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Warum die Käfer so viel Glück haben

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21.12.2012
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Warum die Käfer so viel Glück haben

Warum die Käfer so viel Glück haben

„Weißt du“, sagt sie und schaukelt auf dem Geländer so vor und zurück, dass mir schlecht vor Angst wird, „weißt du, eigentlich ist so ein Käfer ja ein ziemlich glückliches Tier. Also, nicht zwingend glücklich von wegen das er immer glücklich drauf ist und so, du weißt schon, aber er hat eigentlich echt Glück. Also, in dem Sinn glücklich mein ich.“
Sie sagt nichts und wartet. Ich sage auch nichts. Was soll man darauf auch antworten? Dafür fängt sie nach einer kurzen Schweigeminute wieder an.
„Weißt du, irgendwie hab ich in letzter Zeit angefangen, mehr nachzudenken, über alles eben, so richtig viel. Das hab ich gelesen, dass man da glücklicher ist, wenn man seine Umwelt mehr wahrnimmt und mehr drüber nachdenkt. Das hab ich ausprobiert, wirklich, ich hab‘s durchgezogen. Ich hab wirklich viel nachgedacht die letzte Zeit, über alles Mögliche, über Trauerweiden, Filme, Pearl Jam, keine Ahnung was noch, alles was grade da war. So richtig da. Und da war eben auch ein Käfer, auf einem Baumstamm, und deswegen komm ich da überhaupt drauf. Das der glücklich sein muss.“
Sie sagt lange nichts und schaukelt nur. Vor und zurück, immer wieder vor und zurück, und jetzt beginnt sie sich weiter vorzubeugen. Mir wird noch schlechter. Ich muss irgendwas sagen, damit sie wieder zu mir schaut, aufhört zu schaukeln, damit sie auch wieder was sagt. Eigentlich will ich tief und ruhig reden, aber meine Stimme hört sich seltsam dünn und wackelig an. So wackelig wie das Geländer aussieht.
„Wieso ist denn ein Käfer so glücklich?“
„Ich hab nicht gesagt dass er glücklich ist, es ist nur wahrscheinlich so. Also glaube ich jedenfalls. Schließlich kann ich ja kein käferisch, vielleicht stimmt das auch alles gar nicht was ich sage.
„Ok, wieso ist denn ein Käfer wahrscheinlich so glücklich?“
„Weil er den absolut wunderschönsten Tod sterben kann, den man sich vorstellen kann.“
Ich zucke innerlich zusammen. Sie kommt nicht von diesem Thema weg, ich will nicht dass sie darüber redet wie schön ein Tod sein kann, während sie hier auf diesem Geländer sitzt.
„Was sagst du dazu?“
„Was?“
„Naja, wie du darüber denkst.“
„Über den Käfer? Keine Ahnung. Tod ist doch nichts Gutes.“
Sie seufzt. Es ist kein herablassendes Seufzen, sondern ein resigniertes, erschöpftes. Sie seufzt wie ein Mensch, der sehr lange versucht hat Anderen eine Überzeugung näherzubringen, der aber immer auf wieder pure Unverständnis gestoßen ist. Wie ein Mensch, der dabei aber genau weiß, das eine Erkenntnis das Leben der anderen bereichern könnte. Ich glaube wirklich dass so etwas zermürbend sein kann. Ich verstehe sie, aber ich verstehe sie nicht.
„Dann sag mir, wie ein Tod schön sein kann. Erklär‘s mir.“ Sie wendet sich mir ganz zu. Jetzt hab ich sie.
„Naja, egal was nach dem Tod kommt, ob etwas kommt oder nicht, das, was du als letztes tust und siehst und spürst, diese Eindrücke werden mit hineinwehen in dieses schwarze Loch, von dem sie bei dem Tod immer reden. Es wird das einzige aus dieser Welt sein, das dich begleitet, dass dich erinnern lässt. Und das, was nach dieser Welt kommt wird sehr lange sein, es wird nämlich ewig sein. Das glaube ich wirklich. Deswegen sollte man sein kurzes Leben doch darauf verwenden, eine gute Erinnerung zu schaffen, ein gutes Gefühl, dass mit uns mitkommt.“
Jetzt ist mir zwar immer noch schlecht, aber dazu fühlt sich mein Inneres leer an.
„Willst du… damit sagen dass das Wichtigste, was man ein seinem Leben tun sollte, das Sterben ist?“
„Ja.“
„Aber das ist dann Suizid.“
Jetzt stöhnt sie genervt auf. „Nenn es wie du willst, Selbstmord, ein ‚freiwilliges aus dieser Welt Scheiden‘ oder sonst wie. Auf jeden Fall ist es wichtig und richtig, denn es ist für die Ewigkeit. Natürlich kann man das auch durchziehen wenn man achtzig ist, aber wenn man jung ist hat man doch mehr Möglichkeiten.“
Ich sage wieder eine Weile lang nichts. Ich muss aber etwas sagen, ihr zeigen, dass ich ihr Gerede nicht einfach gleich als Schwachsinn abtue. Sondern dass ich wirklich darüber nachdenke.
„Und was ist, wenn das mit dem schwarzen Loch gar nicht stimmt? Wenn nach dem hier etwas unglaublich Aufregendes, Neues kommt? Dann brauchst du keinen guten letzten Eindruck, der mit dir mitkommt, dann beendest du dieses Leben einfach nur viel zu früh und ärgerst dich hinterher, dass du nicht alles ausgenutzt hast. Nicht alles getan hast, was du hättest tun können.“
Sie sieht mich an und lächelt ein kleines bisschen. Ihre Lippen bewegen sich kaum, trotzdem erreicht es ihre Augen. „Weißt du, ich mag dich wirklich, das hab ich schon oft gesagt. Ich mag dich, weil du das, was ich sage nicht einfach gleich als Schwachsinn abtust sondern richtig darüber nachdenkst. Und was du grade eben gesagt hast ist gar nicht mal so dumm, aber ich gehe einfach lieber auf Nummer sicher. Und wenn du Recht hast und hiernach wirklich etwas ungemein Tolles kommt, dann bin ich über die paar Jahre, die ich noch gelebt hätte, sowieso nicht traurig. Ist doch so. So ist es, finde ich.“
Nein, nein, nein. Jetzt hab ich sie nicht nur nicht überzeugt, ich habe sie sogar noch auf einen neuen Weg gebracht und sie in ihrer Überzeugung bestätigt. Am liebsten würde ich einfach nach vorne springen, ihre Schultern greifen und sie von dem verdammten Geländer runterreißen. Aber sie ist zu entschlossen und ich wäre zu langsam. Sie würde sich sofort vom Rand abstoßen, das weiß ich.
„Willst du nicht wissen, wieso es so wunderschön für ihn sein kann?“
„Was?“
„Für den Käfer.“
„Achso.“ Ich will nichts mehr als mich umdrehen, nach Hause laufen ohne einmal zurückzuschauen und schlafen, schlafen.
„Wieso kann es denn so wunderschön für einen Käfer sein, zu sterben?“
Sie lächelt wieder, etwas verträumt diesmal. „Naja, also, wenn sich ein Käfer das Gleiche denkt wie ich überlegt er sich, wie er es denn anstellen kann, dass ein absolut unübertreffliches Gefühl mit in das schwarze Loch kommt. Und ein Käfer ist ziemlich klein, deswegen stehen ihm alle Möglichkeiten offen. Er kann nämlich an einem Baumstamm hochklettern. Er kann durch die Furchen der Rinde wandern, bis er es zum ersten Ast geschafft hat und da eine Pause einlegen. Dann macht er weiter, vielleicht braucht er keinen ganzen Tag, vielleicht zwei. Da sitzt er dann nachts hoch über der Welt, sieht die Sterne an, die ganze Welt und ist vollkommen im Reinen mit sich selbst. Und irgendwann, wenn er viel geklettert ist, immer höher und höher und höher, du weißt schon, für einen kleinen Käfer ist das sehr hoch, dann krabbelt er auf einen Ast hinaus und lässt sich fallen.“
Naiver, armer kleiner Käfer. Genau wie sie.
„Und dann?“
„Und dann? Und dann stirbt er, wenn er unten angekommen ist. Und er fällt in das schwarze Loch, aber das ist nicht schlimm. Er fällt mit dem Rauschen des Windes in seinen Ohren, dem Geruch von kalter Luft und warmer Rinde, dem Anblick von einem Meer aus grünen, riesigen Blättern, die an ihm vorbeirasen, Tautropfen, in denen sich die Sonne wiederspiegelt, er fällt durch eine ganze Welt, weil er so klein ist. Und das wird für immer bei ihm bleiben. Deswegen sind Käfer so verdammt glücklich. Ich kann das nicht.“ Sie schluchzt auf, kurz und voller Schmerz. „Entweder stirbt man als Mensch heutzutage mit dem Geschmack von Medizin, dem Gefühl von Schläuchen in der Nase und dem Anblick von kalten, weißen Wänden, oder dem Knirschen von Metall, dem Gefühl von eingequetschten Beinen und dem Geruch verbrannter Autoreifen. Oder was weiß ich. Nichts Gutes. Und genau deswegen will ich das jetzt machen, eine Brücke über grünen Wäldern kommt doch dem, was die Käfer machen können am nächsten! Warum versteht ihr das alle nicht? Warum, verdammt?“ Jetzt hat sie wirklich angefangen zu weinen, und sie weint in kurzen, abgehackten Akkorden. „ Und außerdem ist das doch keine Verschwendung. Mein Leben hat nicht gut angefangen und ist schlechter geworden, lieber jetzt, als wenn ich später überhaupt nicht mehr die Möglichkeit habe, gut zu sterben.“
Ich bin stumm. Ich habe die Fähigkeit zu sprechen verloren. Wenigstens für eine Weile. Von was sie hier spricht ist zugleich so unendlich schön und furchtbar, dass ich einfach nichts sagen kann. Aber ich stehe hier, und ich werde sie von diesem Geländer runterholen. Ich werde ihr zeigen, dass es noch Besseres, noch Wichtigeres gibt als hier und jetzt den Tod eines Käfers zu sterben. Käfer begehen keinen Selbstmord, da bin ich mir ziemlich sicher. Sie treffen andere Käfer, bekommen neue, noch kleinere Käfer, wandern durch Wälder aus Grashalmen und sehen sich die aufgehende Sonne im Tau an. Aber nicht auf einem Baum, mit der Absicht zu sterben. Sondern mit der Absicht zu leben.
Daran denkt sie nicht, dachte sie bis jetzt nicht. Aber es gibt viel, was ein Käfer noch tun sollte, bevor er stirbt. Wie sie auch. Und ich weiß, dass Menschen da sein, werden, die ihr wenn sie alt ist helfen, gut zu sterben. Wenn sie alt ist. Wenn sie alt ist.
Ich habe meine Stimme wieder.
„Es stimmt, das ist ein wirklich schöner Tod. Und Käfer sind wirklich ganz schön glücklich. Aber weißt du was? Nicht wegen diesem Tod. Nicht weil sie von einem Baum springen können, das tun sie nicht. Und trotzdem haben sie wirklich verdammt viel Glück.“
Sie wischt sich über die Augen und sieht mich wieder an, richtig an. Ihre Stimme ist belegt von Tränen, aber sie ist da. „Weswegen sollten sie sonst so glücklich sein?“
Und ich beginne zu erzählen.

 

Hallo Yushiko,
das ist eine ziemlich harte und doch irgenwie optimistische Geschichte. Das Bild mit dem Käfer finde ich in der Sprache beider Charaktere sehr schön und gelungen. Aber irgendwie bricht die Geschichte meinem Gefühl nach da, wo sie anfängt zu schluchzen. Da, wo die Todessehnsucht umschlägt in dieses - sorry - Gejammer. Ich habe das Gefühl dass Du bis dahin sehr gut eine Spannung aufgebaut hast, aber die Geschichte dann etwas ins Banale abdriftet und leider sehe ich auch das Ende in diesem Licht. Meine persönliche Meinung aber die erste Hälfte hat für mich ein Versprechen gegeben, das der Rest der Geschichte nicht hält. Willst Du dem Ganzen nicht noch eine andere Richtung geben? (Aber bitte lass sie nicht springen ;-) )
Viele Grüße
TeBeEm

 

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