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Was Heiko sagt, das ist Gesetz!
Was Heiko sagt, das ist Gesetz!
In der kleinen Hofpause berichtete ich vorm Goethestein vom Eldorado und breitete meine Schätze aus. Das Gesicht von Heiko zeigte deutlich, ihm gefiel einfach generell nicht, wenn ich etwas erzählte und hatte sogleich den Einwand: „Man darf aber nur mit Zeug kaupeln, das man auch selber ausgewickelt hat.“
Der lange Andi pflichtete bei, wie immer, wenn Heiko was sagte: „So ist nun mal die Regel.“ - „Die Regel, die Regel“, äffte ich nach und sammelte meine Papierchen ein. Von der Regel hatte ich noch nie gehört aber man konnte ja nicht alles kennen.
Also tauschte ich heimlich nur mit Ronny aus der Fünften Klasse Hanuta- gegen Duplopapier. Sich mit Schülern aus tieferen Klassen abzugeben, verstieß aber gegen etwas viel Wichtigeres.
Es hieß, wer mit denen spielte, der wurde verstoßen und konnte auch gleich sitzenbleiben.
Obwohl nicht eine einzige dieser fiesen Einfälle von mir stammte, sondern Heiko sie hatte, vermerkte die Beurteilung am Ende des Schuljahres ausgerechnet auf meinem Zeugnis, dass ich mich nicht kameradschaftlich verhalten würde.
Das machte mich wütender als die Vier in Mathe. Aber der Gipfel war, dass Heiko auf dem Zeugnis nur gelobt wurde, wie er sich als Pionier engagierte und sich stets auch um seine Klasse bemühte. Heiko wurde einfach nur bewundert, weil er so viele Westpakete bekam, vielleicht hat er mir einmal ein Stück Milka angeboten, aber das war auch schon Alles.
Es ging ganz schnell, zur Strafe hatte ich aus seiner Eins in Mathe eine vier gemacht, mit meinem Füller einfach einen Querstrich dazu gesetzt. Urkundenfälschung auf dem Zeugnis, dass sollte mir erst mal wer nachmachen!
Aber die Zensuren steckten in Klarsichthüllen, der Strich ließ sich bis auf einen dünnen Schatten wegwischen.
Mit Beginn der großen Ferien trafen wir uns nicht mehr am Goethestein, sondern sammelten uns im Park, wo die Feuerwanzen unter den alten Bäumen kopulierten.
Dort ließ sich Heiko einfallen, ich dürfte nicht mit im Park rumstehen, weil ich keinen Walkman besaß.
„Also...“, sagte der lange Andi „Walkman oder hau ab“.
Ich wollte kein Außenseiter sein und lag Opa in den Ohren unbedingt einen Walkman haben zu wollen.
Aber woher nehmen, ohne Republikflucht zu begehen, die gab es einfach nicht auf dieser Seite der Welt.
Opa streckte seine Fühler aus, und Hilfe nahte.
Es traf sich, dass unser Nachbar Ronny, der aus der Fünften, Verwandte in Holland hatte. Eine längerer Funkstille war vorbei, die letzten zwei Jahre nach Tschernobyl hatten die Holländer Angst vor der Radioaktivität und ließen die Besuche ausfallen. Nun sollte endlich dieser Onkel aus Amsterdam kommen um neue Geschäfte abzuschließen.
Er hatte zum Beispiel vor Jahren einmal die Mannecken Piss Figur mitgebracht. Inzwischen hatte mein Opa hunderte Abgüsse davon angefertigt und sich durch den Verkauf überall in der DDR so manchen Luxus leisten können, nicht zuletzt seinen Wolga GAZ 24. Deswegen freute er sich auch, als der beigefarbenen Ford Granada mit viel Rost an den Kotflügeln in der Schlippe parkte.
Zwei blonde kleine Mädchen saßen auf der Rückbank. Ich blieb bei aller Euphorie die Opa an den Tag legte in Deckung, was mir meine Pionierleiter-Tante im Ferienlager zu den Kontakten nach Westen eingebläut hatte, galt erst recht zu Hause. Außerdem niemand der Gäste trug einen Walkman, den man abschwatzen konnte.
Die Mädchen sprachen kein Wort Deutsch oder wollten einfach nicht. Nachdem der Onkel mit einem piependen Geigerzähler eine Stelle auf der Wiese untersucht hatte und keine schädliche Dosis festgestellt hatte, spielten die Mädchen den ganzen Urlaub mit ihren rosa Gummi-Ponys von Matell nur dort.
Ronnys Vater hatte bei der Ankunft seines Bruders die Holland Fahne in den Birnbaum gehisst, die hatte Ronnys Mutter aus drei Streifen Stoff zusammengenäht, es musste ein weißes Bettlaken, eine blaue Flagge der jungen Pioniere und eine rote der Arbeiter dran glauben. Aber an Fahnen mangelte es nie in der DDR.
Der Holland Onkel hatte irgendwas für Computer im Handgepäck, ich dachte diese Disketten braucht kein Mensch, hätte er mal lieber Schokolade mitgebracht. Seine Disketten waren so groß wie Langspielplatten, die verkaufte er im Elektro-Laden. In meinem Lieblingsgeschäft holte ich dünne Kabel, die paar Mark war mir der Spass wert. Denn Ronny und ich planten ein bisschen Grusel in den Alltag einzubauen.
Aus dem Film „Flucht vom Planeten der Affen“ hatte Ronny vom Fernseher Affenschreie auf Kassette aufgenommen. In der Nähe des Birnbaums, wo die Mädchen spielten, versteckten wir das lange Kabel und einen Lautsprecher im hohen Gras. Wir spielten die Schreie erst ganz leise ab, drehten kurz laut und ließen dann wieder unheimliche Ruhe einkehren. Anschließend spielten wir das Geräusch der riesigen Dreibeiner ab, als würden die jeden Moment über den Dächern der Schuppen auftauchen und Jagd auf kleine Mädchen machen.
Damit hatten wir sie dazu gebracht, ängstlich ins Haus zu hasten und wenigsten irgendeine Reaktion hervor gerufen, als gar keine. Der Onkel fand das sehr lustig und überlegte lange, was er von dem armseligen Zeug aus den Läden in der DDR in seiner Heimat weiterverkaufen konnte.
Seine Wahl fiel schließlich auf Spieluhren aus dem Vogtland.
Während des Besuchs kamen eines Abends die Erwachsenen in Bierlaune auf die Idee, dass auf der Rückfahrt nach Holland die Mädchen hier bleiben würden und Ronny und ich nach Amsterdam fahren, um uns alles mal anzuschauen.
Wenn wir wollten, konnten wir uns dann bei Woolworth Walkmans kaufen, dort waren sie erschwinglich. Der Onkel aus Holland bestärkte uns immer wieder: „Da hat noch nie ein Grenzer die Kinder kontrolliert, sie schauen zwar in die Ausweise, aber ob da nun zwei Mädchen oder zwei Jungs auf der Rückbank schlafen, fällt nicht auf.“ Alle prosteten sich auf diesen genialen Plan zu.
Das Ganze sollte ein großes Abenteuer werden, das jeglichen Quatsch aus Heikos Westpaketen in den Schatten stellen konnte. Dafür hätte ich sogar meinen bevorstehenden Trip ins ORWO Ferienlager an der Ostsee sausen lassen.
Plötzlich war ich mit Ronny bestens befreundet, der mich sonst nie interessiert hatte, hatte keine Ambitionen mehr im Park zu stehen. Wahrscheinlich hätte der Onkel aus Holland schon lange lieber Söhne gehabt, als seine beiden Mädchen, sonst wäre er nicht darauf gekommen. „Vielleicht waren die Mädchen Kuckuckskinder und er will sie hier bei uns loswerden.“, unkte Opa.
Ronny und ich nahmen uns vor, wenn wir dann erst mal in Holland sein würden, könnten wir abhauen, uns verstecken, dort bleiben, vielleicht Frau Antje besuchen, es wenigstens bis zum Geburtstag aushalten um dann mit Westgeschenken nach Hause zu kommen.
Tagelang hatten wir schon nicht mehr darüber geredet, ich hatte mich nur mal erkundigt, wie schnell der Granada denn fährt, aber dann nicht das Gespräch auf unsere Reise gelenkt. Als der Gedanke schon mehr als vertraut war nach Holland zu fahren, kam uns die Abfahrt in die Quere.
Kurzum eines der Mädchen machte alles zunichte, als sie akzentfrei den Spruch brachte: „Träumt weiter, wir bleiben doch niemals in der Zone“. Dann nahm sie ihren Platz auf der Rückbank ein und würdigte uns keines Blickes mehr.
Niemanden überraschte es, dass die nicht ausgetauscht werden wollten. Da konnte selbst der Onkel nichts machen.
Er versprach uns aber in vier Wochen wiederzukommen mit einem dutzend Walkmans. Den Sonderpreis von hundert Mark sollten wir dafür bezahlen, die anderen zahlten sonst das doppelte, rechnete er vor, wobei sein Goldzahn blitzte.
Ronny und ich suchten nach Möglichkeiten, die hundert Mark in vier Wochen zu verdienen. Flaschen und Papier, die Mengen die wir brauchten, mitten in der brütenden Hitze, das war unmöglich zu sammeln.
Ich zweifelte ob dieser Aufwand lohnte, um an den blöden Walkman zu kommen, letztlich nur damit ich im Park stehen konnte. Ich war auch ohne Walkman zufrieden gewesen. Außerdem ließ sich Heiko mit Sicherheit die nächste Regel einfallen und dann brauchte ich das Ding gar nicht mehr.
Aber die Sache lief schon, dafür sorgte Ronny. In der Gartenanlage am Busch pflückten wir Blumen, die durch die Zäune auf den Weg wuchsen. Wir verkauften sie am Friedhof. Der Aufwand war überschaubar. Machte aber bald Schule unter Ronnys Freunden, die alle einen Walkman wollten, so dass bald alle Sonnenhüte und Mädchenaugen weg waren, die laut Gartensatzung gar nicht auf den Weg wachsen durften. Nun beugten wir uns über die Zäune und rupften Lilien ab. Dabei erwischte uns ein Gartenbesitzer.
Wir flüchteten, doch auf allen Wegen erschienen, wie abgesprochen die Laubenpieper, in abgetragenen Arbeitsjacken, mit Spaten bewaffnet und veranstalteten eine Treibjagd. Nachdem wir eingekesselt worden waren, führten sie uns Richtung Gartenlokal, dort wollte der Vorstand der Gärtner die Polizei rufen. Einer fing an zu jammern und bettelte: „Bitte keine Polizei! Nächste Woche ist doch meine Prüfung für die Sportschule, da darf nichts vorgefallen sein. Sonst kann ich mir Olympia aus dem Kopf schlagen.“ - „Das hättest Du dir früher überlegen sollen!“, meinte der alte Anführer hart.
Angekommen am Lokal, kullerten bei dem einen die Tränen, das zog. „Na dann wollen wir mal nicht so sein!“, beruhigte ihn der Alte, der beim Anblick des Häufchens Elend seinen Frieden in die Augen zurückgewann. Der Junge weinte weiter vor Erleichterung.
„Niemand hier will dein Leben wegen ein paar läppischer Blumen ruinieren!“ - „Oh Danke“ freute er sich. „In Ordnung.“, sagte der Alte. „Aber ihr müsst uns bei allem was euch lieb ist versprechen, nie wieder zu stehlen.“.
Wir schwörten es und durften gehen. Die Gärtner überließen uns sogar die Sträuße. So schlurften wir in Sandalen geknickt aus dem Busch zurück, uns begleiteten die Tadel der Kiefern, die vor uns herunter prasselten, tausende kleiner Nadeln säumten den Weg, gaben freies Geleit.
Um ein Haar wäre es mir schlecht ergangen, dachte ich und das nur um Heikos Regel einhalten zu können. Ich verlor jegliche Lust am Friedhof darauf zu warten, dass uns jemand die Lilien abkaufte. Auf dem Heimweg nahmen wir die Abkürzung über den Schulhof, alles lag in einem staubigen Sommerschlaf. Nach vorn traten wir auf die Hauptstraße.
So ein Zufall! Gleich gegenüber schritt feierlich im Frack aus dem Standesamt der Mathelehrer, der mir die Vier verpasst hatte.
Offensichtlich war er frisch verheiratet. Es waren neue Alu-Pfennige, welche die noch richtig silbern glänzten, die er und seine Braut von der Treppe auf uns warfen. Wir ließen die Blumen fallen und stürzten uns auf das Klimpern. Nachdem alle Münzen in unsere Hosentaschen verstaut waren, hoben wir auch die Blumen wieder auf und schenkten sie dem Brautpaar.
„Hast Du sie noch alle“ zischte Ronny, als er merkte, dass der geleuterte Junge anfing zu plappern. Doch der war nicht mehr aufzuhalten, ehrlich auf die Nachfrage zu antworten, dass die aus der Gartenanlage stammten. Der Mathelehrer war entsetzt, wendete sich sogar von seiner Braut ab. Mir kam es so vor, dass er sich wieder scheiden lassen wollte.
Er schaute mich an, den Ältesten, zischte böse: “...Nicht nur dumm, jetzt auch noch ein Dieb!“. Seine Empörung brachte alles dazu, sich um unendliche Dezimalstellen abzuwenden, Wände, Steine und sogar die Postsäule nahmen vor uns Reiß aus und das nur weil einer das Maul nicht hielt.
Wir mussten uns Moralgeschwätz anhören.
Erst als wir schwörten, rückten die Häuser, Bartsch der Eisenwarenhandel und der Schulbäcker wieder einen Zentimeter zusammen. Jetzt hasste ich mich und den Wunsch im Park zu stehen.
Am Ende des Sommers bekam ich meinen Walkman, als ich schon gar nicht mehr damit rechnete. Opa legte auf das spärliche Blumengeld den Großteil obendrauf, wie bei fast allem die übrigen Jahre bis zu seinem Tod.
Ich kannte nie Mangel, es war eher das Gefühl, dass die vielen Beisteuerungen etwas Unanständiges hatten. Ich befürchtete als fauler dummer Iwanuschka zu enden.
Ohne einen gewissen Mangel, würde man wohl aufhören zu träumen.
Trotzdem ich den Walkman fast nicht selbst bezahlt hatte, wurde ich das ungute Gefühl nicht los, dass sich Ronny auf unsere Kosten bereichert hatte und darum begann wieder eine Zeit, in der ich mich überhaupt nicht mehr für ihn und seine Kollegen interessierte. Der eine schaffte es nicht zu Olympia, nicht mal in die Sportschule und löschte bis heute den Durst bei der Feuerwehr.
Als ich das erste Mal mit meinem Walkman in den Park schlenderte, trat das in Kraft, was ich erwartet hatte, die neuste Regel.
Irgendwann kam das Grüppchen aus meiner Klasse vom Kino. Alle trugen Kopfhörer und bezogen an ihrer Bank Stellung. Ich schlich mich über die Wiese, aus dem toten Winkel, in ihre Richtung. Die Mädchen rund um Kristina erschreckten sich derart, dass sie krietschend fast von der Lehne rutschten, als sie mich mit Kopfhörern sahen. Die Jungs schauten aufmerksam, reckten ihre Köpfe nach oben aus den Kragen ihrer Jacken.
Heiko legte ein überhebliches Grinsen auf und tönte seiner Disko in den Ohren angemessen übermäßig laut:
Nur wer eine Freundin hat, darf in den Park. Ich sagte: „ Andi da, der hat auch keine Freundin, wieso darf der?“
Heiko log wieder lauter als nötig: „Die kommt noch, wir warten alle.“ - “Die will ich aber auch sehen. Passt auf ich schaue mir das Ganze von da unten an“, spottete ich und ging zum Parkausgang. Am liebsten hätte ich noch ganz andere Dinge gesagt, aber zu viel meldete sich gleichzeitig zu Wort, platze stumm zu Spuckebläschen auf den Lippen. Fast hätte ich die Kabel aus den Kopfhörern gerissen und das Gerät gegen einen Baum geworfen, aber dafür war ich zu kontrolliert.
Erschöpft lehnte ich eine ganze Weile am steinernen Pfosten, der früher Mal das Tor hielt, mit dem der Friedhof abgesperrt wurde, denn das war der Park einmal, bis die Gräber auf das größere Areal nach Krondorf umzogen.
Ich blickte den Hang hinauf, die Gruppe verharrrte unbeeindruckt unter ihrer Musik. Gleich neben mir war das Haus des Schuhmachers. Es war so gedrungen, dass ich die Dachziegel berühren konnte. Es schien mit seinem bröseligen dunklen Putz sehr alt zu sein. Auf der linken Seite gab es ein Kastenfenster voll gelber Vögel, die zwischen Zweigen zwitschten. Dahinter saß im Neonlicht der faltig gegerbte Schuster inmitten sonderbarer Werkzeuge und klebte geduldig Sohlen. Der verspürte keinen Wunsch bei irgend wem dabei zu stehen?
Ich weiß nicht mehr was mich in dem Moment mehr faszinierte, der Weißhaarige in seiner kontempaltiven Ruhe oder die leuchtend gelben Vögel.
Als die oben merkten, dass ich wirklich die ganze Zeit harrte und starrte, hoben alle ihre Hörer der Reihe nach von den Ohren, teilten sich etwas mit, blickten zu mir und brachen auf.
Es war in dem Moment so nachhaltig, mir den Rücken zu kehren, als würden sie sich nie wieder umwenden. Als zogen alle unerreichbar weit von mir weg. Wie Mauersegler, die sogar im Schlaf in der Luft bleiben konnten. Ich nahm mir vor, zukünftig nichts zu investieren, dazu gehören zu wollen.
Als neuer König des Parks konnte ich hier machen was ich wollte, drückte auf Play und Tanita Tikaram sang nur für mich schön traurig: „more than twist in my sobriety“. Es war ein gutes Gefühl bei mir zu sein, die Welt draußen wurde so unwichtig. Selbst als die Feuerwehr am Rand vom Park ausrückte, stellte ich die Musik nicht ab.