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Was heute ist, wird morgen gewesen sein
Ich liege mit dem Rücken auf meiner weichen Matratze. In meinen Füßen verspüre ich ein leichtes Kribbeln. Mein Blick schweift in die Richtung der Fenster, die Jalousien sind noch halb geöffnet. Wäre dies ein Film, so würden düstere Wolken mir den Blick Richtung Horizont rauben. Meine Augen sind noch müde von einer Nacht voller unruhigem Schlaf, einer Nacht nach vielen anderen schlaflosen. Immer wieder verlassen meine Gedanken meinen Körper und schweifen ab, genau wie an den langen Abenden nach anstrengenden Arbeitstagen. Manchmal fühle ich mich, als würde ich schweben, als würde ich die Welt und alles Endliche hinter mir lassen und in meinen Gedanken schwimmen wie ein kleiner Fisch in einem endlosen Ozean. In meinem Körper verspüre ich dann hin und wieder Schmerz, der in Hinblick auf diese Ewigkeit langsam zu verblassen scheint.
Ich reibe mir die Augen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich erneut kämpfen muss, um nicht zu spät zu sein. Denn wie so oft hat sich mein Gedächtnis erst zu später nächtlicher Stunde dazu entschieden, dass etwas Schlaf meine zukünftigen Tage etwas erträglicher gestalten könnte. Ich versuche mich aufzurichten, doch meine Beine scheinen mir nicht gehorchen. Ich stütze mich mit meinen Armen auf und rolle mich zur Seite. Auf diese Art gelingt es mir dann doch mein Bett zu verlassen. Doch in meiner Eile stoße ich mein Schienbein gehen den Schreibtischfuß neben meinem Bett. Ein kurzer Laut entweicht meinem Mund, aus Überraschung über den wohltuenden Schmerz, der in meinem Schienbein aufbrennt und sich von dort wie ein Wärmegefühl in meinem Körper verbreitet. Durch tausende von Nervenzellen streift er auch mein Herz. Durch die Gefühlskälte, die ich aufgrund des mangelnden Schlafs und der wenigen Freude meines Lebens ausstrahle, stelle ich mir oft vor, mein Herz wäre aus Stein. Mir ist durchaus bewusst, dass wir nicht mit dem Herzen fühlen, doch die Vorstellung davon finde ich dennoch interessant. Irgendwann einmal muss sich jemand gedacht haben, dass es da irgendetwas besonderes in uns Menschen geben müsse, und wo sollte es liegen, wenn nicht in der Mitte unseres Körpers, an einer zentralen Stelle, dort wo sich das Herz befindet. Genau dort müsse man Schmerz und Gefühle spüren, etwas das den Menschen menschlich macht. Vielleicht wusste derjenige damals noch nicht, dass Schmerz und Leid sowie alle anderen Gefühle lediglich natürliche Schutzmechanismen sind, die stets Teil des Lebens sind. Denn wenn immer man lebt, dann leidet man auch. Nur wer nicht lebt, leidet nicht mehr. Und umso mehr wir uns darauf konzentrieren sollten keine Schmerzen zu empfinden, nicht zu leiden, zu fühlen. Umso mehr werden wir immer wieder von dieser Nebenwirkung des Lebens überrascht. Bis wir eines Tages, vielleicht voller Reue, hoffentlich mit einem Lächeln auf den Lippen vielleicht einen schmerzvollen, hoffentlich einen ruhigen Tod sterben werden, nach dem wir nie wieder dazu verdammt sein werden, etwas fühlen zu müssen.
Jedes Mal, wenn ich mich irgendwo stoße, wenn ich mich zufällig verletze, erinnert mich dieser kurze Schmerz daran, dass auch ich eines Tages nichts mehr fühlen muss. Doch dieser Tag ist leider noch nicht heute, und so dusche ich mich und mache mich frisch. Wie ein tonloser Schwarz-weiß Streifen spielt sich meine morgendliche Routine ab, unterbrochen nur von dem schrillen Ton der Türklingel. Das musste meine Mutter sein. Die Wohnung meiner Eltern befindet sich direkt unter der meinen. Ich hätte diese Wohnung gerne als Höhle, als Rückzugsort, an dem ich nicht sozial interagieren möchte, sofern ich nicht den Wunsch dazu verspüre. Doch leider springt mein Vater, oder meine Mutter bei der kleinsten Abnormität aus dem Sessel um nach mir zu sehen. Meine Mutter ist eine sehr kleine, einst sehr starke und nun nurmehr schwächliche Frau, mein Vater ein Frühpensionierter Lehrer, der das lehren hasste. Seit Jahren betrachten sie die weite Welt nur durch die Gitter ihrer kleinen Fenster und durch das flimmern der täglichen Nachrichten. Sie machen sich ihr Bild der Welt, ein Bild, das sie sich aus erzählten Puzzleteilen zusammenbasteln. Vielleicht ist es besser so. Sie haben ihre aktive Zeit hinter sich. Sie waren meist gute Eltern für mich. Die verbalen Schläge meiner Mutter und die physischen meines Vaters waren selten, meine Schwester kam bei weitem nicht so gut davon wie ich. Dass ich Gesellschaft meide, dafür können sie nichts. Schon seit meiner Kindheit sitze ich die letzten Abende im Herbst lieber am Fenster und blicke dem Winter entgegen, nur um mich dann zu verstecken, wenn er denn wirklich kommt. Immer wieder ließ ich mich auf Menschen, auf Beziehungen ein, nur um mich immer wieder enttäuscht zurückzuziehen.
Erneut klingelt es ungeduldig an der Tür, eiligst knöpfe ich mir die oberen Knöpfe meines Hemdes zu, meinen Rücken laufen noch kleine Wassertropfen hinunter. Auf dem Weg zur Tür erblicke ich eine kleine Schneeschicht im Freien auf der Straße. Der blick meiner Mutter durchbohrt mich und ihre Worte ermahnen mich, dass ich mich beeilen sollte, um zumindest am heutigen Tag nicht zu spät zu kommen. Um 8.00 Uhr hätte ich meine betriebliche Arztuntersuchung und in wenigen Minuten fahre mein Bus. Ich beruhige sie mit den Worten, dass ich bereits dabei bin, die Wohnung zu verlassen und drücke die Tür zu. Ich liebe sie, doch ihr Worte sitzen mir ständig unerträglich im Rücken. Oft wünsche ich, ich hätte einen harten Panzer, eine Schale, dann würde ich ihre sorgenvollen Krallen nicht spüren. Denn in meinem jetzigen Zustand sind sie nichts mehr als eine zusätzliche Belastung die mir an langen Abenden den Schlaf rauben. Denn an diesen langen Abenden denke ich so oft an das was wäre wenn, dass ich beinahe vergesse, warum es denn nicht so ist. Was wäre, wenn ich mir nicht eine Wohnung über meinen Eltern gekauft hätte? Was wäre, wenn ich nicht den sicheren Weg, mit sicherer Arbeit, sicherem Job gewählt hätte und mein Geld in jugendlicher Dummheit für eine Reise verschmissen hätte? Für eine Reise, auf der ich möglicherweise wahre Freunde oder Gleichgesinnte kennengelernt hätte. Was wäre wenn mich nicht ständig solche Gedanken heimsuchen würden? Könnte ich dann ruhig schlafen? Schlaflosigkeit, die mir andere Menschen mit dem ersten Blick auf meine tiefen Augenringe ansehen.
Nicht mehr ganz so verschlafen hetzte ich zur Tür, schmeiße mir einen Schal um den Hals und stecke den Schlüssel in meine rechte Hosentasche. Kurz nach dem Verlassen der Türe erblicke ich bereits den Bus an der nahen Haltestelle und mache mich für einen finalen Sprint bereit. Doch aus der nicht mehr weiten Ferne sehe ich, wie sich langsam die Türen des Fahrzeugs schließen und es im wegfahren seine Spuren im frischen Schnee hinterlässt.
Wie konnte ich nur den Bus verpassen? Hätte ich den Bus erwischt, so würde ich nun ohne Probleme rechtzeitig zur Arbeit kommen, zur jährlichen ärztlichen Betriebskontrolle, einen der wenigen außergewöhnlichen Tage im Leben eines Beraters in einer großen Firma. Nun würde ich nicht erfahren, wer die jährlich wegen Depression oder Alkoholmissbrauch ausgemusterten Mitarbeiter sein würden. Meine Arbeit hat keinerlei Anreiz, der lächerliche Kaffeepausenklatsch tröstet aber zumindest minimal darüber hinweg und macht einen großen Teil meiner sozialen Kontakte aus. Neben dem leichtverdienten, durchschnittlichen Gehalt vielleicht das einzige annähernd amüsante an meiner Tätigkeit, bei der ich lediglich all das machen muss, was mir gesagt wird, dazu hin und wieder überzeugt nicken und möglichst nicht selbst nachdenken, und schon kann man keinerlei Fehler machen.
Oft fällt es nicht einmal jemandem auf, wenn ich übermüdet in mein Bürozimmer eile und mich halbschlafend in meinen Stuhl fallen lasse. Der einzige Tag, an dem mein Nichterscheinen weitreichende Konsequenzen hat, ist der heutige. Der einige Tag, an dem mir das Fernbleiben von der Arbeit wahrscheinlich den Job kostet. Dafür, dass ich unter diesen Umständen soeben meine einzige Möglichkeit in den nächsten zwei Stunden zur Arbeit zu gelangen verpasst habe, erscheint mir mein eigener Zustand erstaunlich ruhig. Ich versuche rational nachzudenken. Eine Hoffnung wäre, dass sich vielleicht ein Auto in diese abgelegene Gegend verirrt hat, das zufälligerweise hält und einen Streuner vom Straßenrand wie mich mit in die Stadt nimmt. Meine Chancen scheinen nicht die besten zu sein. Vielleicht sollte ich ein Stück zu Fuß gehen, möglicherweise treffe ich wirklich jemanden. Wunschdenken, doch viel verlieren kann ich auch nicht mehr. Nach einer guten halben Stunde schmerzen meine Füße. Der Schnee hat sich langsam durch die feste Sohle meiner Schuhe gekaut und verbreitet seine eiskalte Feuchtigkeit auf meinen Zehen. Anders als der kurze, impulsive und warme Schmerz des angeschlagenen Schienbeins ist dieser nun kalt und beinahe schon etwas unangenehm und erinnert mich an mein Ziel. Mit jedem Schritt werde ich mir sicherer, dass ich den Termin nicht mehr rechtzeitig erreichen werde.
Wahrscheinlich wird er nicht mehr lange dauern, und jemand wird zu mir nach Hause geschickt, um sich nach meinem Zustand zu erkundigen. Krank sein konnte ich ja nicht, denn dann wäre ich trotzdem an meinem Arbeitsplatz erschienen, denn wer konnte mir besser zu schneller Genesung verhelfen, wenn nicht der Herr Arzt? Man wird wahrscheinlich denken, ich hätte getrunken und Angst, dass dies dem Arzt auffällt und ich meine Arbeitsstelle verliere. Möglicherweise wird man sogar gemeinsam mit meinen Eltern meine Wohnung nach verstecktem Schnaps oder Tabletten durchsuchen. Ich hoffe der Blutdruck meines Vaters steigt vor Ärger und Sorge nicht zu hoch an, er hatte immer Probleme mit dem Cholesterin. Vielleicht sollte ich nach Hause zurückkehren und erklären, dass alles nur ein großes Missverständnis sei? Dass ich gar nicht getrunken hatte und sogar pünktlich gewesen wäre, wäre nicht der Bus einfach ohne mich gefahren?
Nein. Dazu ist es schon zu spät. Das wäre eine Option gewesen, die ich sofort in Betracht hätte ziehen sollen. Zur Arbeit schaffe ich es jetzt sicher nicht mehr, und nach Hause kann ich auch nicht. Meine Eltern würden mir nie verzeihen, dass ich wegen eines solchen dummen Fehlers meine Gesamte Zukunft aufgebe. Sie würden weinen und schreien und nicht verstehen, wie aus ihrem kleinen, neugierigen, lachenden Jungen so etwas werden konnte. Ich sage nicht, dass es sich schon seit einiger Zeit anbahnte, doch sie würden nicht verstehen, dass mir meine Fixanstellung mit guter Aussicht auf Beförderung vielleicht gar nicht so wichtig ist. Dass sie mir so wenig wert war, dass ich nicht einmal morgens dafür pünktlich mein Bett verlasse. Die anderen Umstände, wie dass ich schon seit Wochen nicht mehr richtig schlafe würden sie nicht in Betracht ziehen, ich habe es ihnen noch nicht einmal erzählt. Meine Mutter, so sehr ich sie auch liebe, ist eine Perfektionistin, die es zu sehr enttäuschen würde, dass ihr Sohn nicht perfekt ist. Sie erlebte bereits bei meiner Schwester alle möglichen Qualen, von psychischen bis physischen Problemen, es gab nichts, was sie nicht mit ihr ertragen und durchstehen musste. Ich sah, wie es sie belastete. Jetzt wo meine Schwester endlich Fuß gefasst hat, konnte nicht ich es sein, der ihr Probleme macht.
Nein, nach Hause, das geht nicht. Nicht heute, nicht morgen, nicht in den nächsten Tagen. Ich hätte meinen Eltern einen Brief hinterlassen sollen. Ich glaube ich gehe für einige Zeit weg, eine kleine Auszeit, wie ich sie schon lange brauche. Was habe ich bei mir? Etwas Geld, meinen Schlüssel. Wo ist mein Schlüssel? Er ist nicht in meiner rechten Hosentasche. Ich war mir sicher, ich hätte in mitgenommen. Wusste ich bereits, dass ich ihn nicht mehr brauche. Wahrscheinlich habe ich ihn lediglich vergessen. Etwas Geld, ja für einen Neustart sollte es zumindest für die ersten Tage reichen. Mein Mutter sagte mir oft, wenn sie über meine Schwester sprach, dass das Leben manchmal, ja manchmal, selbst den Starken besiegt. Vielleicht ist mir das ja wirklich jetzt auch einmal passiert? Ich war immer dieser Starke, bin es immer noch, doch auch ich habe meine Probleme. Auch ich verliere jetzt wahrscheinlich meine Arbeit. Doch eines haben wir Starken an uns. Wir kämpfen uns zurück, ja vielleicht müssen wir Menschen hin und wieder besiegt werden, um nicht zu vergessen, was gewinnen bedeutet. Ich sollte zur nächsten Haltestelle, in einen Bus in eine andere Richtung fahren. Ich hatte einmal viele Freunde. Irgendwann entschloss ich mich, keine mehr zu haben, da ich von jedem einzelnen nur enttäuscht wurde. Doch wenn ich wirklich etwas brauche, nur eine Bleibe für ein zwei Tage, so treffe ich vielleicht jemanden, der mir dies gewährt. So langsam lassen die Schmerzen in meinen Beinen nach. Sie fühlen sich eher taub an, doch die Sonne, die gegen Himmel wanderte wärmt mir jetzt meinen Nacken und scheint mir mit meiner neu geschöpften Hoffnung Kraft zu spenden. Ein Fuß vor den anderen, immer weiter. So langsam verliere ich den Überblick, wohin ich gehe. Da ich aber nicht weiß wohin ich will, stört es mich nicht. Da ich nun nicht mehr im Sinn habe, überhaupt in nächster Zeit zur Arbeit zu gehen, sollte ich auch nicht mehr entlang der Straße gehen, man weiß nie, wer einen sieht. Und die Wege in den nahen Wäldern sind so wunderschön. Schneebedeckte Fichten spenden mir Schutz vor den in den Augen stechenden, im Schnee reflektierten Sonnenstrahlen. Die Uhrzeit habe ich komplett vergessen. Wie im Wahn beginne ich zu Laufen, jeglichen körperlichen Schmerz blende ich aus. Ich bin einer der Starken!
Erst als sich langsam auch die Sonne hinter den Bergen verbirgt, schwinden meine Kräfte. Meine Füße sind blau angelaufen, mein Körper zittert vor Kälte und Anstrengung. Ich setzte mich unter einen Baum, der zunächst noch Schutz spendete, nun aber furchterregende Schatten warf. Trotzdem habe ich ein Lächeln auf den Lippen. Ich fühle mich müde, zum ersten Mal seit Wochen fühle ich mich so, als könnte ich ruhig und schnell einschlafen. Ich hatte es nicht weit geschafft. Langsam realisiere ich, dass eine Nacht, hier im Schnee, bei diesen Temperaturen meinen Tod bedeutet. Kein Neuanfang. Nur ein Ende. Ich bin keiner der Starken, wollte es nie sein. Doch der Kältetod soll ein friedlicher Tod sein. Und aufgeben muss irgendwann einmal jeder. Ich schließe meine Augen. Konzentriere mich auf meinen Atem. Er wird ruhig und flach.
Noch immer kann ich nicht schlafen. Ich liege in meinem Bett. Mein Schädel pocht. Nicht einmal wenn ich mir in meinen Gedanken ein Ende ausmale, bei dem ich keine Schmerzen mehr haben werde, verstummen sie und erlauben mir Schlaf. Vielleicht wird morgen wirklich der Tag sein, an dem all diese Gedanken in Erfüllung gehen, und ich endlich etwas verändere ich endlich nicht mehr existiere, oder meine Existenz nicht mehr als solche wahrnehme. Doch wahrscheinlich erwache ich um 6.30 Uhr aus meinen Albträumen, und erscheine pünktlich trotz Augenringe bei meiner Arbeit. Ich bin wahrlich keiner der Starken.