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Warum nicht mit mir?
Zu dritt standen sie an der Bar, jeder mit Cocktail, und tranken auf die Zukunft. Im Stroboskoplicht wurden ihre Bewegungen zu Daumenkino.
Über den Gästen stand der DJ auf einer Plattform, die an Seilen von der Decke hing, und spielte zum Tanz.
„Was machen wir eigentlich hier?“, fragte Michelle, die Metallerin war und mit der gespielten Musik nichts anfangen konnte. Auch ihre Kleidung fiel aus dem Rahmen, nicht knappes Top und kurzer Rock, sondern Armeehose und Springerstiefel.
„Frag Jonas.“ Mirco war kaum zu verstehen – er sprach immer ein, zwei Nuancen zu leise, notfalls im Flüsterton, sollte Stille um ihn herrschen. „Er hat das hier ausgesucht.“
Ein Lächeln spielte über Jonas Lippen. „Ganz einfach. Hier gibt es die schönsten Mädchen.“ Als Einziger der Gruppe passte er zum Clubpublikum, er trug ein Jackett, einen grau-weißen Schal und Schuhe aus Krokodilleder.
Michelle schüttelte den Kopf. „Du änderst dich nie.“
„Wer weiß. Wir sind jung.“
„Als würde das helfen“, sagte Michelle und winkte dem Barkeeper, während Jonas die Tanzenden musterte.
„Und hast du schon eine?“ Mircos Stimme blieb ein relatives Flüstern. Dabei gingen Emotionen verloren – Jonas brauchte immer dessen Gesicht, um zu wissen, ob sein Freund ernst war, scherzhaft oder traurig.
Jonas zeigte auf ein Mädchen im weißen Kleid, die mit ihren Freundinnen unter der DJ-Plattform tanzte.
„Die ist doch in unserer Stufe.“
Jonas grinste. „Ganz genau. Das ist Lisa.“
„Und die lässt dich ran?“
„Ich wette viel darauf. Wie wär’s mit zwei Filmen?“
Er trank noch sein Glas leer, bevor er die Theke verließ und sich an Tanzenden vorbei zu Lisa schob.
Für fast eine Minute stand er hinter ihr, spielte den Beobachter. Sie tanzte schlechter als ihre Freundinnen, aber noch immer aufreizend genug – ihr Kleid zeigte viel Bein, viel Rücken und ihre blonden Haare flogen. Jonas glaubte, zwischen Körperschweiß und Pheromonen, ihr Parfum zu riechen, Lavendelduft an einem Sommertag. Natürlich war er sich der Konditionierung bewusst: Sein erstes Mädchen hatte er am Rande eines Lavendelfeldes geküsst - gerade war ein Regenschauer vorüber gegangen, der Lavendelduft mischte sich mit dem Geruch von frisch gewaschenem Asphalt und dem Aroma ihrer sonnenheißen Haare und überall das Summen von Bienen und ihr Mund schmeckte nach Pfirsich. Er vertrieb die Erinnerung und tippte Lisa auf die Schulter. Sie zuckte zusammen und lächelte, als sie ihn erkannte.
„Das ist Jonas“, stellte sie ihn ihren Freundinnen vor. Mit Lächeln und Winken aus dem Handgelenk wurde er aufgenommen.
„Lust auf Tanzen?“
Ja, sie ließ ihn ran, ließ seine Hände über ihren Bauch und ihre Hüfte gleiten. Sie tanzte mit dem Rücken zu ihm, schmiegte sich an seine Brust, lehnte den Kopf an seine Schulter. An ihrem Hals vorbei sah er in ihren Ausschnitt. Als er sie küsste, schmeckte er nicht Pfirsiche, sondern Alkohol und Zigaretten. Es störte ihn kaum, Lisa küsste besser, als sie tanzte.
„Wollen wir gehen?“
Lisa zögerte einen Augenblick, sie wusste, was Jonas meinte. Dann nickte sie. Winkend wurden ihre Freundinnen verabschiedet. Die lächelten ihnen nach.
„Ich melde mich nur kurz ab“, sagte Jonas am Ausgang und ging noch einmal zur Bar.
„Bist du eigentlich jemals gescheitert?“, fragte Michelle.
„Natürlich. Ich zwinge schließlich niemanden. Ich bin nur nett zu den Mädchen und die Mädchen sind nett zu mir.“
„Klar.“
„Bin ich nett zu dir oder bin ich es nicht?“
Er gab ihr einen Handkuss, sie ihm eine Ohrfeige und mit einem Lächeln verabschiedete sich Jonas und verließ mit Lisa den Club.
Kalt war die Nacht und Jonas war froh, dass er nicht mit nackten Beinen durch den Winter lief, er spürte Lisas Zittern durch den Mantel. „Kalt, was?“, fragte er und betrieb weiter Smalltalk, bis zum Bahnhof, wo ein Mädchen ihre Freundin hielt, die auf die Steinplatten kotzte.
Sie sahen auf zum Mondgesicht der Bahnhofsuhr, zwei Zeiger schwarz auf gelb und noch fünf Minuten bis zum nächsten Zug. Lisa schmiegte sich an Jonas, wahrscheinlich wegen der Kälte, und er streichelte unbeteiligt ihr Haar und sah der S-Bahn entgegen, die schließlich, zwei Lichter in der Dunkelheit, zischend heranrollte.
Drinnen war es warm, Alkohol und Deo füllten nebelgleich die Luft. Lisa und Jonas setzten sich nebeneinander und sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen, flüsterte ihm von Zeit zu Zeit Zärtlichkeiten ins Ohr. Ein wenig den Mittelgang hinunter stand ein Mädchen im schwarzen Minikleid, ihre Beine, endlos lang und weiß. Sie trug schwarze Chucks mit hohem Schaft und losen Schnürsenkeln. In der Linken hielt sie eine Tortenform. Jonas sah die Reste des Backwerks durch den halbtransparenten Deckel. Dann schwenkte sein Blick zurück zu den Beinen des Mädchens.
Er nahm Lisa mit zu sich nach Hause und sie hatten geräuschlosen Sex, denn sein Vater schlief im Zimmer nebenan.
Mit dem ersten Sonnenlicht erwachte Jonas. Neben ihm lag ein fremder Körper, das Gesicht verquollen vom Schlaf, mit verwischtem Lidschatten und wirrem Haar. Alter Schweiß und billiges Rosenparfum klebte an der Haut. Fauler Atem strich über Jonas Mund. Er wandte sich ab und blinzelte durchs Fenster – Schnee fiel und beugte die Äste der Nachbarstanne. Im Haus war es still, als wären die Bewohner vor langer Zeit verschwunden.
Er seufzte. Er wusste, er würde nicht wieder einschlafen, also weckte er Lisa und sagte ihren traumblöden Augen, sie müsse gehen: „Mein Vater regt sich nur auf, wenn er weiß, dass ein Mädchen bei mir übernachtet hat.“
„Kann ich noch euer Bad benutzen?“
„Zweite Tür links auf dem Gang.
Nackt wälzte sie sich auf dem Bett und schien sich zu schämen dabei, denn sie wandte ihm nur den Rücken zu, und ging in die Knie um ihre Klamotten zu sammeln. Ihre Schulterblätter wanden sich unter der Haut. Jonas hörte das Rauschen der Dusche und sah aus dem Fenster, bis Lisa wiederkam, halbwegs gerichtet, im weißen Kleid, das jetzt fehl am Platz wirkte.
„Warte. Hier hast du Geld.“ Aus der Schublade seines Nachtschranks kramte er zwanzig Euro, hielt den Schein zwischen Zeige- und Mittelfinger. Lisa starrte ihn an, erstaunt, unsicher. „Ist für ein Taxi. Du musst schließlich nach Hause kommen.“ Jetzt nahm sie das Geld. Ihre Fingernägel streiften seine Hand. „Den Weg zur Tür findest du ja alleine.“
Als Lisa fort war, blieb Jonas noch eine Weile im Bett liegen, bevor er aufstand, sich duschte und rasierte und seine Hauskleidung anzog, weiter Pulli und Jogginghose.
Später, als sein Vater aufstand und sein Waschritual begann, präzise und endlos wie ein Uhrwerk, deckte Jonas den Glastisch im Wohnzimmer, kochte Kaffee und schnitt Weißbrot in Scheiben. Sein Vater kam in Anzug und Krawatte die Treppe herunter. „Morgen.“
Sie setzten sich. Jonas aß wenig, sein Vater viel, häufte Wurst und Schinken aufs Baguette oder aß Quark mit Brombeermarmelade und Käse.
„Wie war die Nacht?“
„Gut, gut.“, sagte Jonas.
„Willst du sie mir nicht mal vorstellen?“
„Das lohnt sich nicht. Ist nie die Gleiche.“
„Ach so.“
Wieder Schweigen und Jonas sah aus dem Fenster, weißer Garten, weißer Teich, die Fische schwebten jetzt in Winterstarre, reglos wie in Glas gefangen, eine Welt aus Dämmerlicht und den trägen Tentakeln der Wasserpflanzen. Sein Vater aß weiter, Honig auf Butter, Paprikaaufstrich und Camembert.
„Und was steht heute an?“
„Lernen.“
„Gut, gut. Auch wenn du schon alles kannst.“ Komplizenlächeln seines Vaters – Jonas fühlte sich immer seltsam dabei.
„Wiederholen schadet nicht.“
Nach dem Frühstück ging Jonas auf sein Zimmer, lernte Englisch und Geschichte, Wirtschaft und Mathe, und sein Vater setzte sich vor den Fernseher, sah Serien mit künstlichem Lachen und Hollywoods B-Produktionen. So verbrachten beide den Tag, bis sie abends wieder zusammentrafen, Jonas jetzt ebenfalls im Anzug, und mit dem Mercedes zu einem Nobel-Italiener fuhren, wo sie Fleisch aßen und Wein tranken.
Kurz bevor er einschlief, im Zustand kognitiver Zersetzung, erinnerte sich Jonas an Wintertage in den Bergen, an grelles Licht und klare Luft, an das Knirschen der Skier im Schnee, und die Schuhe, in denen er ging wie mit Klumpfüßen, an seinen Vater, der am Fuße eines Abhangs stand und lachte und seine Mutter neben ihm beschattete die Augen mit der Hand und winkte.
Am Montag saß Jonas in Englisch neben Michelle. Gerade wurde Shakespeare gelesen – kaum jemand verstand ein Wort, die meisten hatten abgeschaltet. Jonas fand die Kommentare der Lehrerin nichtssagend und dumm. Die Zeit zog sich wie Teer, wie Kaugummi.
Zwei Reihen vor ihm saß Lisa. Ihr Haar war zu einem Zopf gebunden und fiel über die Kapuze einer weißen Jacke. Jonas musste daran denken, wie ihr Hintern nackt ausgesehen hatte, in Jeans wirkte er erotischer. Sie sah über die Schulter, bemerkte seinen Blick und lächelte. Halbherzig lächelte er zurück. Die Lehrerin versuchte Hamlets Monolog zu erklären.
Michelle malte kleine Mädchen mit Blumenkleidern auf ihren Ordner. Sie tanzten auf einer Wiese und hatten statt Gesichtern Totenschädel, grinsende Zahnreihen und schwarze Augenhöhlen.
„Ist irgendwas?“, fragte Jonas in der Zwischenpause, als Stimmengewirr die schläfrige Halbstille unterbrach. „Du hast die ganze Stunde kein Wort gesagt.“
„Ich frag mich nur, was du an ihr findest.“ Und gab einem weiteren Blumenmädchen Haare und Schädel – präzise Umrisse, präzise Schraffur, ihr Zeichenstil hatte viel von Maschinenbau. „Meinst du nicht, dass ihre Nase zu groß ist?“
„Sie kann dich hören.“
„Ist es dir peinlich?“
„Nein. Du bist nur nicht sonderlich nett.“
„Oho. Du machst dir Sorgen um ihr Wohlergehen. Vielleicht hättest du sie nicht rausschmeißen sollen. Hast du wieder die Vaterausrede gebracht?“
„Manchmal wäre es besser, du würdest den Mund halten.“
So war auch die zweite Stunde Schweigen und Langeweile und Jonas las nebenher Canetti. Lisa lächelte nicht mehr.
In der Pause verließen Jonas und Michelle den Klassenraum. „Du müsstest dich wegen Freitag langsam mal entscheiden. Ich muss schließlich planen.“
Jonas seufzte. „Natürlich komme ich zu deinem Geburtstag.“
„Will ich mal nicht so sein und erlasse dir deine Spielschulden.“
„Danke für die Großzügigkeit.“ Sie spielten den zweiten Akt ihrer Privatvorstellung. Sie standen vor Mircos Filmregal – ein Querschnitt des Liebesfilms seit 1930, darunter etliche Pornos aus den 60er, mit zart erotischen Nackttänzen und verschämten Deflorationsfantasien. Mit dem Finger fuhr Mirco die Reihen entlang, zupfte manche Exemplare probeweise heraus. Schließlich entschied er sich für ‚Der himmlische Bretone‘.
Auf einem Ledersofa machten sie es sich vor dem Zwei-Meter-Bildschirm bequem. Der Film lief an und Jonas ließ die Handlung an sich vorbeilaufen, während Mirco ihr folgte, als wäre es sein erstes Mal. Nebenbei tranken sie Billigwein und aßen Käsenachos.
„Was lief eigentlich am Wochenende mit dir und Michelle?“ Der Abspann lief, monoton und schwarz-weiß.
„War nett.“
„Nun sag schon“, sagte Jonas und stieß seinem Freund den Ellbogen in die Seite, es war nur zur Hälfte Parodie.
„Wir haben getanzt. Nicht in dem Club, in dem wir mit dir waren. Wir haben gewechselt. War etwas kleiner und mehr Electro-Swing als dieses Mainstream-Zeug. Da hat sie mich gefragt und wir haben bis drei getanzt. Ich merk jetzt noch meine Beine.“
„Und?“
„Nichts und. Danach sind wir nach Hause gefahren.“
„Oh, Mann. Du musst doch deine Chance nutzen. Ich meine, du hast mit ihr getanzt. Da musst du was draus machen. Jetzt hat mein Plan schon funktioniert und du traust dich nicht.“
„Tut mir leid. Beim nächsten Mal.“
„Du musst dich nicht entschuldigen. Schließlich willst du Michelle haben, nicht ich.“
„Ich weiß.“
„Ich sag nur: diesen Samstag.“
Der Abspann war vorbei, Mirco wählte den nächsten Film, Jonas holte neuen Wein.
Jonas kam erst spät zu Michelles Party - von der Straße hörte er bereits die Musik, die später die Polizei auf den Plan rufen würde, hauptsächlich Metal, mit übersteuertem Bass. Auf der Einfahrt lag zertrampelter Schnee, glitzernd im Garagenlicht. Er fügte eine weitere Fußspur hinzu und klingelte.
„Cool, dass du da bist.“ Michelle umarmte ihn und ihr Haar roch nach Lavendel.
„Alles Gute, zum Neunzehnten.“ Er gab ihr sein Geschenk, ein lila Päckchen mit Silberschleife.
Die Wangen kindlich erhitzt, zupfte sie die Schleife auf. „Wow. Wie schön die ist.“ Sie hob die Silberkette vom Futteral, eine Perle schimmerte im Licht. „Vielen Dank.“ Sie umarmte ihn wieder. „Hilfst du mir?“
Er legte ihr die Kette um den Hals, strich ihr Haar beiseite, um den Verschluss sehen zu können.
„Komm, ich stell dir ein paar Freunde vor.“
Die Meisten waren Metaller, Mitglieder von Bands und ihre Freundinnen, sie trugen Schwarz und Killernieten, saßen auf dem Boden, den Sofas und Sesseln und tranken Bier. Jonas trank mit ihnen. Das Gespräch drehte sich um Musik und Bier und wer wann wie betrunken gewesen war. Jonas erzählte, wie er, in Folge seines ersten Vollrauschs, an einem Wet-T-Shirt-Contest im Badezimmer eines Freundes teilnahm und dabei sowohl den Duschvorhang als auch das Waschbecken abriss.
„Wie lange willst du das noch machen?“ Michelles Kopf lehnte an Jonas Schulter, der Lavendelduft war betörend intensiv – ein Sommerfeld, ein heißer Tag und weiche Lippen, ein Flattern im Bauch. Mirco beobachtete die beiden von einem Sessel gegenüber.
„Was meinst du?“
„Na deine Mädchen. Jede Woche eine Andere.“
Jonas zuckte die Schultern, ihr Kopf ruckte mit. „Weiß nicht, ich hab mir keine Frist gesetzt.“
„Dir geht es bei uns wirklich nur um Sex, oder? Ein One-Night-Stand und am Morgen gibt’s Geld fürs Taxi?“
Was sollte er sagen – er schwieg und ließ sie weiter reden, trank warmes Bier dabei.
„Hast du noch nie an eine echte Beziehung gedacht? Mit vorsichtigem Kennenlernen und kleinen Zärtlichkeiten. Kinobesuche und Fummeln in der Dunkelheit. Rendezvous bei Kerzenlicht. Ich mein das volle Programm halt. Für einander Dasein und streiten, weil man vergessen hat, dass der andere keine Tomaten mag, und das Abendessen jetzt versaut ist. Und dann versöhnt man sich wieder und geht Pizza-Essen oder zum Chinesen. Man probiert Sachen aus: schnellen Sex auf einer Toilette oder im Fahrstuhl und es macht Spaß und ist geil. Aber eigentlich geht es darum, denn Anderen zu verstehen und ihm nahe zu sein, ihm zu helfen, wenn die Eltern wieder Stress machen oder der Hund gestorben ist.“
„Ja, hab ich.“
Sie sah ihn groß an. „Was meinst du?“
Jonas musste lachen. „Ich hab darüber nachgedacht, ob ich eine Beziehung will.“
Ihre Augen blieben groß und voller Erwartung. „Und?“
„Ich finde, ich kann mir noch Zeit lassen. Ich bin nicht mal zwanzig. Schließlich haben alle ihren Spaß dabei, ich und die Mädchen. Fürs Erste braucht es nicht mehr.“
„Na dann.“ Schweigend lehnte sie an seiner Schulter, dann rückte sie ab und begann mit Mirco ein Gespräch über Filme. Jonas trank Bier. Die Nacht rückte vor, die Polizei kam und ging, die Musik wurde leiser.
„Weißt du, was ich cool an dir finde?“ Ein Mädchen hatte sich neben Jonas gesetzt. Sie trug einen Rock und auf dem Sweatshirt das Abbild einer knienden Frau mit in den Unterleib gerammter Kettensäge, Blutspritzern und einem grimmig-düsteren Gesichtsausdruck, und die Beschriftung Fuck the Saw. Ihr Haar war schwarz gefärbt. Sie hieß Frani oder Franzi, Jonas wusste es nicht mehr. „Du siehst zwar total aus wie ein Streber. Aber deine Art passt überhaupt nicht dazu. Du bist ganz locker, überhaupt nicht verklemmt.“
„Nicht alle Jackettträger haben einen Stock im Arsch.“
Es gab ein Lächeln als Belohnung. „Aber ich wette, du bist gut in der Schule.“
„Ja. Aber eigentlich ist sie mir egal.“
„Genau das mein ich. Noch Lust auf Bier?“
Sie gingen in die Küche, wo drei Schlagzeuger saßen und Whisky mit Milch und Jägermeister mixten. „Der neueste Scheiß sag ich dir, der neueste Scheiß.“ „Mal probieren?“ Dass Jonas den Plastikbecher ausschlug, schien niemanden zu stören, und so blieb er mit Frani-Franzi bei der fehlbesetzten Rhythmusgruppe und kommentierte, fasziniert und belustigt, die immer wilderen Mischexperimente.
„Was ich dich vorhin schon fragen wollte, ist so ein Rock nicht zu kalt für den Winter?“ Jonas strich mit den Fingerspitzen über ihren Oberschenkel – rauer, kratziger Stoff.
„Kalt schon. Aber praktisch. Soll ich’s dir zeigen?“
Die Schlagzeuger prosteten ihnen zum Abschied zu, und Jonas ging an der Hand des Mädchens, das Frani hieß oder Franzi, die Treppe in den ersten Stock hinauf und hinein in Michelles Zimmer. Laternenlicht fiel durchs Fenster und warf harte Schatten aufs Parkett – die Umrisse des Schreibtischs, des Betts, der Gitarre samt Verstärker. Der Geruch von Michelles Leben hing in der Luft, lange Nachmittage beim Lernen, die kurzen Nächte der Schulzeit, die langen der Ferien. Sie führte ihn in den begehbaren Kleiderschrank, wo sie ihn küsste, heiße Zunge, heißer Mund, und mit den Fingern unter sein Hemd fuhr, Spinnen auf seiner Brust, zärtlich und sanft. Seine Hände wanderten ihre Schenkel hinauf, ja, der Rock war praktisch.
Michelle stand in der Tür des Kleiderschranks. Hinter ihr blendete das Deckenlicht. Ihr Gesicht lag in Schatten, aber Jonas konnte die Tränen sehen, kleine Tropfen auf den Wangen, kleine Tropfen, die zu Boden fielen.
„Tut mir leid“, nuschelte Frani, nuschelte Franzi, zupfte ihren Rock zu Recht und schob sich an Michelle vorbei.
An den Türrahmen gelehnt, rutschte Michelle in sich zusammen, bis sie am Boden hockte, den Mund in ihre Faust verbissen. Leise, wie unterdrückten Schluckauf, konnte Jonas Schluchzer hören und sah noch immer die Tränen, Schneckenspuren auf Michelles Wangen, silbern wie die Perle an ihrem Hals. Er zog seine Hose hoch, schloss seinen Gürtel, ordnete Hemd und Jackett, alltägliche Gesten, alltägliche Handlung.
„Ich …“ Und schwieg wieder und wusste nicht, was er sagen sollte, während die Laterne gelb vorm Fenster brannte und Michelles Umriss in den Kleiderschrank warf. Aus dem Erdgeschoss drang die Musik herauf, eine Stimme voller Hass.
Schließlich kam Mirco und setzte sich neben Michelle und streichelte ihr Haar, ihre Wange. Auf Jonas reagierte er kaum, ein knappes Kopfschütteln, mehr nicht. Jonas ging an den beiden vorbei, hinab ins Erdgeschoss, wo er Schal und Mantel anlegte, und verließ das Haus.
Die Kälte begrüßte ihn und der Himmel war klar und weit. Ihm war schwindelig, als fiele er aufwärts, zwischen die Sterne, die weiß blinkten in der Schwärze. Verdient hättest du es, dachte er und ein trauriges Lächeln verzog seine Mundwinkel. Der Schnee auf der Auffahrt knirschte unter seinen Füßen. Durchs Küchenfenster winkten die Schlagzeuger.
Am nächsten Morgen schlief Jonas aus.
„Wie war gestern die Party?“
Jonas saß mit seinem Vater am Frühstückstisch, trank Saft und aß einen Apfel. Sein Vater vernichtete Brötchen und Müsli und Kaffee.
„Gut. Gut.“
„Kein Mädchen diesmal?“
„Kann nicht jede Woche klappen.“
Sein Vater nickte, wischte sich mit dem Handrücken Krümel vom Mund. „Mirco hat vorhin angerufen? Du sollst dich melden.“
Später saß sein Vater vorm Fernseher und Jonas vor seinem Schreibtisch. Er rief Mirco an.
„Manchmal kannst du echt ein Arsch sein.“
„Ich weiß. Es tut mir leid.“
„Da bin ich die falsche Adresse.“ Schweigen. „Du hättest wenigstens bleiben können.“
„Was hätte es gebracht? Sie war sauer auf mich.“
„Sauer? Seit wann heult man, wenn man wütend ist?“
Ein Amselpärchen landete auf der Tanne, schüttelte Schnee von einem Ast – eine Staubkaskade, weiß und glitzernd. Jonas konnte ihr orangen Schnäbel sehen und die Glaskugelaugen. Ruckartig sondierten die Vögel ihre Umgebung, putzten ihr Gefieder. Bald flogen die sie weiter.
„Rede wenigstens mit ihr. Das bist du ihr schuldig.“
„Wir sehen uns Montag.“
Mirco seufzte. „Ja, bis Montag.“
Jonas legte auf. Mit dem Fahrrad fuhr er durch öde Straßen, vorbei an schmutzigem Schnee und zugefrorenen Scheiben.
Durchs Küchenfenster sah er Michelle beim Aufräumen. Ihr Gesicht war leer und bleich, mit Schatten unter den Augen und Spuren von Schminke. Sie räumte mechanisch Gläser in den Spüler, bemerkte ihn nicht. Eine Freundin, die Ada hieß oder Alex und die eher dicker war als groß, kam mit zwei Tüten voller Flaschen aus dem Wohnzimmer. Sie stellte die Tüten beiseite, sprach ein paar Worte zu Michelle, nahm sie in den Arm.
Jonas klingelte und die Freundin öffnete die Tür. Ihr Gesicht wurde finster wie ein wütender Mops.
„Was willst du?“
„Michelle sehen.“
„Du hast vielleicht Nerven.“
Aber sie ließ die Tür offen und ging in die Küche. Halblaute Stimmen, und Jonas wartete im warmen Luftzug des Eingangs.
Michelle kam an die Tür. Ihr Gesicht wirkte noch bleicher als durchs Fenster und ihre Haare standen traurig-wirr. Ihre Augen wirkten entzündet. Die Freundin blieb in der Küche.
„Können wir reden?“
Sie zog einen Schal und eine Jacke an und trat zu ihm auf die Ausfahrt, schloss die Tür hinter sich.
Sie gingen zum Bahnhof und fuhren in die Stadt. 16-Jährige hörten Rap über ihr Handy, diskutierten über Sänger und Kaufhäuser. Ein kleines Kind spielte mit dem Dackel einer alten Frau.
„Es tut mir leid“, sagte Jonas, als sie durch den Stadtpark liefen und Enten sahen, die zwischen Eisschollen über einen Teich paddelten. Zuckerguss klebte an den Ästen der Bäume. „Ich meine … Ich wusste nicht … Ach, Scheiße. Ich hab einen Fehler gemacht. In jedem Fall. Es war deine Party, es war dein Schrank. Wir, naja … Die Sache ist, ich wusste nicht, dass du verliebt in mich bist.“ Es klang falsch, obwohl er wusste, dass es stimmte. „Ich meine, ich wollte dich nicht verletzen. Wirklich nicht.“
Michelle weinte wieder, sie lehnte an Jonas Schulter und stumm flossen die Tränen und stumm fuhren seine Finger durch ihr Haar. Der Lavendelduft war verschwunden. Er suchte eine Parkbank, wischte den Schnee von den Brettern. Sie setzten sich. Langsam kroch die Kälte durch seine Hose.
„Und jetzt?“, frage Michelle und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. „Was wird aus uns?“
„Ich kann nicht. Ich meine Mirco steht auf dich.“
Sie lachte, mehr hysterisch als froh. „Das weiß ich doch.“
„Du weiß es?“
„Natürlich, wie sollte ich nicht. Aber was hilft das? Er ist ein süßer Kerl, aber ich will nichts von ihm.“
Sie versuchte Jonas zu küssen, tastete mit ihren Lippen nach seinen Mund. Sanft schob er sie zurück, hielt ihr Gesicht auf Abstand.
„Bitte. Es hilft Mirco doch nicht. Er ist eh außen vor. Bitte, für mich.“
Ihre Zunge war zaghaft, ihr Lippen scheu. Ihre Finger tasteten über seinen Rücken, hielten ihn fest. Jonas roch den Duft ihrer Haut, ihrer Kleidung. Er löste sich von ihr. Ein Speichelfaden, silbrig glänzend, verband ihre Münder, spannt sich und riss, und hing wie Spinnenseide an Michelles Kinn – sie wischte ihn fort. „Danke.“
Sie gingen ins Kino und ein Café, und Michelle hing an Jonas Lippen, seinen Augen, seinem Arm, verzweifelt bemüht, das Gespräch am Laufen zu halten, brachte Thema auf Thema und umschiffte dabei alles, was Mirco berührte oder Jonas Mädchen.
Es wurde Abend, sie fuhren nach Hause. Auf dem Bahnhof, unter dem blau-kalten Licht einer Laterne, fragte Michelle: „Willst du mich nicht mit zu dir nehmen?“
Im Haus brannte kein Licht, sein Vater war fort, Essen vielleicht oder auf einem Konzert in der Stadt, Mozart, Brahms, Vivaldi. Sie aßen Aufbackpizza und Jonas putzte sich die Zähne, bevor er mit Michelle auf sein Zimmer ging.
Als Schatten lehnte die Tanne an der Wand. Die Luft roch verbraucht, er hatte am Morgen nicht gelüftet. Er küsste Michelle und führte sie zum Bett. Zögernd legte sie sich hin und er öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke, schob ihre Bluse hoch. Als seine Finger ihren Bauch berührten, begann Michelle zu zittern. „Alles in Ordnung?“ Sie nickte, doch das Zittern blieb, auch als sie nackt war und er ihren Körper streichelte und zärtlich ihre Brüste biss. Ihre Liebesschreie waren spitz und hoch und als Jonas sie zum Abschluss küsste, weinte sie wieder.
Beim Erwachen sah Jonas Michelles Augen, katzengrün, mit großen Pupillen, in die Sonnenlicht Reflexe malte.
„Wie spät ist es?“
„Fast elf. Du hast lange geschlafen.“ Sie lächelte, streichelte seine Wange – sachtes Kratzen von zu langen Fingernägeln. „Kann ich dein Badezimmer benutzen?“
„Natürlich. Fühl dich wie zu Hause.“
Sie stand auf, nackt, ohne Scham und hüllte sich in Jonas weinroten Morgenmantel, der neben der Tür hing, bevor sie das Zimmer verließ.
Jonas blieb liegen, genoss die Wärme im Bett, das Schneeglitzern vorm Fenster, und fühlte sich als trete er aus einem Kino ins Licht, das Leben war realer denn bisher. Er stand erst auf, als Michelle wieder kam, mit frisch gewaschenen Haaren und dem Geruch seines Männer-Shampoos. Er zog seine Freizeitsachen an.
„Jetzt siehst du ganz anders aus. Weniger ernst. Aber die Sachen stehen dir.“
„Komm, wir frühstücken. Mein Vater müsste bald kommen.“
Sie deckten den Tisch, als sein Vater die Treppe hinab ins Erdgeschoss kam. Er stutze einen Augenblick, lächelte dann. „Guten Morgen.“
„Das ist Michelle.“ Sein Vater gab ihr die Hand.
Beim Frühstück sprachen sie über die Schule, das Wetter, die Party – harmloses Plaudern, glückliches Plaudern.
Sie suchten in der Stadt nach einem Jackett für Jonas – ihm schwebte ein Grauton vor, einen Nuance heller als Schiefer, den sie nicht fanden. Halb belustigt, halb genervt, stichelte Michelle: „Du bist schlimmer als die Mädchen, die ich kenne. Meinst du, wir werden bald fertig? Mir tun nämliche die Füße weh.“
„Ein Laden noch.“
Wieder tauchten sie in trockene Heizungsluft, in das Gedränge von Mänteln, Jacken und Mützen, musterten im Eildurchlauf die Regalreihen und fanden nichts. Vor dem Kaufhaus, in der Kälte, die angenehm war und erfrischend, küsste ihn Michelle. Ihre Lippen waren rissig, sie benutze keinen Balsam.
Aus dem Augenwinkel sah er Mirco, grüne Jacke mit Kunstpelzkapuze, bleiches Gesicht – es wandte sich ab, verschwand zwischen den Passanten.
„Scheiße.“
Er lief Mirco nach, zwischen Menschen hindurch, die ihm wütend hinterherriefen, überflog hastig Gesichter und Jacken, fand seinen Freund schließlich wieder, allein auf einer Treppe zur U-Bahn. Im Geruch von kaltem Stein und Bier, holte er Mirco ein.
„Es tut mir leid.“
Mirco blieb stehen, aber wandte sich nicht um – Jonas sprach mit seinem Hinterkopf, seiner Kapuze.
„Ist das alles, was du kannst? Dich nachher entschuldigen? Scheiße, was soll das?“ Er sprach zu leise, war nur ein Flüstern gegen das Gitarrenspiel eines Straßenmusikanten, gegen Absatzklackern auf Stein und dem Zischen der einfahrenden U-Bahn – blaue Wagons, gelbes Licht in den Fenster und braune Sitze.
„Ich … Sie wollte mich. Ich meine sie, weiß, was du fühlst, und sie wollte mich.“
„Ist ja nicht so, als hätte sie sich groß aufdrängen müssen.“ Er drehte sich um, Tränen in den Augen, Rotz auf der Lippe, und die Stimme noch immer ein Flüstern. „Ach, Scheiße. Ich dachte, du könntest einmal anders sein. Ich dachte, du könntest einmal nur mit einem Mädchen befreundet sein. Ich dachte, sie bedeutet dir etwas.“ Er wandte sich ab und stieg in die U-Bahn.
Jonas Handy klingelte. Es war Michelle, sie klang besorgt, fast panisch. „He, was ist los? Wo bist du?“
„An der U-Bahn, kommst du her?“
Sie rannte ihm entgegen, warf sich um seinen Hals, als hätte sie ihn ewig nicht gesehen.
„Was war denn los?“
„Mirco hat uns gesehen.“
Ihr Lächeln verblasste. „Wir hätten es ihm irgendwann sagen müssen.“
„Ja.“
„Ich meine, ich liebe nun mal dich, nicht ihn. Da ist für ihn nichts zu machen.“
„Nein, natürlich nicht.“
„Und wir haben ja noch uns.“
„Ja.“
Abends, als sie mit einander schliefen, musste Jonas an Mirco denken, seinen Hinterkopf und seine Kapuze.
Und wieder Schule: Morgens stand Michelle am Haupteingang, winkt Jonas zu, gab ihm einem Kuss und hatte dabei viel von der Glückseligkeit verliebter 15-Jähriger. Jonas kam meistens zu spät oder superknapp zur Schule, aber sie wartete auf ihn und wünschte ihm Glück für den Tag, bevor jeder in seinen Kurs verschwand. Jonas schrieb weiter gute Noten. Nur in Englisch störte „das Turteln mit Ihrer Sitznachbarin“ seine Mitarbeit. Alle lachten, alle außer Lisa.
Einmal hatten sie Sex in einer Mädchentoilette, im Keller unterm Sporttrakt. Es war Nachmittag und sie warteten auf ihre letzten Fächer des Tages – 45 Minuten Zweisamkeit. Michelle schlug die Sache vor und sah auch nach, ob die Toilette frei war. Das Ganze war mehr Kichern als ernsthaft und Jonas wusste im Nachhinein nicht recht, ob sich der Aufwand gelohnt hatte.
Mirco streifte Jonas Blickfeld nur am Rande. Wenn Jonas auf ihn zuging, wich er aus, verschwand zwischen den Schülern auf dem Pausenhof, oder in einem Klassenzimmer. Sein Gesicht blieb dabei stets ausdruckslos, als erkenne er Jonas nicht – ein Fehler und 13 Jahre Freundschaft vorbei.
Am Freitag schlief Michelle wieder bei Jonas.
Vor Tagesanbruch erwachte Jonas. Er war müde und konnte nicht schlafen. Sein Zimmer war ein Aquarium voller Schatten, die Möbel Unterwassergeröll.
Neben ihm lag Michelle – 57 Kilo Fleisch, Knochen und Organe, 15 Atemzüge pro Minute. Ihre Fingerspitzen berührten seinen Arm, Wärmepunkte auf seiner Haut. Er unterbrach den Kontakt, zog sich zurück, bis an den Rand des Bettes, spürte den kalten Lufthauch, der unter die Decke kroch.
Im Schlaf wirkte Michelles Gesicht kindlich, als treibe ihre Vergangenheit an die Oberfläche, ein Mädchen von 12 Jahren, das kicherte, wenn es über Jungs sprach. Augenblicksvorstellung – Jonas sah sich als Pädophilen, über Spielplätze streifend, vor Schulen wartend, auf der Suche nach kleinen Mädchen, Mädchen die Unterhaltung sind für ein paar Stunden.
Langsam verkümmerten die Schatten, sickerte Licht durchs Fenster, und Jonas hörte erste Vogelstimmen und Autos auf der Straße. Er stand auf, fröstelnd in der kühlen Luft. Aus dem Kleiderschrank griff er sich Boxershort und Socken und verschwand ins Badezimmer.
Auf dem Brett unterm Spiegel standen Michelles Hygieneartikel – Zahnbürste und Kamm, kaum Kosmetika. Kalt lief das Wasser über seinen Kopf und seinen Körper. Er schloss die Augen, spürte wie seine Gedanken gefroren, für einen Augenblick blieb nur die Kälte. Er seifte sich ein, wusch seine Haare. Mit blauen Händen und endlich wach, verließ er die Dusche.
Er weckte Michelle und während sie sich duschte und aus Zahlen und Fleisch wieder zum Mensch wurde, zog er sich an und machte das Bett, schüttelte Decke und Kissen aus.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Michelle, als sie zu zweit beim Frühstück saßen – sein Vater schlief noch. „Du bist heute so still.“
„Doch, doch. Alles in Ordnung.“
Sie strahlte ihn an – niedliches kleines Puppengesicht, trotz Pulli mit Zombiepanda. „Was machen wir heute? Ich wäre für Kino. Oder Theater. Die eine Inszenierung soll doch so gut sein. Wie hieß die nochmal?“
„Ach, ich weiß nicht. Ich hab nicht wirklich Lust.“
Ihr Lächeln wurde Besorgnis.
„Ist wirklich alles okay?“
„Ja. Ich hab nur etwas Kopfschmerzen. Ich glaub, ich leg mich lieber hin und ruf dich nachher an.“
„Versprochen?“
„Ja.“
Sie wünschte ihm „gute Besserung“, als sie ging, und küsste ihn. Der Rest des Tages war Lernen.
„Du hast mich nicht angerufen.“
Jonas an seinem Schreibtisch, hielt sich das Handy ans Ohr.
„Ja. Tut mir leid.“
„Du hast es mir versprochen.“ Im Hintergrund hört Jonas Autos fahren und Menschen sich unterhalten – eine Straße in der Innenstadt.
„Wie gesagt, es tut mir leid. Kann doch mal passieren. War keine Absicht.“ Mit Daumen und Zeigefinger massierte er seine Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen, kriechende Migräne.
„Ich hab mir Sorgen gemacht.“
„Weshalb denn? Was soll passiert sein?“
Sie antwortete nicht, aber er wusste, was sie meinte.
„Hör mal, ich muss mich nicht von der kontrollieren lassen. Ich muss mich nicht ständig bei dir melden, damit du das Gefühl hast alles sei in Ordnung.“
„Das hab ich doch gar nicht gemeint.“ Ihre Stimme klang zittrig und Jonas musste an ein Reh denken, das im Wald steht, mit großen Augen und zerbrechlichen Beinen, ein Reh, das fürchtet, die Kontrolle zu verlieren – Bambi in schwarz und Killernieten.
„Weißt du, das kotzt mich an. Dieser Verdacht, ich könnte eine Andere haben. Meinst du ich könnte mich nicht zurückhalten? Meinst du ich wäre nur hinterm Sex her? Dass für mich nur die Zahl der Orgasmen zählen und die Mädchen gar nichts? Das du mir egal bist?“ Er redete sich in Rage, schrie jetzt fast, dabei wusste er selbst kaum weshalb. In seltsamer Distanz beobachtete er sich selbst dabei, wie er sich echauffiert, mit der Hand fuchtelte, als könnte Michelle ihn sehen.
„Entschuldige … Ich …“
„Sei still.“
Sie schwieg und nur das Hintergrundrauschen blieb und ihr Stoßatem, ein Schniefen.
„Ach Scheiße. Mir reicht’s.“
Jonas legte auf, sah aus dem Fenster, wo nichts passierte, nur Wolken am Himmel, watteweiß und langweilig.
Sein Handy klingelte, er ging nicht ran.
Die Zeit schien Blasen zu werfen, träge wie Schlamm, wie Sirup. Jonas wollte lernen und konnte schon alles. Im Minutentakt sah er auf die Uhr, sah auf den Himmel, der noch immer hell war und voller kleiner Wolken, fast wie im Sommer, und kein Abend in Sicht. Wieder durchblätterte er seine Hefte, seine Bücher und sah nur, was er schon wusste. Er gab es auf, setzte sich zu seinem Vater vor den Fernseher. Sie sahen Dokumentationen ohne Inhalt, Casting-Shows ohne Talent. Es wurde Abend, sie gingen Essen.
Auch in der Schule schien die Zeit von Gicht befallen, schleppte sich einem Krüppel gleich dahin. Jonas sprach mit niemandem, niemand sprach mit Jonas. Er bekam weiter gute Noten für geringen Aufwand und später sah er fern und ging früh ins Bett. Er schlief 10 Stunden am Tag.
Und wieder war Wochenende. In der Nacht war Schnee gefallen, aber jetzt war der Himmel blau und leer. Jonas verließ sein Zimmer, nahm die Leiter zum Boden. Helles Holz unter seinen Händen, seinen Füßen. Unterm Dach roch es kalt, nach Moder und Staub und Jahre alten Erinnerungen. Schatten hingen wie Wolken zwischen den Dachsparren. Nur durch ein Fenster fiel Licht. Ganz am Ende stand ein Schrank aus Nussbaum, sonst wirkte der Boden leer – ein paar Kisten an der Seite, eine vergoldete Lampe, der Rest war poröser Beton. Jonas ging zu dem Schrank, kramte seine Skiausrüstung hervor, letzten Winter gekauft und nie benutzt. Fast schnitt er sich an den Kanten der Ski.
„Was machst du?“ Die Stimme seines Vaters klang seltsam weit entfernt.
„Ich fahr morgen in die Berge.“
„Okay.“ Die Stimme verschwand und wieder herrschte Stille.
Jonas zog sein Handy aus der Tasche, wählte Mircos Nummer. Monotones Tuten, laut und anhaltend.