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Warten
Es dauerte, bis sie die Tür schließen konnte. Sie stand dort oben in der Kälte, bis ihre Zehen taub waren und ihre Augen tränten, doch sie schloss die Tür nicht, vorerst nicht, stand nur davor und wartete. Sie wartete und dachte an all die Momente, die zu diesem Punkt geführt hatten. Der Moment, an dem sie ihren Sohn nach Hause gebracht hatten, mit dreckigen Hosen und dem Gestank von Urin und Erbrochenem an seiner Jacke. Polizisten waren das gewesen. Oder der Moment, an dem sie ihren Mann dabei beobachtet hatte, wie er ihre Nachbarin leidenschaftlich küsste. Der Moment, an dem ihre Tochter aus dem Haus ging und nie wieder kam. Nichts hatte sie getan. Sie hatte ihren Sohn in die Badewanne gelegt, ihrem Mann ein Abendessen gekocht und ihrer Tochter nachgeweint.
Nichts hatte sie getan. Sie hatte nur gewartet. Gewartet auf etwas, das vielleicht nie eintreffen würde, und von dem sie nicht einmal wusste, was es war. Gewartet hatte sie, als der Krebs kam, gewartet hatte sie auch noch, als ihr Chef ihr sagte, sie werde nicht mehr gebraucht. Doch dann war sie da, da, wo sie niemals hin wollte. Sie wartete nicht mehr, sie drehte sich um und rannte aufs Dach.
Dort stand sie nun, in der Kälte, die sie schon lange nicht mehr spürte, hoffte auf ein Licht im Treppenhaus oder ein Trampeln auf den Stufen, doch da kam nichts. Sie wandte sich ab und die Tür fiel ins Schloss.