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Warum man glücklich mit J schreibt.
Als er 6 oder 7 Jahre alt war lernte er das erste Mal das Namenskettenspiel bei einem Freizeitcamp kennen, und er wusste schon jetzt, dass es heute wieder kommen würde.
Mit einigen Extrarunden und großen Anstrengungen hatte Jacob es ins Ziel geschafft. Es ging in die Oberstufe.
Witzig wie man Dinge, wie den Übergang in die Oberstufe, als so wichtig erachtet, doch aus der retroperspektive, sie eigentlich doch nur kleine Hürden auf einem langen Weg waren. Damals war es eine große Hürde für Jacob. Mehr als das. Monate lang plagten ihn Panikattacken und nur durch die Hilfe von Frau Malko schaffte er es schlussendlich über die Ziellinie. Sie war eine kleine zierliche Frau. Obwohl zierlich wohl ein falsches Wort war, sie zu beschreiben. Trotz ihrer schmächtigen Figur würde sie niemals jemand so nennen. Sie war hartnäckig, verlangte den Schülern alles ab und schob gerne spontane Vokabeltests in ihren Lateinunterricht.
Eine tote Sprache würde man meinen, doch sie reanimierte in jeder Unterrichtsstunde unermüdlich den Lebensgeist aus dieser totgeglaubten Sprache, dass wir nicht anders konnten als ihren Anforderungen Folge zu leisten. Keiner traute sich nur eine dumme Bemerkung zu machen. Die Streber liebten sie, der Rest eher nicht so. Jacob war kein Streber und trotzdem verdankte er ihr einiges. Er konnte es nie wirklich verstehen, doch sie musste etwas in ihm sehen, was er selbst nicht sah. Ohne Zweifel war ihm Latein scheißegal. Er wollte kein Jura studieren oder Arzt werden, was ehrlich gesagt, sein Schnitt wohl auch nie zulassen würde, das war ihm bewusst. Da nutzten selbst Fr. Malkos Reanimierungsversuche nichts. Trotzdem gab sie ihm Ratschläge, half ihm so gut sie nur konnte, gab ihm Chancen, die niemand anders ihm zugeben schien und bescherte ihm den nötigen Arschtritt um weiter an dieser Schule zu bleiben.
Und nun war es soweit: neue Klasse, neue Lehrer, gleiche Schule. Keine Frau Malko, dafür ein verschlafend dreinblickender Lehrer, der nun mit seinen tiefbraunen Augen im Klassenbuch blätterte. Sein Gesicht war eingefallen, buschige Augenbrauen und tiefe Falten an seinen Mundwinkeln prägten das knochige Gesicht. Er war starker Raucher, das wussten alle. Er war berüchtigt dafür jede Möglichkeit zu nutzen, um auf den Lehrerparkplatz zu schmöken, wie er es nannte. Andere würden es wohl eher als inhalieren beschreiben, so wie er an seinen Zigaretten zog. Doch den Schülern war´s egal, sollte er sich doch zu Tode rauchen. Hauptsache der Unterricht wurde aufgrund seines Lasters zugunsten der Schülerfrüher beendet. Fr. Malko hauchte dem Lateinunterricht wieder Leben ein. Genau so tat es wohl der Zigarettenrauch bei Herrn Reigen, wie er sich nun bei den Schülern vorzustellen begann, während er noch immer mit dem Buch in der Hand versuchte die richtige Seite zu finden. Es waren zwar erst wenige Minuten vergangen doch schon jetzt wussten alle, was für ein leichtes Spiel man mit ihm hatte. Die drei war mir sicher, dachte Jacob und lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück. Es war das gesellschaftswissenschaftliche Profil, das er gewählt hatte. Das Profil für all die, die sich sonst nicht so sicher waren, was sie machen wollten. Im Kunstprofil versammelten sich diejenigen die sonst eher unscheinbar waren, oder extrem extrovertiert. Eine Mischung aus selbst gehekelten Pulloverträgerinnen und Möchtegernschauspielern mit hochnäsigem Blick. Also alles andere als das was Jacob verkörperte. Genau so sah es auch im sprachlichen Profil aus. Mit Mühe und Fr. Malkos großer Hilfe hatte er überhaupt nur die sprachlichen Fächer überstanden. Den einzigen Pluspunkt, den Jacob im Sprachprofil sah, war wohl, dass es fast nur Mädchen waren, die mussten bloß nun noch zusätzlich Spanisch und Französisch lernen. Nichts für ihn. Für Jacob entschied sich damals alles zwischen dem sportlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Profil, wobei ihn seine Freunde, dann doch ins gesellschaftliche Profil zogen. Irgendwie schon komisch, wie es so selbstverständlich ist, dachte Jacob, während er sich im Klassenraum umblickte. Anstatt sich über unterschiedliche Charaktere und Interessen zu freuen, wurde man einer Schublade zugeordnet. Eine Schublade in der Jacob sich noch nicht so sicher war, ob er dazugehörte. Das man überhaupt entscheiden muss, wo man dazugehört. Irgendwo einleuchtend, doch irgendwie war es das auch nicht. Anstelle dazuzugehören, sollte man nicht einfach sich selbst sein? Doch was bedeutete es überhaupt „sich selbst“ sein?
Das machte er oft. Also nachdenken. Nachdenken, So lange bis er selbst nicht mehr wusste, worüber überhaupt und ohne eine Antwort zu finden. Ernüchternd. Ob er damit allein war? kein Plan.
Vielleicht wollte Fr. Malko gar nicht den Latein-Notarzt memen, oder Herr Reigen den Kettenraucher. Niemand sucht sich so etwas aus. Fr. Malko macht ja wahrscheinlich auch mehr aus ihrem Leben, als nur Neros Texte zu übersetzen. Doch genauso wie die Profile mich in den Schubladen einengen, beginne auch ich so zu denken, dachte Jacob. Wenn ich so denke, wenn Fr. Malko, Herr Reigen oder wahrscheinlich jeder so denkt: Wer bin dann ich? Will ich der sein?
Und dann kam der Moment, den Jacob befürchtet hatte: das Namenskettenspiel.
Ein Adjektiv mit dem Anfangsbuchstaben unseres Namens und schwups war man eingeordnet. Schwups, war man eine Sache. Eine Persönlichkeit minimiert auf das Wesentliche, hatte ein Lehrer mal gesagt. Auf das Wesentliche einer Person. Für Jacob irgendwie traurig. Dabei ist es doch genau das was einen ausmacht. Die Pluralität, das Gesamte, mehr als nur ein rauchender Herr Reigen oder eine mickrige Frau Malko. Wohl kaum würde sich Herr Reigen oder Frau Malko darauf reduzieren und doch kategorisieren wir. Ist es nicht alles vielmehr als das.
Manchmal würde sich Jacob einfach wünschen, dass man glücklich mit J schreibt.
Doch heute ist und bleibt er der jugendliche Jacob.