Warten
Die abblätternde grüne Farbe zeigte die Abgeschiedenheit und Trostlosigkeit dieses Ortes besser als der übervolle – wahrscheinlich noch niemals geleerte – Mülleimer oder die Pflastersteine, die unter dem Waldboden in Vergessenheit ertranken. Die Luft roch etwas modrig; nach Eichenlaub. Wenn er angestrengt in die Stille lauschte hörte er dann und wann einen Ast brechen; etwas im Laub rascheln. Es war noch nicht kalt, aber es würde nicht mehr lange dauern bis er seinen Atem vor sich durch die Luft schweben sehen könnte.
Er schlug die Beine übereinander. Die morschen Bretter der grünen Parkbank protestierten heftig, hielten aber. Er sah auf zwei rostige Linien, die direkt durch den Wald führten. Man musste schon zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass es Schienen waren. Er genoss die Ruhe, verteufelte aber das Warten. Er wollte nicht länger warten! Sein Gesicht verzog sich und die Lippen entblößten strahlend weiße Zähne. Der Wind trug ihm eine blonde Strähne vor die Augen, diese er geistesabwesend zurückstrich. Er war einmal der Meinung gewesen, dass Wälder sinnlos sein. Er hatte es nicht verstehen können, warum Menschen es mochten in der Wildnis umher zu gehen. Damals war er ein anderer gewesen. Aber alles hatte sich verändert. Alles!
Als er vor der grünen Lunge stand wusste er noch nicht, weshalb er hier war. Er hatte im Büro alles stehen und liegen lassen, hatte seiner Sekretärin keinen Grund genannt, weshalb er verschwand. Es war egal. Es gab Termine: 12Uhr30, Briefing mit den Mitarbeitern; 14Uhr55, Essen mit den neuen ausländischen Partnern. Es gab wichtige Termine: 9Uhr, die ORGAF National-Sache; 17Uhr20, Meeting mit den Großaktionären. Und es gab das Schicksal: Dagegen ist man machtlos.
Er fuhr los. Aus der Stadt kommend brauchte man knapp vierzig Minuten bis zur grünen Lunge. Ihm kam es so vor, als wäre er eingestiegen, hätte den Motor zum Leben erweckt, nur um ihn dann sofort wieder ersterben zu lassen. Als wenn er teleportiert worden wäre. Sein Kopf war leer. Es gab keine Termine. Keine wichtigen Termine; es gab nur das Schicksal!
Er ließ seine Fingernägel über den brüchigen grünen Film der Bank gleiten. Mit einem kurzen stechenden Schmerz schob sich ihm ein abgelöstes Stück Grün unter den Nagel des linken Zeigefingers. Er zog die Luft ein. Er hat Hoffnung gehabt. Die Hoffnung war da gewesen. Er hatte sie schon sehr lange. Die unbegründete Hoffnung auf neues Leben. Er zog das schmerzende Plättchen unter dem Nagel hervor und lies es auf seine Handfläche gleiten. Es war wie eine Parabel. Hoffnung war wie die grüne Farbe dieser Parkbank. Zuerst war sie glatt und allumfassend, aber dann bekam sie Risse; entblößte die nackte Wahrheit unter der Fassade. Irgendwann einmal würde einen die Hoffnung dann verletzten. So war es dann auch! Er nickte mit dem Kopf und sah in die Ferne.
Die Baumstämme waren die Säulen eines unglaublichen Ballsaals, dessen Decke der Himmel war. Nun war die Decke grau, bald würde es regnen. Ihm war es einerlei. Er fror noch nicht, aber dies verdankte er nur seinem Kurzmantel. Der grau melierte Nadelstreifenanzug darunter war kein Gegner für die aufkeimende Kälte. Wenn es regnen würde, dann hätte das Wetter sich wenigstens mit seinem Gemütszustand synchronisiert. Er lächelte ohne jedwede Freude. Nun konnte man nicht nur sein Blackberry mit dem internen Firmenserver synchronisieren, sondern auch das Wetter mit den Gefühlen... was würde als nächstes kommen? Er dachte damals, sie wäre die eine gewesen. Er hat gehofft. Hoffnung ist die blätternde Farbe auf einer vergessenen Bank mitten im Wald. Aber er hat es nicht gesehen. Er war blind gewesen. Hat er nicht so viel für sie gemacht? Hat er ihr nicht so vieles geben wollen? Er war damals nicht reich, aber er wollte ihr viel wertvolleres als Pandoraarmbänder oder Nerzmäntel schenken. Er wollte ihr seine Liebe und Zuneigung schenken. Er wollte ihr sein Herz schenken! Er wollte es nicht nur – unter seinem Fingernagel bildete sich ein Druck, die rosa Haut verfärbte sich bläulich – er hat es ihr geschenkt, hatte sich selbst aufgegeben. Für sie! War er so blind gewesen? Er schüttelte den Kopf. Es war keine Blindheit. Es war Liebe. Aber dieses Gefühl ist ebenso empfindlich wie grüne Farbe. Auch die Liebe bröckelt irgendwann, wenn man nicht ständig mit dem Pinsel die Linien nachzieht. Sie benutzten zwar oft seinen Pinsel, aber er zog keine neuen Linien. Keine neuen Lebenslinien auf weichen kleinen Kinderhänden. Keine blauen Augen, die genauso aussahen wie ihre. Keine große Nase, wie die seine. Keine Lebenslinien auf weichen kleinen Kinderhänden, die mit all ihrer zerbrechlichen Kraft einem den Daumen drücken, wenn man ihnen die Hand entgegenstreckt. Nun fiel der erste Tropfen auf den Kragen seines Mantels. Es war jedoch kein Regen. Er weinte. Wie lange schon hat er nicht mehr geweint? Er wusste es nicht. Nicht einmal als er es erfahren hatte, weinte er. Er konnte es nicht. Er hatte sich über die Jahre zu einem steinernen Ableger seiner selbst gemacht. Die wenigen Gefühle lagen in dem Herzen, welches sie in den Händen hielt. Was hatte sie nur damit gemacht? Wie sorglos war sie mit seinem Herzen umgegangen? Wusste sie nicht, dass ein Holzpflock, den man in ein Herz stößt Schmerzen bereitet? Erst dachte er, sie wüsste es wirklich nicht, aber das war der Rest Liebe, welcher aus ihm sprach. Nun wusste er es besser. Ihr war es bewusst, aber sie liebte ihn nicht und deshalb war es ihr egal. Zuneigung. Liebesbeteuerung. Alles Humbug! Die Liebe kann man nicht zeigen. Sie ist da oder nicht. Dies ist das Geheimnis. Wieso hatte er nur solange gebraucht, um dies zu begreifen? Er musste erst auf dieser Parkbank platz nehmen, damit es ihm bewusst wurde! Nun wartete er. Wartete.
Dies war früher nie seine Art gewesen. Alles musste sofort geschehen. Nicht gleich. Nicht später. Sofort! Hätten neue Lebenslinien dies verändert? Würde er es erfahren? Er war sich unsicher. Sein Herz hatte er schließlich zurückbekommen. Es war ein Wrack; hat nichtmal mehr Schrottwert; die Garantie war abgelaufen. Er hat es nicht regelmäßig in die Inspektion gebracht und deshalb war die Garantie verloschen; verloschen wie die Liebe zu ihr. Aber stimmte das? War die Liebe zu ihr vollends verloschen? So sehr er sich selbst dafür hasste, musste er sich diese Frage mit einem „Nein“ beantworten. Tief unten im eingedrückten rostigen Kamin, der seine Liebe mit Feuer nährte, glomm eine Glut mit ihrem Namen darauf. Was hatte sie ihm angetan? Was hat sie der Zukunft angetan? Es war abartig gewesen! Er konnte nur eines tun. Er musste sie schnellstmöglich vergessen. Er musste sich das zurückholen, was sie ihm genommen hat. Er brauchte ein unbeschwertes Herz. Ein klares Herz. Ein Herz, welches länger schlagen würde als seines. Seines war eine Ruine, aber selbst Ruinen blühen zu einem Hort der Phantasie und des Spaßes auf, wenn Kinder in ihnen spielen. Nun spürte er Wut. Seine Tränen liefen hinab. Sie war der Besitzer der Ruine und hat ein grauenhaftes „Betreten Verboten“-Schild in den Boden davor gerammt. Sie war zwar die Besitzerin, aber war nicht auch er Teilhaber von diesem Wunder gewesen? Hatte er nicht die große markante Nase dazu gesteuert? Konnte denn ein Y und ein X so wenig von Bedeutung sein? Wie konnte man nur diese Buchstaben zerstören? Sie waren Boten des Lebens. Er wollte ein neues Herz. Ein neues Herz, dem er sein verbrauchtes als Geschenk machen konnte. Es wollte eine Seele, die sich sogar über diesen leblosen kranken Muskel freuen konnte. Er brauchte Liebe. Er brauchte diese ewige und einzig wahre Liebe. Das war das wertvollste im Leben. Nicht seine goldenen Manschettenknöpfe; nicht seine nagelneue Uhr von Glashütte; nicht seine teure 3D-Heimkinoanlage von Harman/Kardon; nicht sein flaches Macbook Air; nicht seine schwarze S-Klasse, die am Waldrand auf einem Schotterparkplatz stand. Alles hätte er aufgegeben für die Liebe. Alles! Aber er konnte es nicht aufgeben.
Und selbst wenn: Liebe kann man nicht erkaufen; nicht erzwingen. Er konnte nicht davon ausgehen, dass wenn er alles andere aufgibt, das findet, was er wirklich braucht. Er schniefte. Rotz verfing sich an seiner Oberlippe. Er bemerkte es nicht einmal. Er war ein armer Mann, der nichts hat außer seinen Reichtum und einem misshandelten Herzen. Wie sollte er jemals das Vertrauen fassen können? Wie sollte er jemals wieder hoffen können, dass es eine Frau gäbe, die ihn lieben würde? Er war verzweifelt.
Er blickte hinüber in das Gebüsch und sah eine Rehmutter mit ihrem Kitz. Er sah die beiden lange an; sie blickten mit ihren Knopfaugen zurück. Sie konnten sich ihrer Liebe zueinander sicher sein. Aber er? Hatte er es überhaupt versucht, nachdem sie ihn….
Er lachte schallend! Tränen flogen um ihn herum. Die Rehe verschwanden im Nichts des Waldes. Kurze Zaungäste! Besucher eines kosmischen Theaters – eines Dramas, wie es nur die Götter schreiben konnten. Er war der tragische Held. Er war so verletzt gewesen. Sie wusste wie sie es schaffen konnte. Sie kannte seine Träume. Sie kannte seine Gedanken. Ihr gehörte sein Herz. Sie hatte ihn verletzt, so grausam und unerwartet wie es nur hätte sein können. Darauf war sie dann verschwunden. Gegangen! Aus seinem Leben getreten! Was sie ihm vor die Füsse geworfen hatte, war der Rest, der von ihm noch übrig geblieben war. Sein Herz – voller Maden des Selbstzweifels; voller Fliegeneier der Schuld; die Ratten der Trauer nagten an ihm. Was war er damals noch gewesen, außer ein steinernes Ich mit einem verfaulenden Herzen? Er wartete weinend; saß auf der Bank und weinte still und einsam vor sich hin. Sie hatte ihn verlassen. Sie! Ihn! Sie war das Monster, er das Opfer. Wie konnte sie ihn nur glauben machen, dass er das Monster wäre?
Liebe?! Er nickte und zog die Nase hoch. Hoffnung?!
Auch die Hoffnung war es. Diese dreckige grüne Farbe, welche über der blanken Gewissheit lag. Als sie es ihm gesagt hatte, was war mit ihm passiert? Er wollte sagen, dass etwas in ihm zerbrochen war. Er wollte sich vergewissern, dass er noch etwas anderes spüren konnte, als Liebe. Er wollte etwas anderes spüren, als unerwiderte Liebe.
Hass. Trauer. Mordlust! Dies hätte er spüren sollen. Er fühlte: Nichts!
Entsetzen, Scham, Ohnmacht? Nichts! Er war nur leer.
Ein Stein. Ein träumender Stein. Mehr war er nicht gewesen. Was tut ein träumender Stein, der von einem Hügel seinem verderben entgegen rollt?
Er rollt! Und dies hatte er getan. Er war gerollt. Hatte sich in die Arbeit vergraben, hatte mehr Geld gemacht, als jemals zuvor. Hatte er gedacht, Geld könnte dieses Loch stopfen? Nicht wirklich!
Die Arbeit sollte ihn ablenken! Tat sie das? Nicht wirklich!
Was war dann passiert? Warum war er hierher gekommen?
Er sah zum grauen Himmel hinauf. Es gab keine Antwort auf diese Frage. Er saß auf einer Parkbank mitten im Wald und wartete. Bestand sein Leben nicht aus warten? Er stand nie still, aber hatte er nicht dennoch gewartet? Konnte es sein, dass er Liebe mit Gewohnheit verwechselt hatte? Seine Trauer war dann nur der Schmerz über den Verlust des Bekannten. Hatte er dann überhaupt jemals geliebt? Ihm dämmerte es. Er hatte sie beschenkt. Ihr Komplimente gemacht. Ihr ein Zuhause gegeben. Ihr Sicherheit geboten. Das einzige Geschenk, dass sie ihm hätte machen können…. Sie hatte dieses Geschenk zerstört; ihm die einzige Möglichkeit wahre Liebe zu erfahren genommen. Dafür musste er sie hassen. Er war wütend, aber hassen konnte er sie nicht. Nicht einmal nach dem, was sie ihm angetan hatte; ihm und seiner Zukunft.
Er war verwirrt. Hörte er etwa das Pfeifen eines Zuges? Es konnte nicht sein. Er konzentrierte sich wieder auf seine Vergangenheit. Er hatte viel Geld gemacht. Er hatte nach Liebe gesucht, aber es kam ihm nur so vor. Er hatte die Liebe nicht sehen können. Genauso gut, hätte er versuchen können, einen Diamanten auf einem Planeten aus Glas zu finden. Er sah nur durch die Liebe hindurch. Alles sah gleich aus. Das einzige, was er bisher als Liebe wahrnehmen konnte, war ein Scherbe, an der er sich geschnitten hatte. Das Blut färbte diese wertlose Scherbe rot und machte sie zu etwas besonderem. Aber Glas ist keine Liebe. Dies verstand er nun. Liebe war nicht da, um sich an ihr zu schneiden. Sie war da um zu schaffen. Er wusste es im tiefsten Herzen schon immer. Er wusste in seinen Träumen, dass er nur einen geschliffenen Glasbrillanten trug, wobei er sich wünschte einen Diamanten zu tragen. Sogar seine Träume hatten ihn also hintergangen! Hatte er überhaupt jemals die Wahrheit erfahren? War sein Leben so trist? Er war sich dessen sicher, also wartete er. Es schien das einzig richtige zu sein. Viel gab es nicht. Nichts wofür es sich lohnte aufzustehen und weiter zu machen. Tränen liefen an seinen Wangen hinab, flossen zum Kinn, sammelten sich dort und tropften auf den Kragen hinab. Er konnte die Liebe nicht erkennen. Was war eigentlich los mit ihm? Konnte es sein, dass er einer Frau vor den Kopf gestoßen hatte, die ihn wirklich liebte? Sie musste sich ähnlich fühlen, wie er nun. Er hatte immer an die große Liebe geglaubt. Aber auch Startrek-Fans glauben an das Raumschiff Enterprise. Sollte es ihnen jedoch tatsächlich begegnen, würden sie ebenso schreiende wegrennen, wie er vor der Liebe. Nun fühlte er sich nicht nur wütend und traurig, sonder auch noch schmutzig. So viele Gefühle. Sein steinerner Körper wurde langsam von grauen Gefühlen erfüllt. Grau wie der wolkengeschwängerte Himmel über ihm. Sein Herz trug er mit sich. Er hätte es auch im Wagen offen liegen lassen können. Keiner hätte dieses Herz geklaut. Dies war Gewissheit. Gewissheit ist unbehandeltes Holz; viel kräftiger als eingepinselte Latten, die eine Sitzfläche formen. Er stand von der Bank auf und setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm, der etwas rechts neben dem kurzen gepflasterten Weg lag, dieser sich danach im platten Waldboden verlief. Nun hatte er die Hoffnung verlassen. Er hatte die Parkbank im Wald verlassen. Er hatte es geschafft die Gewissheit zu finden. Zwar schmerzte sein Gesäß, aber er würde sich nicht an bröckelnder grüner Farbe verletzten. Er würde nicht bluten. Dies war ihm mit einem Mal sehr wichtig geworden. Er betrachtete seinen Finger und drückte auf den Nagel. Ein Schmerz durchzuckte ihn, aber er genoss es dennoch. Der Druck wurde unerträglich, dann platzte der Schmerz in schillernden Kreisen vor seiner Netzhaut und Blut sickerte unter seinem Fingernagel hervor. Er schwor sich, dass es das letzte Mal war, dass er blutete. Er musste schniefen. Das beste war, dass er sich alleine zum bluten gebracht hat. Sie schien keine Macht mehr über ihn zu haben.
Es zischte. Dampf umfing ihn und er sah erschrocken auf. Ein Zug hatte sich lautlos genähert. Ein altes schwarzes Dampfross, welches noch gefährlich schnauben konnte und dessen Herz ebenfalls einen rostigen Kamin beherbergte. Er stand auf. Die Tür des vordersten Wagons klappte auf und eine kurze Trittleiter entrollte sich. Unschlüssig stand er dort. Es war ein surrealer Anblick. Dieser Zug stand mitten im Wald. Warum hatte er sich eigentlich nicht darüber gewundert, dass hier auch Schienen lagen? Weshalb saß er auf einer Parkbank und wartete? Er hatte auf den Zug gewartet. Dies war gewiss. Er ging ein paar Schritte auf den Zug zu, dann blieb er stehen und sah zur Parkbank hinüber. Er setzte sich darauf. Er hatte eine Hoffnung. Eine abstruse verrückte Hoffnung. Er fuhr mit den Fingern über die blätternde grüne Farbe. Sein linker Zeigefinger zog einen bräunlichen Streifen hinter sich her. Er verletzte sich nicht. Die Hoffnung blätterte nicht ab. Jetzt öffneten sich alle Pforten und er schluchzte und heulte. Die Tränen liefen aus seinen Augen. Seine Seele ertrank in gesalzener Freude. Er hatte gewartet. Nun hatte er so lange gewartet! Endlich. Er stöhnte auf, versuchte sich zu fangen, aber es gelang ihm nicht. Er war ein schluchzender Haufen Mann, der in der grünen Lunge auf der Hoffnung saß und sich freute. Er trug seine Ruine von Herz mit sich. Er hatte all seinen Besitz hinter sich gelassen. Hatte Stein lebendig gemacht und mit Gefühlen gefüllt. Nun würde er aufstehen und in diesen Zug steigen. Er schniefte in seine Hand und wischte diese an dem Mantel ab. Er legte den Mantel ab und breitete ihn über der Lehne der Parkbank aus. Diesen würde er nun nicht mehr benötigen. Das Dampfross schnaubte. Es wollte galoppieren. Wohin? Er wusste es nicht. Wie es überhaupt möglich war? Er sah zu beiden Seiten nichts als Bäume. Er ging zur Tür des Wagons. Wärme schwappte von dort hinaus in die modrige Waldluft. Der graue Tag wurde erleuchtet von dem süßlichen Schein gedämpften Lichts. Er nahm die zwei Stufen und stand im Wagon. Die Sitzplätze waren so angeordnet, dass sich vier Menschen zusammen um einen schmalen Tisch mit abgerundeten Ecken setzen konnten. Die Sitze waren mit rotem Lederimitat bespannt. Kupferne Nagelköpfe glänzten an den Seiten der Sitze. Der Wagon war leer. Hoffnung! Er ging weiter. Ging zwischen den leeren Sitzreihen hindurch. Er steuerte die Tür zum nächsten Abteil an. Hoffnung! Er öffnete die schwere Tür und sah am ersten Tisch einen kleinen Jungen sitzen. Er hatte blaue Augen und eine große Nase. Er hatte keine weichen Kleinkinderhände, sondern stumpfe Kinderhände. Stumpf waren sie vom ausgelassenen Spielen im Sand und dem Klettern auf Bäumen. Die Lebenslinie auf diesen Kinderhänden war lang. Er nahm sein Herz und ging auf den Jungen zu. Dieser hatte bisher aus dem Fenster geblickt – die Rehmutter mit ihrem Kitz war wieder aufgetaucht- – sah ihn aber nun lächelnd an.
»Papa!«, sagte der Junge freudig und sprang von dem Sitz auf, lief auf ihn zu und umarmte seine Beine. Er bückte sich hinab streichelte das Haar des Jungen und nahm ihn dann hoch. Er drückte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Wie konnte dies nur sein? Wieso nannte ihn dieser Junge „Papa“ und weshalb wusste er, dass es stimmte? Es waren ihre blauen Augen und seine große Nase. Er setzte seinen Sohn ab und ließ sich auf einen Sitz falle. Die Tränen des Glücks wollten nicht versiegen. Es war unbegreiflich. Die Hoffnung hatte ihn nicht enttäuscht, hatte ihn kein weiteres Mal geschnitten.
»Papa, was hast du mit deinem Finger gemacht?«
Er sah auf seinen blutenden Zeigefinger.
»Das ist nichts. Das ist Vergangenheit.«
»Soll ich pusten?«, fragte der Junge leicht traurig.
Der Junge nahm behutsam seinen Zeigefinger in die stumpfen Kinderhände. Er lachte. Immer noch wollten seine Augen sich nicht beruhigen. Er sah alles durch einem Schleier. Er wollte nicht aufhören zu weinen, denn man konnte nie wissen, ob dies ein magischer Schleier war; ein Schleier, der zeigte, wie die Welt hätte sein sollen.
»Ja! Bitte pusten.«
Der Junge pustete und sein warmer Atem brannte unter dem Fingernagel.
»Besser?«, fragte der Junge schüchtern.
»Viel besser«, entgegnete er und der Stolz, der sich in dem Gesicht des Jungen widerspiegelte, sprach Bände. Er legte sein Herz auf den Tisch und betrachtete es. Es war nun keine Ruine mehr. Zwischen den grauen Mauerresten blühten nun wilde Blumen. Farbe kehrte zurück in eine graue Welt.
»Toll«, meinte sein Sohn.
»Darf ich damit spielen?«
Hätte er vor einer Minute sein Herz aus der Hand gegeben? Hätte er sein Herz irgendeinem anderen Menschen anvertraut? Nicht für alles Schöne in der Welt!
»Aber sicher«, entgegnete er und gab dem Jungen mit den blauen Augen – ihren blauen Augen – und der großen Nase – seiner großen Nase – die aufblühende Ruine, die auf dem Tisch stand.
»Juhu«, griente sein Sohn.
Er rannte zu einem anderen Tisch, als sich die Abteilungstür erneut öffnete.
»Mama!«, rief sein Sohn.
Er sah auf und erblickte etwas, dass er niemals mehr zu Erblicken gehofft hatte. Sie war ein Diamant in einer Welt aus Glas. Diese Frau hielt in den Händen, was er sich immer gewünscht hatte. Er sah zu seinem Sohn. Ich habe schon, was ich mir immer gewünscht habe. Aber dies ist das einzige Geschenk, bei dem man sich freut, wenn man es doppelt hat. In den Armen dieser Frau ruhte ein Baby mit kurzen blonden Haaren. Seinen blonden Haaren! Die letzte Träne lief einsam seine rechte Wange hinab. Die Zeit der Tränen war vorbei. Nun strahlte er über beide Ohren. Mit ungelenken Schritten kam er auf sie zu. Das Baby sah ihn und lachte. Es lachte so, wie es nur Babys können, wenn sie ihre Eltern sehen. Er bemerkte die grünblauen Augen dieser Frau. Er sah die grünblauen Augen des Babys. Ihre grünblauen Augen. Seine blonden Haare. Sein Sohn kicherte und murmelte etwas vor sich hin, als er mit der Ruine spielte. Schade, dachte er. Bald wird es keine Ruine mehr sein. Bald wird es wohl ein Puppenhaus sein. Er sah auf seine kleine Tochter.
»Darf ich sie nehmen?«, vorsichtig stolperten diese Worte aus seinem Mund.
Seine Frau schmunzelte.
»Du bist doch der Papa.«
Sie gab ihm seine Tochter, welche er sorgsam wie eine zerbrechliche Urne, mit der Asche aller guten Menschen dieser Erde darin, auf seinen Armen hielt. Es waren nicht die blauen Augen von dieser Frau, die nichts anderes war, als eine durch Blut gefärbte Scherbe. Es waren seine blauen Augen! Sein Sohn hatte die Wimpern von seiner Mutter. Lange feminine Wimpern, die nur deshalb nicht auffielen, weil die große Nase alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Für ihn waren seine beiden Kinder die unglaublich schönsten Geschöpfe auf diesem Planeten. Er drehte sich zu diesem lebenden Diamanten um. Gleich danach kam diese Frau. Die Mutter seiner Kinder. Er hatte gewartet. Hatte auf einer Parkbank im Wald gewartet. Vor ihm lagen rostige Schienen im Laub versteckt. Wo fuhr dieser Zug hin? Seine Tochter umfasste seinen Daumen mit ihrer rechten Hand. Weiche kleine Kinderhände mit einer geschwungenen Lebenslinie. Er sah wie das Herz aufblühte. Seine Frau sah es. Sie sah ihn liebevoll an. Er wusste, dass er diese Frau schon einmal gesehen hatte. Sie war es also!
»Wow!«, rief sein Sohn aus und war ganz fasziniert von der Verwandlung seines Herzens. Seine Tochter kicherte und strampelte mit ihren kleinen Füßchen. Er hielt sie etwas anders, damit sie nicht hinunterfallen konnte. Dies waren unbeschwerte klare Herzen. Die Herzen von Kindern. Sie brauchten noch nicht warten, denn sie wussten, dass sie geliebt werden. Die wahre Liebe ihrer Eltern war ihnen gewiss. Dies machte ihn stolz. Seine Tochter nahm noch einmal seinen Daumen und kicherte ihn an, dann zischte der Zug und setzte sich langsam in Bewegung.