Was die anderen über mich denken
Mein Lehrer sagt: „Schreiben Sie auf, wie Sie Ihrer Meinung nach von anderen gesehen werden!“ Ich nehme meinen Stift und starre auf das weiße Blatt Papier, das vor mir liegt. Ich weiß nicht, was die anderen über mich denken. Wahrscheinlich nicht mehr, als sie über andere denken. Und der eine sagt: „Der ist schon okay.“ Und der andere sagt: „Was will dieses Arschloch?“ Und der dritte sagt: „Eigentlich kann ich gar nichts über dich sagen.“ Und irgendwo dazwischen bin ich, ist die Wahrheit, ist das Bild, dass ich „Ich“ nenne.
Wie wirke ich auf die anderen? Auch das weiß ich nicht. Aber ich nehme an, dass ich immer fröhlich und heiter wirke – denn das bin ich meistens. Oder besser, das war ich meistens. Denn ich bin nicht mehr wie früher. Wer ist das schon? Aber kann man es hinnehmen, dass man depressiv wird? Früher war ich immer gut drauf – nicht ganz früher, aber vor einem guten Teil meines nicht grade ewigen Lebens. Ich bin aus dem Bett gekrochen, habe mich ins Badezimmer geschlichen, meinen Kaffee getrunken. Diese Zeit war die, in der ich griesgrämig war. Doch schon auf dem Weg zum Bus hatte ich mich bereits wieder mit den Ungerechtigkeiten des Lebens abgefunden. Und so ging es den ganzen Tag. Ab und an gab es auch einmal Streit, ja, aber ich kann eigentlich niemandem böse sein. Und das war mein Leben.
Und dann ging ich weg und ich war in der Fremde und ich bekam Heimweh. Nein, ich wurde melancholisch. Oder noch besser gesagt: Meine melancholische Ader war plötzlich meine Hauptschlagader. Und ich bekam Probleme mit dem, der sich mein „Freund“ nannte. Wir sind nie welche gewesen, wir waren die beiden Menschen die zusammen fanden, weil sie sonst niemanden hatten. Zumindest nicht die eine Hälfte des Tages. Und ich begann an mir zu zweifeln. Stärker als zuvor, als ich den Zweifel einfach wegschob und tief in mir drin versteckte. Und ich saß da und ich wollte nicht mehr ich sein.
Wer Selbstzweifel kennt, weiß, dass sie die Seele verätzen. Wer Selbstzweifel hat, weiß, dass alles gegen einen spricht. Selbstzweifel sind das schlimmste aller Gifte. Und auch in dem Moment, in dem ich merkte, dass ich Recht hatte, konnte ich mich nicht freuen und die Zweifel besiegen, denn vielleicht bildete ich mir das auch nur ein?
Und ich kehrte zurück und alles war gut. Und ich kam zurück und alles war gut. Und ich bin zurück und es ist vorbei. Denn in einem Jahr hatte ich mehr dunkle Phasen als mein ganzes Leben zuvor. Von der ersten ging es in die nächste ging es in die übernächste. Doch warum bin ich depressiv?
Ich bin depressiv, weil ich Angst habe. Wovor? Davor, meine Freunde, meine sozialen Kontakte zu verlieren. Warum? Weil ich es mir einbilde. Ich kann es nicht begründen, aber ich lebe in der Angst, meine Freunde könnten sich von mir entfremden. Das wird vielleicht tatsächlich irgendwann passieren. Aber ich glaube, dass es jetzt, grade jetzt in diesem Augenblick passiert. Und warum grade jetzt? Ach, es gibt da so Anzeichen… Was für Anzeichen? Naja, mich mag doch sowieso keiner. Willst du einen blöden Versprecher auf die Goldwaage legen? Brauch ich gar nicht, weil mich ohnehin niemand mag. So? Und ich werde doch nur ausgenutzt. Ach ja? Und dann lacht mich mein inneres rationelles Ich aus. Und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, denn: Es hat Recht. Es hat verdammte Scheiße Recht! Wieso rede ich denn nicht mit meinen Freunden, wenn ich das alles glaube? Wieso jammere ich rum, dass ich immer nur zu Hause hocke, wenn ich doch die Leute anrufen und auf ein Bier einladen kann? Warum versuche ich mich immer für jede Person so zu geben wie ich glaube, dass sie mich haben will, wenn ich mir damit doch nur mein eigenes Bein stelle? Wieso rede ich davon, dass sich meine Freunde zurückziehen, wenn eigentlich ich derjenige bin, der sich zurückzieht? Warum möchte ich, dass mich jeder mag? Warum jammere ich, dass ich keine Freundin hab, wenn ich eh nie ein Mädchen anspreche? Warum, wieso, weshalb?
Weil ich es nicht kann! Ich kann es einfach nicht! Ich bin ein sozialer Krüppel. Ich kann zu niemandem hingehen und ihm sagen: „Du bist mir wichtig!“; ich kann nicht offen auf die Leute zugehen, schon gar nicht auf Mädchen. Ich habe Angst, Angst vor Zurückweisung. Ein Teufelskreis! Und ich sehe diesen Teufelskreis und ich will schreien, aber nicht mal das kann ich. Und das ist mein Problem.
Und wie oft habe ich mir gedacht: „Ich muss hier raus, frische Luft schnappen!“ Ein paar Tage mit dem Rad einfach immer weiter geradeaus fahren. Mit dem Zug. Eine Woche, einen Monat, ein Jahrzehnt. Und ich fühle mich besser. Aber trotzdem lacht mich etwas in meinem Hinterkopf aus und sagt: „Das machst du ja doch nicht!“ Und ich habe Angst, dass ich eines Tages wirklich abhaue. Einfach um diese Stimme zum Schweigen zu bringen, die mir seit einem Jahr keine Chance lässt, einmal gedanklich auszubrechen.
Und weil ich keine Möglichkeit sehe, mich zu artikulieren, sitze ich da wie ein Häufchen Elend und will einfach nur in den Arm genommen werden. Einfach nur einmal gedrückt und keinerlei Worte. Ich will Zuneigung. Aber ich kann sie nicht artikulieren. Ich kann nicht mal einem Freund sagen, dass ich ihn liebe. Ich habe bloß eine tiefe Zuneigung; Menschen sind mir „wichtig“. Bloß keine Gefühle zeigen. Und in mir ist die große Leere und nicht mehr der Junge, der ich mal war, der ich nie war, sondern den ich glaubte, in mir zu sehen. Und ich lächele.
Und ich hoffe, dass dies einen Schlussstrich zieht. Denn vielleicht ist morgen schon wieder alles gut. Und ich hoffe es und ich weiß es nicht und ich habe die Angst, innerlich schon kapituliert zu haben und dass es mich von Mal zu Mal mehr Kraft kostet, wieder ins Licht zu finden. Ich hoffe dies ist Therapie, nicht Auslöser. Ich habe Zuversicht. Ich muss Zuversicht haben! Doch ich bin Fatalist. Und trotzdem merke ich, dass es mir besser geht…
Und ich gebe diesen Text ab und mein Lehrer liest ihn sich durch und sagt: „Die Konjunktion ‚und’ eignet sich nicht als Satzanfang. Außerdem haben Sie zu viele Wiederholungen. Insgesamt allenfalls wegen des Mittelteils noch ausreichend.“ Und ich lächele und habe endlich etwas, was definiert, wie mich die anderen sehen und womit ich mich klar einordnen kann. Und Innen ist die Leere.