Warten
Solène Balmer steht stocksteif am Brückengeländer im warmen Licht der Abendsonne und schaut aufs Handy. „Schon zwanzig nach sieben. Hoffentlich ist ihm nichts Schlimmes zugestoßen! Dass ich immer gleich – er musste vermutlich länger arbeiten. Mal schauen, vielleicht hat er mich zu erreichen versucht. Nein, keine SMS. Bin ich womöglich am falschen Ort? Passiert mir in letzter Zeit ziemlich oft. Ich habe einen Termin beim Zahnarzt und gehe zum Frisör.“ Sie lächelt. „Verständlich, ich denke nur noch an ihn…“ Solène legt den Kopf etwas schief. „Nein, Hendrik hat gesagt um sieben bei unserer Brücke. Unsere Brücke …“ In ihr steigen Bilder hoch. Sie greift sich an die Nase, als will sie die Brille zurechtrücken und schmunzelt. „Ich trage ja gar keine Brille mehr, seit jener Nacht. Hendrik hatte gesagt, ich solle mein hübsches Gesicht nicht hinter einer Brille verstecken. Aber ich sehe doch nichts, ohne. Und in meinem Beruf gehört sie zum unerlässlichen Accessoire. Dann der erste Kuss an diesem Geländer, Rotwein in seiner Wohnung, ein weiches Sofa, seine schönen warmen Hände auf meinem steifen Körper – war wunderschön. Keine Schmerzen mehr. Hendrik gibt mir das Gefühl eine vollwertige Frau zu sein, trotz meines Rückens.“ Sie spürt das Eisen in sich. Titanschrauben und Stangen, die ihre Wirbelsäule stabilisieren. Solène erinnert sich an die Ärzte, die mit Fachbegriffen nur so um sich warfen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass sie diese auf Anhieb versteht. Sie leide an einer kongenitalen Skoliose mit Progredienz. Für Solène reichte ein Blick in den Spiegel. Sie sah die Verkrümmung der Wirbelsäule, die sie seit Kindesbeinen an hatte und sich im Wachstum kontinuierlich verschlimmerte. Aus diesem Grund rieten ihr die Fachmediziner zur Operation, mit der vier Wirbel versteift wurden. Ihr war egal, ob der Eingriff Spondylodese genannt wurde. Die Hauptsache für sie waren die Schmerzen, die deutlich weniger auftraten und ihr ein neues Lebensgefühl bescherte. Nur an kalten Tagen hatte sie das Gefühl, als wäre ihr Rücken komplett aus Eisen.
„Haben was zu feiern, hat er am Telefon gesagt. Mehr nicht. Wir sind sieben Monate zusammen, heute. Aber wir sehen uns viel zu wenig. Ich möchte, dass mich Hendrik entführt, irgendwo hin, weit weg, in die Welt hinaus, auf eine einsame Insel.“
Auf der anderen Seite Brücke wartet eine weitere Frau. Birgit Gramm wirft einen schnellen Blick auf die Armbanduhr, zieht die Stirn kraus und schüttelt den Kopf. „Wo bleibt denn, mein Hendrik?“ Sie schmunzelt. „Dienstag mit Hendrik, immer Dienstag. Seit …? Rebekka ging noch in den Kindergarten, Melanie war noch gar nicht da – mein Gott, fünf Jahre …“ Sie hebt die Augenbrauen. „Damals nach dem Prozess, seine Ex war meine Klientin, und dann – Dass Roland noch nie darauf gekommen ist. Er schöpft nicht einmal Verdacht, vertraut mir blind. Sein Ein und Alles sei ich, sagt er. Ja, ist schon seltsam. Aber es ist so. Ich liebe Roland und ich liebe Hendrik.“
Solène Balmer fröstelt. Sie fühlt sich sichtlich unwohl, zupft ständig am Saum des Kleids herum. Die blonden frisch gelockten Haare fallen auf ihre spitzen Schultern, die sie hochgezogen hat. Sie presst die nackten Arme an den schmalen Leib und reibt sich hin und wieder die blasse Haut. „Ich hätte eine Jacke mitnehmen sollen. Das Kleid ist wirklich viel zu kurz. Und andere Schuhe. Habe kalte Füße. Nur gut sind wir in seiner Stadt. Was würden wohl die Kolleginnen aus dem Geschäft zu meiner Garderobe sagen? Das Wetter schlägt um. Mir machen die Schrauben im Rücken zu schaffen. Um sieben bei unserer Brücke. Ich bin da, Hendrik!“
Der Blick von Birgit Gramm wandert über die Brücke. „Die dort drüben? Wartet die auch auf einen wie Hendrik? Glücklich sieht sie nicht aus. Ob sie friert?“ Die Augen mustern die Person auf der anderen Seite der Brücke. „Zu blass. Da nützt auch das deftige Make-up nicht viel. Wenigstens passt der Lippenstift zu den roten Pumps. Das kleine Schwarze steht ihr nicht. Kommt wohl gerade vom Frisör. Zu dünn. Da sind mir meine paar Kilo zu viel doch lieber. Die Diäten sind zwar alle umsonst, aber dafür frier ich nicht.“
Solène verschränkt die Arme vor der Brust und verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den andern. „Ich fühle mich wie die Schneekönigin im Eispalast. Ausgestellt. Vergessen.“ Sie schließt die Augen. Grillen zirpen und in der Abendluft schweben Düfte von frisch geschnitten Veilchen, Honig, Vanille und Pfeffer. „Es ist Sommer. Und Hendrik kommt bestimmt gleich.“
In Birgits Blick verschwimmt die Frau auf der anderen Seite der Brücke allmählich und sie sieht Hendrik, wie er danach auf den Ellenbogen gestützt im Bett liegt und ihr über die Hüfte streichelt. „Lass die Moral aus dem Spiel, sagt Hendrik. Die vertragen sich nicht, unsere Liebe und die Moral. Er ist vernarrt in meine Sommersprossen, meine Füße. Wozu noch Grundsätze.“
Der Schmerz im Rücken holt Solène aus den Gedanken an Hendrik und die Zweisamkeit. Dafür schiebt sich eine Frau in ihr Sichtfeld. „Hm, ich bin heute nicht die einzige Frau, die wartet.“ Sie schaut genauer hin. „Ist das nicht …? Unmöglich. Oder doch? Sie sieht aus wie …?
„Meine ich das nur, oder hat mich die da drüben soeben fixiert?“
„Nein. Sie ist es nicht. Franziska trägt keine Kostüme mehr, jedenfalls nachdem sie die Stelle in der Bank verloren hatte. Sie sagte mir, man habe sie unter dem Vorwand der Finanzkrise entsorgt. Ich sollte sie wieder einmal anrufen. Oder lieber doch nicht? Wäre vielleicht keine gute Idee. Sie ist glücklich, jetzt, in ihrem neuen Leben.“
Birgit Gramm wendet den Blick von der Frau auf der anderen Seite der Brücke ab und verengt die Augen zu messerscharfen Schlitzen. „Warten. Auf Hendrik. Und sonst noch? Auf wen? Auf was? War das schon alles? Die dort drüben wartet auch. Seit kurz vor sieben, seit ich hier bin. Wenn sie jetzt auch auf Hendrik warten würde?“ Birgit schaut sich um. „Wo bleibt er denn! Ich wachse hier noch in den Boden ein. Keine Bewegung mehr. Eine Statue, eine Brückenheilige. Fünf Minuten, noch fünf Minuten, Hendrik.“
Auf dem Handy sieht Solène, wie die Zeit unaufhaltsam vorrückt. „Wo bleibst du nur? Ich habe nämlich auch eine Überraschung für dich, Hendrik.“ Sie legt die Hand auf den Bauch und eine Wärme steigt ihr in die Wangen. „Oh, die Frau auf der anderen Seite der Brücke geht. Ob sie versetzt wurde? So wie Franziska? Der Kerl war damals nie wieder aufgetaucht. Er führte ein Doppelleben, traf sich mit anderen Frauen. Entsetzlich diese Vorstellung. Hat sie überhaupt auf einen Mann gewartet? Ach, Hendrik.“ Sie tippt seine Nummer ins Handy, doch die Nummer gibt es nicht.