Mitglied
- Beitritt
- 04.10.2006
- Beiträge
- 221
Ich habe vor ein paar Wochen The Suspicions of Mr. Whicher or: The Murder at Road Hill House von Kate Summerscale gelesen (auf deutsch als Der Verdacht des Mr. Whicher erschienen) und muss zu meinem eigenen Erstaunen feststellen, dass mir dieses Buch, das eigentlich ein Sachbuch ist, insbesondere gegen Ende völlig überraschend sehr nah gegangen ist.
Es geht dabei um einen Mordfall im viktorianischen England, bei dem 1860 ein vierjähriger Junge ermordet wurde. Die damalige englische Gesellschaft hat die Ermittlungen in diesem Fall wie ein Schwamm aufgesaugt, der Medientrubel war für damalige Zeiten immens, die noch junge Kriminalliteratur hat sich damals auch reichhaltig von dem Fall und den Ermittlern wie Zeugen und Verdächtigen "befruchten" lassen. Summerscale arbeitet sehr geschickt, mit den alten Quellen, Polizeiakten, Zeitungsberichten, Zeugenaussagen, Büchern über den Fall etc. pp. sprich: Sie hebt diesen Mord auf eine theoretisierende Ebene und versucht durch die Abstraktion vom dem Verbrechen im Nachhinein aufzuzeigen, was wirklich geschehen sein könnte.
Seltdamerweise schnürte sich mir auf den letzten zwanzig Seiten irgendwie immer stärker alles zusammen, als es um das weitere Leben der beiden Stiefgeschwister des ermordeten Jungen ging und deren möglicherweise Verwicklung in den Mord und die Motive. Im Nachwort wirft sie noch einen letzten Blick zurück in den Autopsiebericht und stellt fest: "When I read [these] words, I was reminded, with a jolt, that the boy lived. In unravelling the story of his murder, I had forgotten him." Da hat es mich dann "erwischt". Ich krieg immer noch feuchte Augen, wenn ich daran denke.
Die traurigsten (i. e. ergreifendsten) Geschichten schreibt offenbar immer noch das Leben.
Gruß
bvw