Was bleibt ist...
„Was bleibt ist...“ sage ich und halte inne, “Was bleibt ist...“ fange ich wieder an. Was bleibt eigentlich, frage ich mich und werfe einen fragenden Blick aus dem Fenster.
Die morgendlichen Nebelschwaden wabern zwischen den grauen Häuserwänden hin und her. Es wird wohl wieder ein sonniger Tag, denke ich und lege langsam das Foto auf den Schreibtisch.
Ganz oben auf den Berg aus Papier thront es, stelle ich fest und ärgere mich im selben Moment darüber, dass ich doch noch hingesehen habe.
Als eine Stunde später die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fällt hat sich der Nebel tatsächlich verzogen, die Luft riecht noch feucht, sieht man jedoch nach oben, was ich wohl allzu selten tue, so leuchtet der Himmel hellblau. Der Horizont verschwindet noch in der diesigen Unschärfe des Morgens doch es scheint ein schöner Tag zu werden.
Die Katze des Nachbarn sitzt wieder auf der Mauer des Gartens, rot-gold glänzt ihr Fell in der aufgehenden Sonne. Die Augen, zu einem winzigen Spalt zusammengezogen, beobachten mich argwöhnisch. Ein schwacher Lufthauch streichelt das dichte Fell, sie blinzelt kurz.
Als ich gerade einen Schritt auf sie zu machen will um sie zu streicheln richtet sie sich langsam auf, streckt sich herzhaft und springt dann gelangweilt auf der anderen Seite der Mauer herunter.
Ich bin wieder alleine.
„Was bleibt ist... eine leere Mauerkrone!“ denke ich und mache mich zögerlich auf den Weg zur Schule.
Als ich in der Schule ankomme bemerke ich zu ersten Mal in meinem Leben den muffig abgestandenen Geruch der durch die Gänge zieht. Höre wie meine Füße über das Linoleum quietschen, lausche Gesprächsfetzen von Leuten an denen ich vorbei gehe. Der süße Geruch von Mädchenparfüm weht mir kurz um die Nase.
Eine Stunde um die andere, Freund reden mit mir, ich rede mit ihnen. Ständiger Kursraumwechsel, ständig neue alte Gesichter. Im Laufe des Tages verändert sich der Geruch in den Gängen und Klassenräumen, der muffige Reinigungsmittelgeruch verfliegt, der süße Duft der Parfums weht immer seltener um meine Nase.
Es riecht nach Schweiß, Feuchtigkeit liegt in der Luft.
Wie paradox, denke ich während ich neben ein paar Freunden den Kursraum wechsele, es ist das Wetter was wir uns immer wünschen und wenn wir es haben beschweren wir uns ständig darüber, aber erst wenn es wieder kalt ist sehnen wir uns wieder nach der Wärme.
Ich sitze im Kursraum für Mathe überlege ob es nicht besser gewesen wäre heute krank zu sein oder einfach so nicht zu erscheinen, vielleicht auch nur zu Mathe nicht zu erscheinen, kratze mit der Spitze meines Zirkels irgendwelche Linien in die Oberfläche des Tisches und versuche möglichst normal auszusehen.
Es ist ein ganz normaler Tag, ein Tag wie jeder andere... für alle anderen. Ich seufze.
„Was bleibt sind... ein paar geschwungene Linien in einer leeren Tischplatte!“ denke ich und beobachte wie sie mit ausdruckslosem Gesicht den Raum betritt.
Ich habe stark das Gefühl mich selber zu belügen, als ich ein Lächeln auf mein Gesicht zwinge und auf sie zugehe sie zu begrüßen. Kurz versucht sie zu lächeln, dann lässt sie es bleiben.
Ich küsse sie links, rechts und ziehe dann schnell den Kopf zurück um jede Peinlichkeit zu vermeiden, doch das Spiel habe ich wohl schon verloren als ich heute Morgen aus dem Haus ging.
Sie sieht unausgeschlafen aus, eine Strähne hat sich aus der Frisur gelöst und hängt ihr ins Gesicht, sie streicht sie zurück. Die Strähne widersetzt sich.
Ich bringe ein mühsames „Wie geht’s?“ heraus und setzte mich nach Austausch der Höflichkeiten wieder auf meinen Platz, sie setzt sich nicht neben mich.
„Was bleibt...“ denke ich „ist ein leerer Stuhl an meiner Seite“ und heben meine Tasche vom Boden um sie auf den Stuhl zu legen.
„Eine Bratwurst im Brötchen mit Senf, bitte“ bestelle ich an der Imbissbude in der Nähe der Schule. Es sind mittlerweile Monate vergangen. Nach diesem Tag wurde es kalt, das Wetter wurde schlechter. Ich habe die Wärme, den Sonnenschein vermisst und mich an jenen Morgen erinnert als ihr Stuhl leer blieb.
Ich habe in der Zeit danach viel mehr blau gemacht, bin seltener zur Schule gegangen, seltener an Wochenenden weggegangen.
Noch immer geht mir die Strähne in ihrem Gesicht, die Ausdruckslosigkeit in ihren Zügen nicht aus dem Kopf, doch es ist einfacher geworden.
Freunde stehen neben mir, bestellen sich auch etwas, wir reden über belanglose Themen, über wichtige Themen, reden über uns und Mädchen. Ich habe in der ganzen Zeit niemandem gesagt was in mir vorging, habe es verschwiegen, mich so durch alles durchgemogelt und hier stehe ich.
Dies ist der erste Tag an dem ich ehrlich in die Welt hinaus schreien könnte „Ich bin glücklich!“
Bin ich das, frage ich mich noch während ich sie um die Häuserecke kommen sehe, wieder fällt ihr die Strähne ins Gesicht, vielleicht bilde ich es mir aber auch nur ein.
Vor Schreck rutscht mir die Bratwurst zwischen der Brothälften heraus und fällt zu Boden. Erschrocken blicke ich nach unten, sehe wieder in ihre Richtung, dann muss ich plötzlich lächeln.
Mit den Brötchenhälften hebe ich die Bratwurst auf und lasse beides wie beiläufig in die neben mir stehende Mülltonne fallen. Ich wende mich um und bestelle eine neue Bratwurst im Brötchen, der Mann schaut mich belustigt an doch ich lächle nur zurück.
Als wir weitergehen denke ich noch einmal an die Bratwurst und das Brötchen im Mülleimer, dann beiße ich genüßlich in die neue Bratwurst.
„Was zurückbleibt sind... eine Bratwurst und ein Brötchen“ denke ich und lache einmal kurz auf.