fettigen langen Haaren, vor sich leere, zerdrückte Cola-Dosen und einen beachtlichen Stapel von Schokoriegelverpackungen, brummelte die Worte halblaut in die rauchgeschwängerte Luft eines Internet-Cafes während er sie hektisch in die Tasten tippte.
Das war ja wohl ein Griff daneben, so was gehört ins Klo. Wo liegt der Sinn in eurer modernen Dichtung? Ihr versteht sie doch selbst nicht! erschien die Antwort seines unsichtbaren Gegenübers auf dem Bildschirm des Nerds.
Aber ich kann sie schreiben! tippte der zurück, warf den Kopf in den Nacken und lachte ein wieherndes, irgendwie irres Lachen.
Solche und ähnliche Szenen spielten sich vor wenigen Jahren gehäuft ab.
Aus heutiger Sicht scheint es klar, dass die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Dichterlagern zwangsläufig zu einer zunehmenden Verunsicherung der lyrikbegeisterten Bevölkerung führen musste.
Aussagen wie: „Ich verstehe dieses Gedicht nicht, aber es ist gut“, die vorher bei den Anhängern der Moderne zur Tagesordnung gehört hatten, verkniffen diese sich jetzt ebenso, wie die Traditionalisten nicht mehr das Metrum des Tages zu klopfen wagten.
Man lief Gefahr, von Arbeitskollegen gemobbt oder beim Bäcker nicht mehr bedient zu werden. Niemand wusste genau, zu welchem Lager die jeweils anderen gehörten, schließlich war der Konsum von Dichtkunst eine Angelegenheit, über die man nie gesprochen hatte.
Nur, dass jeder zu irgendeinem Lager gehörte, so viel war mittlerweile klar geworden. Statistische Erhebungen hatten erwiesen, dass 112 % der Bevölkerung Lyrik lasen.
Ein erstaunliches Ergebnis, dessen Aussagekraft nur dadurch gemildert wurde, dass man den Oberstatistiker als alten Ossi und unverbesserlichen Anhänger der Planwirtschaft kannte. Aber auch Gegenerhebungen kamen auf Prozentzahlen zwischen 85 und 90%.
Jeder war interessiert, jeder fand sich auf einmal in einem der beiden Lager wieder, weswegen sich jeder beobachtet fühlte, und dass zu Recht.
Vereinzelte Rufe nach einer Einigung ließen nicht lange auf sich warten. Die Poeten aber machten dicht, zu tief seien die Gräben, behaupteten sie.
Die Lage spitzte sich zu: Fabriken stellten ihre Überproduktionen ein, die Bahn kam nicht mehr zu spät, sondern fuhr gar nicht mehr, sogar die Weltwirtschaftskrise wurde vorübergehend ausgesetzt, weil sich niemand darum kümmern wollte. Welchen Sinn hat eine unlyrische Welt? diese Frage beschäftigte die Menschheit.
Diese Zustände konnten natürlich nicht lange anhalten, die Menschen hielten es einfach nicht aus: Es wurde keine neue Lyrik produziert, weil alle kreative Kraft in Endlosdiskussionen versandete, die als Theoriefäden getarnt wurden.
Massendemonstrationen waren die Folge, auf denen dichterischer Frieden gefordert wurde.
Die BILD-Zeitung titelte hilflos: Was ist mit unseren Dichtern los?
Der Spiegel und andere Blätter seiner Art versuchten den Konflikt mit seitenlangen Artikeln zu erhellen, die entweder niemand verstand oder die zwar ein einheitliches Metrum besaßen, dabei aber nichts neues erzählten. Scheinbar war der lyrische Virus schon überall.
So ging es monatelang bergab, die Zivilisation taumelte bald am Abgrund.
Kurz bevor die Menschheit in Barbarei zurückfiel, versammelte die UNO in einer gewaltigen Kraftanstrengung die federführenden Dichter aller Nationen zu einem Konzil.
Diese federführenden oder tastentippenden Dichter quengelten natürlich herum, als sie aus ihrem natürlichen Lebensraum, also aus abgedunkelten, verrauchten Zimmern gerissen wurden.
Aber die Zeit der Rücksicht auf Künstlerallüren war vorbei, die Weltöffentlichkeit forderte einen Kompromiss, der die Lyriker wieder handlungsfähig machen würde.
Niemand durfte den Ort des Konzils verlassen, bevor eine Einigung erzielt worden war.
Damit die Dichter nicht in Versuchung kämen ihre lyrischen Fähigkeiten für Einflüsterungen oder gewidmete Gedichte zu missbrauchen, will sagen, damit die Wächter unbestechlich wären, wurden blinde und taube Wächter eingesetzt.
Das konnte man zwar dahingehend als Erfolg bezeichnen, dass es tatsächlich nicht zu Bestechungen kam, anderseits waren die auch gar nicht nötig, weil selbst Poeten an diesen Wächtern vorbei schleichen konnten.
Bald fand ein reger Schmuggel ins Innere des Konzils statt, wo sich die Dichter nach anfänglicher Öffentlichkeitsscheu und allgemeiner künstlerischer Zickigkeit höchst amüsiert einrichteten. Sie stellten fest, wie erhebend das Gefühl war, Verantwortung für die Welt zu tragen und wie angenehm, wenn man dazu noch die leckersten Kekse essen und den besten stärksten Kaffe trinken konnte.
Nach einem halben Jahr kamen Abgesandte der UNO und fragten nach dem Stand der Dinge. Sie wurden mit halbgaren Konzepten abgespeist. Die Traditionalisten forderten Gebrauchsanweisungen, die modernen Gedichten beiliegen sollten.
Der wissenschaftliche Berater der Modernen, Cheri von Cännekid, der verdächtige Ähnlichkeit mit einem bekannten Parawissenschaftler hatte, wozu Cheri keinen Kommentar abzugeben bereit war, präsentierte ein obskures Gerät, mit dem das Seelengewicht von traditionellen Gedichten gemessen werden sollte und das Gedichte automatisch zerstörte, wenn sie ein Mindestgewicht unterschritten.
Heimlich lachten sich jedoch die Vertreter beider Lager ins Fäustchen, waren ihnen doch infolge ihrer nunmehr äußerst angenehmen Lebensbedingungen abstrakte lyrische Probleme völlig schnuppe geworden. Die ganze Menschheit schaut auf das Konzil, freuten sich die Poeten und dachten, dass das Schicksal in ihrer Hand läge. Sie täuschten sich.
Denn mittlerweile war eine neue Dichtergeneration herangewachsen, die über den alten Problemen stand oder diese noch vor sich hatte und wieder fleißig produzierte.
Das Leben begann schnell wieder seine alten Bahnen zu nehmen. Fabriken schafften Überproduktion, die Bahn kam wieder zu spät und die Weltwirtschaftskrise nahm neue Fahrt auf.
Davon merkten die Dichter leider nichts, sonst hätten sie ihren poetischen Arsch vielleicht retten können. Ihnen war nach einem knappen Jahr nichts tun und schwätzen tatsächlich langweilig geworden, woraufhin sie sich an die Arbeit machten, dass ihnen aufgegebene Problem zu lösen.
Sie hatten ein kleines Fernsehstudio bei sich im Konzil, wodurch sie im Falle eines Durchbruchs Zugriff auf alle Fernsehkanäle der Welt gleichzeitig bekämen.
Die Welt hatte die Dichter von gestern zwar schon längst vergessen – vielleicht aus Großzügigkeit –, aber die Satellitenverbindung stand noch.
Zur besten Sendezeit unterbrach das Sprachrohr der Musen (wie er sich großspurig ankündigte), der sich als Huhn verkleidet hatte, die Blockbuster, Lindenstraßen und Traumschiffe in aller Welt (ja, gleichzeitig, mithilfe eines Tricks).
Die gemeinsame Zukunft der Poesie liege in der Prosa, jubelte er einem zuerst verwirrten Publikum zu, dass sich aber bald an das Konzil, die drohende Barbarei und die ganze Scheiße zu erinnern begann.
Aufgebrachte Steuerzahler aus aller Welt, die das Konzil bezahlt hatten, rotteten sich zusammen, bewaffneten sich und reisten zum Konzil. Die verblendeten Dichter, die eine begeisterte Masse erwartet hatten und die sich aus Performancegründen als Hühner verkleidet hatten, waren chancenlos.