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Warum Hasen lange Ohren haben
Es war einmal ein kleiner Hase namens Paulchen. Paulchen war ein sehr schöner Hase. Alle beneideten ihn um sein prachtvolles Stupsnäschen, seine blitzweißen Schneidezähnchen, aber vor allem um seine wunderschönen, klitzekleinen Ohren. Ja, ihr habt richtig gelesen. Früher hatten nämlich alle Hasen kleine Ohren. Paulchen hatte außergewöhnlich winzige und das galt als besonders schön. Er war sehr stolz auf sein Aussehen. Jeden Morgen sah er in den Spiegel und bewunderte sein prachtvolles Stupsnäschen, seine blitzweißen Schneidezähnchen und natürlich besonders seine klitzekleinen Ohren.
Er war in seinem Dorf sehr beliebt. In der Schule stand er immer im Mittelpunkt. Seine Schulkameraden umringten ihn, beschenkten ihn, machten seine Hausaufgaben im Austausch gegen Fotos von Paulchen mit seinem Pfotenabdruck darauf. Auch seine Eltern waren sehr stolz auf ihr Söhnchen und verziehen ihm alles. Selbst einst, als Paulchen die gesamten Karotten aufgefressen hatte, die als Wintervorrat gedacht waren, konnten sie nicht lange böse sein. Ein Blick der Mutter auf das prachtvolle Stupsnäschen, die blitzweißen Schneidezähnchen und die winzig kleinen Ohren ihres Nachwuchses genügte, und sie begann wie ein junges Hasenmädchen zu kichern: „Mein armes Miniöhrchen, es tut mir leid, ich hab dir wohl nicht genug zu fressen gegeben. Du brauchst ja sehr viele Vitamine, damit du so hübsch bleibst wie du bist.“
Paulchen mochte seinen Spitznamen Miniöhrchen sehr. Einzig Lenchen, die Nachbarstochter, schien Paulchens Gehabe nicht zu beeindrucken. Sie verstand einfach nicht, was an ihm so besonders sein sollte. Peter, der sowohl Lenchen, als auch Paulchen sehr mochte, redete auf sie ein: „Ich versteh dich nicht. Wie kann man nur Paulchen nicht mögen? Er ist doch perfekt!“
„Nein ist er nicht“, fauchte Lenchen.
„Er ist arrogant und beutet euch doch alle nur aus. Siehst du das denn nicht?“
Paulchen, der das gehört hatte, lächelte süßlich: „Das sagt nur jemand, dessen Ohren so groß sind, dass man meinen könnte, es wären Löffel!“
„Besser zu große Ohren, als so aufgeblasen zu sein wie du.“
Die beiden zankten sich oft auf diese Weise und Miniöhrchen ließ dabei keine Gelegenheit aus über Lenchens Ohren zu spotten.
Eines Tages entstand ein Gerücht. Die Kinder erzählten, dass im Wald eine böse und gefährliche Hexe hause. Als Paul das zu Ohren kam, spitzte er seine winzigen Lauscherchen. Er fand das alles sehr aufregend und so beschloss er in den Wald zu gehen, um die Hexe zu suchen. Die anderen Kinder wollten ihn davon abhalten und meinten das sei zu gefährlich. Doch Paulchen lächelte nur und zeigte seine blitzweißen Schneidezähnchen: „Wer wird denn jemandem etwas tun, der so schön ist wie ich?“ Alle hatten Angst um den furchtlosen Schönling, doch es fand sich auch keiner der ihn begleiten wollte.
So kam es, dass Paulchen sich alleine auf den Weg in den Wald machte. Es war ein dichter Tannenwald und Paulchen hatte bald die Orientierung verloren. Nachdem er eine Weile umhergeirrt war, kam er an eine Lichtung, in der ein kleiner Bach floß. Paulchen fing an sein Spiegelbild darin zu bewundern und war so verzückt, dass er für einen Moment vergaß, warum er in den Wald gegangen war. Doch plötzlich tauchte neben dem seinen noch ein anderes Gesicht im Wasser auf. Paulchen erschrak, drehte sich um und sah vor sich die Hexe.
„Na mein Hübscher, was tust du denn hier so ganz alleine?“
Unser tapferer Held war auf einmal starr vor Schreck.
„Was ist denn? Hat es dir Sprache verschlagen? Wieso sagst du nichts?“
„Es ist nur“, stammelte Paulchen „ es ist nur ... Sie ... Sie sind so furchtbar hässlich!“
„Was hast du da gesagt?“ schrie die Hexe. „Na warte du, dir werde ich’s zeigen!“
Paulchen erwachte zu Hause in seinem Bett. Das letzte woran er sich erinnern konnte war etwas wie ein heftiger Schlag oder ein Blitz. Er stand auf und ging in die Schule. Am Schulhof angelangt, posaunte er sofort los: "Ich hab die Hexe getroffen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie hässlich die war und wie ihr seht, mir ist nichts passiert!"
Der stolze Hasenjunge erwartete Beifall und Jubel, doch stattdessen starrten ihn alle nur an. Einige tuschelten miteinander, manche zeigten mit Pfoten auf ihn und kicherten, andere sahen weg, als sähen sie etwas ekelerregendes. Plötzlich fiel ihm ein, dass er heute noch gar nicht in den Spiegel gesehen hatte, wie sonst jeden Morgen, das hatte er in der Aufregung total vergessen. Er dachte, Gott bewahre, vielleicht hatte er Spinat zwischen seinen blitzweißen Schneidezähnchen. Also ging er aufs Klo und betrachtete sich im Spiegel. Bei diesem Anblick wäre unser Paulchen fast in Ohnmacht gefallen. Seine Ohren, seine winzigen, süßen Miniöhrchen waren plötzlich riesengroß! Paulchen konnte es nicht glauben, die Hexe musste ihn verflucht haben.
Heulend lief er in den Wald, dort wollte er für immer bleiben, denn kein Hase sollte ihn je wieder so sehen. Er setzte sich auf einen Baumstamm, um nie wieder aufzustehen. Doch plötzlich hörte er etwas. Es war sehr leise und klang, als ob es sehr weit weg wäre, aber Paulchen wusste was es war. Es war ein Bellen. Er hatte das Geräusch schon mal gehört, als er noch sehr klein war. Damals hatten Hunde das gesamte Nachbarsdorf getötet. Er dachte: "Ach, sollen sie mich doch fressen. Ich bin so hässlich. Ich will gar nicht mehr leben." Also blieb er zunächst einfach auf seinem Baumstamm sitzen. Doch ohne es sich selbst wirklich erklären zu können, musste er plötzlich an Lenchen denken. Der Gedanke, dass ihr etwas geschehen könnte, war ihm unerträglich. Dann dachte er an seine Eltern und an alle Hasen in seinem Dorf. Die Angst, ihnen allen könnte etwas zustoßen wurde so groß, dass sie ihn seine Eitelkeit vollkommen vergessen ließ.
Hakenschlagend lief er zurück ins Dorf. Dort angekommen schrie er:
„Hunde! Hunde! Sie kommen auf uns zu!“
Die anderen sahen ihn nur verdutzt an. Sie dachten, jetzt hat er nicht nur hässliche Ohren, sondern ist auch noch übergeschnappt. Paulchen verstand die Welt nicht mehr.
„Ich kann ihr Bellen jetzt schon ganz deutlich hören. Sie müssen schon ganz nah sein. Das gibt’s doch nicht, dass ihr das nicht auch hört!“
„Wir hören gar nichts, Paulchen“, sagte Peter, der ihn fast mitleidig ansah.
„Moment, er hat recht!“, erhob plötzlich Lenchen ihre Stimme.
„Ich kann es auch hören, zwar ziemlich leise, aber es ist eindeutig Hundegebell.“
Nun starrten alle auf Lenchen.
„Was steht ihr den alle noch herum?“, unterbrach Peter nach einer Weile die Stille.
„Los! Alle Hasen ab in die Höhlen!“
Die Dorfbewohner zögerten anfangs etwas, doch schließlich hoppelten sie brav in ihre, eigens für einen solchen Notfall errichteten, unterirdischen Höhlen. Sie verschlossen sie mit Felsblöcken und warteten ab. Nach einiger Zeit vernahmen alle ein ohrenbetäubendes Bellen. Die Hunde durchsuchten das Dorf und zogen enttäuscht wieder ab. Die Häschen warteten noch ein wenig ab und kamen dann wieder aus ihren Höhlen hervorgekrochen.
Paulchen wurde von allen umringt und gefeiert, so ähnlich wie damals, als er noch schön war, doch diesmal freute ihn die Beachtung aus irgendeinem Grund noch vielmehr.
„Wie hast du das nur gemacht, Paulchen?“, wollten alle wissen.
„Ich weiß es“, sagte Lenchen und sah Paulchen dabei ins Gesicht.
"Es sind unsere zu großen Ohren, stimmts Paulchen? Wir hören einfach besser als ihr Kurzohren.“
„Zu groß?“, fragte Peter. „Machst du Witze? Eure Ohren sind großartig! Ihr habt uns damit allen das Leben gerettet! Ich wünschte, wir alle hätten solche Ohren!“
„Wirklich? Da lässt sich vielleicht was machen!“, schmunzelte Paulchen.
„Na so was! Da ist ja wieder mein Schönling, oder vielleicht doch nicht mehr so schön?“, lachte die Hexe hämisch.
Paulchen gab sich einen Ruck.
„Es tut mir leid, dass ich Sie beleidigt habe. Ich hab viel nachgedacht und habe erkannt, dass Schönheit nicht wichtig ist und, dass ich bisher immer nur an mich und nie an andere gedacht habe. Ich will versuchen mich jetzt zu ändern und hoffe sehr Sie nehmen meine Entschuldigung an."
„Schon gut mein Junge, es scheint du bereust es wirklich und hast etwas daraus gelernt. Und nun willst du sicher, dass ich dich zurückverwandle, stimmt’s?“
„Nein!“
„Nein?“
„Aber ich hätte eine Bitte. Könnten Sie allen Hasen solche Ohren machen wie mir?“
Die Hexe brach in schallendes Gelächter aus.
„Also damit hätte ich nicht gerechnet, Paulchen. Ich wollte dir nur eine kleine Lektion erteilen, weil du so furchtbar eitel warst. Aber nun gut, wenn das dein Wunsch ist, so soll er dir gewährt werden!“
Als Paulchen ins Dorf zurückkehrte, hatten tatsächlich alle Hasen lange Ohren und waren überglücklich darüber. Lenchen hatte besonders große, wahrscheinlich weil ihre vorher schon etwas länger waren. Paulchen sah sie an und dachte, sie ist das wunderschönste Hasenmädchen des ganzen Dorfes.