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Warum fragten sie mich nicht?
Warum fragten sie mich nicht? (überarbeitet 26.09.02)
Was sich in diesem Kriminalfall in den letzten zehn Tagen getan hatte, war schon fast filmreif. Ein ganzes Team bemühte sich Tag und Nacht, den Täter, oder die Täterin, zu finden. Ergebnislos bis heute. Immerhin schafften sie es, den Kreis der Verdächtigen auf drei Personen einzugrenzen. Alle Gedanken und Bemühungen drehten sich seit diesem Moment, bildlich gesprochen, im Kreise. Stellte man ihnen genügend Geld, Zeit und technisches Gerät zur Verfügung, würden sie es schaffen. Bestimmt. Vielleicht nicht, jemanden des Mordes zu überführen, aber immerhin jemanden zu verurteilen.
Dabei hätten sie doch nur mich fragen müssen!
Ich war schließlich hautnah dabei. Ich weiß wovon ich rede! Und das Ganze wäre so einfach gewesen. Sie hatten mich ja schon knapp zwei Tage nach der Tat gefunden, versteckt im Wald, unter jenem Gebüsch, das mich fast perfekt verbarg. Allerdings wäre ich damals noch nicht in der Lage gewesen, auszusagen. Sie fragten, taktvollerweise, auch nicht. Die Polizisten legten mir sorgfältig ein schützendes Tuch und brachten mich zum Revier. Meine Identität war schnell festgestellt, man kannte mich in den Reihen der Kriminalisten. Über mein Alter lagen ihnen keine exakten Fakten vor, aber die Spezialisten waren in der Lage, es auf fast ein Jahr genau zu schätzen. Im Labor untersuchten sie mich auf Herz und Nieren, wie man so schön sagt – und trotzdem fanden sie nichts, was ihnen bei der Suche konkret weitergeholfen hätte.
Warum fragten sie nicht, wo ich doch wirklich alles, bis ins Detail, wusste?
Ich spürte genau, wie sie mich aus dem sorgfältig gewählten Versteck holte, mich mit dem weichen Tuch liebevoll abrieb – und ich sah deutlich, wie ihre Hände dabei zitterten. Ja, sie war sehr nervös. Ihre eleganten, gepflegten Hände mit dem dezenten Perlmutt-Nagellack waren schweißnass. Die sonst so hübschen Augen waren durch Tränen verschleiert, aber ihre Lippen waren fest entschlossen zusammengepresst. Irgendwie tat sie mir in diesem Moment leid. Der Wille zum Mord war da, die Überzeugung, dass es richtig sei, ihn umzubringen, auch. Aber der Körper wollte noch nicht. Sie war noch in sich zerrissen, das war in Ihrem Gesicht deutlich ablesbar. Vor allem aus meiner Perspektive (aus der Sicht von schräg unten waren ihre Lippen trotzig vergrößert und gleichzeitig wirkten sie noch schmäler und blutleerer). Ich fühlte, wie es sie beruhigte, mich mit dem weichen Tuch abzureiben. Es schien, als ob sie physische und psychische Kraft aus mir schöpfte. Ihr Körper bekam Spannung, die Hände fühlten sich nun geschmeidig und warm an. Aber die letzten Zweifel waren noch nicht verschwunden.
Gut, sie wollte ihn nicht nur umbringen – sie musste es geradezu tun. Alles, was sich in den letzten Wochen abspielte, zielte auf diese glasklare Entscheidung hin. Es gab kein Zurück mehr.
Aber war die Pistole das richtige Instrument, um ihn ins Jenseits zu befördern? Wäre Vergiften nicht eine elegantere, harmlosere Methode gewesen? Immerhin hatte er, trotz der sich ständig vertiefenden Kluft zwischen ihnen, immer noch Vertrauen in sie. Und sie kochte ihm täglich drei Mahlzeiten. Er würde das Gift ohne Argwohn von ihr entgegennehmen. Alles ginge kurz und schmerzlos. Bei geschickter Wahl des Giftes vielleicht sogar so, dass die Polizei einen Mord nicht einmal zweifelsfrei nachweisen könnte. Dann würde es ein bedauerlicher Unfall sein.
Aber wollte sie das?
Nein, Ihr Stolz sagte ihr, dass sie seinen Tod nicht nur aktiv, sondern auch für ihn offensichtlich herbeiführen müsse. Es sollte eine Bestrafung sein, für alles, was er ihr in letzter Zeit angetan hatte. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass er den Bogen überspannt hatte, dass sie sich so nicht behandeln ließe. Nicht von ihm.
Ihn mit eigenen Händen erwürgen, ganz nach der alttestamentarischen Methode „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, das käme ihrer Wunschvorstellung am nächsten. Aber diese Lösung war nicht durchführbar. Immerhin war er fast um einen Kopf größer als sie und hatte einen durchtrainierten Körper. Und sie war Realistin.
Aus diesem Grunde wählte sie mich.
Dann ging alles sehr schnell: Sie trat ins Wohnzimmer und gab den tödlichen Schuss ab. Kurz, präzise und unspektakulär.
Warum können Kriminalisten nicht einfach eine Pistole ins Kreuzverhör nehmen? Gut, ich hätte nicht antworten können. Aber ich hätte zumindest mit dem Abzugshahn auf ihre Fragen bejahend nicken können. Ein Schwenken des Laufs hätte man eindeutig als Nein interpretiert, da bin ich mir sicher. Und ein „weiß ich nicht“ hätte es in meinem Fall nicht gegeben. Ich bin mir meiner Sache absolut sicher.