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Warten
Warten
I.
Seit Stunden. Seit Stunden sitze ich nun hier und warte darauf, dass Fräulein sympathische Schalterfrau, die Haare lässig zu einem losen Zopf gebunden und einen gigantischen rosafarbenen Kaugummi im Mund, meine Nummer ruft und mich aus dieser zähen Verschwendung wertvoller Lebenszeit erlöst. Einen neuen Führerschein beantragen, und das am frühen morgen! Der ganze Umstand wegen eines Unfalls, der Wochen zurückliegt, und an dem ich nicht einmal die Schuld trage, denn schließlich konnte ich ja nicht wissen, dass –
Bei Gott, ich schwöre, wenn sie weiter so schmatzt, geh’ ich zu ihr und reiß’ ihr das verdammte Ding aus dem Mund!
... Das ist eindeutig einer dieser Tage, an dem man am besten gar nicht erst aufgestanden wäre. Vollkommen übermüdet. Zweieinhalb Tage keinen Schlaf gefunden. Heute morgen einen Kaffee, dann duschen, fertigmachen, zur Führerscheinstelle.
Meine Nerven liegen blank. Die Langeweile zehrt an mir, scheint mich von innen heraus aufzufressen. Müde blinzelnd sehe ich mich um –schmatz, schmatz-, mit mir im Wartezimmer etwa zehn andere Gesichter, alle denselben monoton gelangweilten Ausdruck, als seien es Totenmasken der der Ereignislosigkeit zum Opfer Gefallenen. Mein Blick schweift weiter, träge, mit jedem „schmatz“ wird ein neues Gesicht inspiziert, doch irgendwie berühren sie mich nicht. Ich bin nicht in der Lage, Aussagen über sie zu treffen, in meiner Müdigkeit sind sie mir alle gleich.
Endlich! Fräulein Schalterfrau hat sich aufgerafft, schlurft zum anderen Ende ihres Zimmers, der Zopf dabei schlapp herabbaumelnd, und schnickt ihren Kaugummi lässig neben den Mülleimer.
Sie nimmt wieder Platz und plötzlich ist es merkwürdig still. Ohne ihre ständigen Kaugeräusche scheint dem Zimmer nun auch das letzte bisschen Leben abberufen worden zu sein. Ich lehne mich zurück und warte. Ich schließe die Augen und beginne zu träumen. Plötzlich Unruhe.
Eine Metalltür öffnet sich, das Geräusch schneidet durch die Stille, und ein Kunde tritt daraus hervor. Ich öffne die Augen leicht. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf die plötzliche Abwechslung in der grauen Szenerie, der Herr durchschreitet den Raum und verlässt ihn durch eine weitere Tür.
Fräulein Schalterfrau blickt kurz auf, blökt eine Nummer in den Raum, ein Mann mit Hut erhebt sich und begibt sich in den Bearbeitungsraum. Träume ich, oder wirft er mir einen seltsam durchdringlichen Blick zu? Seine Augen scheinen in mich hineinzusehen...das beunruhigt mich, plötzlich fühle ich mich gar nicht mehr so wohl.
Die Metalltür fällt ins Schloss und Ruhe kehrt ein. Jedoch nur kurz, denn dann dringt das Ticken der Wanduhr (hat die schon die ganze Zeit da gehangen?) auf mich ein.
Tick, tick, tick.
Ich versuche erneut ein wenig zu schlummern, doch auch in meinen Träumen lässt die Uhr mich nicht allein. Ich träume von eine Krähe. Ich sitze auf einem Stuhl und sie pickt, pickt, pickt. Ich versuche mich zu wehren, begehre auf, doch mein Körper ist starr wie der eines Toten. Vor mir ein Spiegel, merkwürdig gleichgültig erkenne ich mich darin, mein Gesicht ebenfalls eine abstruse Totenmaske und der Vogel pickt mein Gehirn Stück für Stück für Stück.
Erschrocken fahre ich auf. Auf einmal ist mir mehr als ein bisschen unbehaglich zu Mute, etwas in diesem Raum ist nicht gut, es ist nicht gut. Tick, tick, tick. Ist die Uhr lauter geworden? Da, dieser Mann! Hat er den Raum nicht gerade schon verlassen? Wie ist er wieder hier hinein gekommen? Pick, pick, pick. Er geht durch die Tür. Doch halt. Ist er nicht eben durch dieselbe Tür hineingekommen? Müsste er nicht die andere Tür nehmen? Führt überhaupt eine dieser Türen hier hinaus? Oder nur durch die andere wieder herein? Meine Handflächen bedeckt kalter Schweiß und ich blicke mich ängstlich um. Zu bewegen wage ich mich nicht, ich möchte keine Aufmerksamkeit erregen. Die Uhr tickt weiter – sie zeigt mir, es seien erst ein paar Minuten vergangen. Das kann doch nicht sein! Irgendetwas ist falsch, es ist falsch! Träume ich wieder? Wo ist der Vogel? Wach’ auf!
Ich öffne die Augen weit und berühre mich, ganz vorsichtig, am Kopf, um mich zu vergewissern, dass ich jetzt wach bin.
Anscheinend bin ich wach. Gut. Ich versuche mich zu beruhigen, denke an einige entspannende Bilder, und langsam spüre ich, wie alles wieder in Ordnung rückt.
Dann eine schnarrende Stimme vom Schalter, eine Nummer wird gerufen, und ich erinnere mich, wieso ich überhaupt hier bin. Führerschein.
Das Ticken der Uhr scheint erloschen zu sein und ich beginne wieder, mich mit den langweiligen Gesichtern zu befassen.
Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit blökt Madame Schalter meine Nummer, ich raffe mich auf und gehe in Richtung Metalltür. Beim Laufen ist mir etwas schwindelig, was ich dem Schlafmangel zuschreibe.
Im Wartezimmer scheint inzwischen Normalität eingekehrt zu sein, trotzdem spüre ich eine seltsame Erleichterung, als ich den Bearbeitungsraum betrete und die Tür hinter mir ins Schloss fällt.
II.
Halleluja, überstanden. Endlich raus aus der Behörde, mit Sozialstunden und einem Aufbaukurs zwar, aber egal, Hauptsache vorbei. Ich verlasse also die Zulassungsstelle, und begrüßt werde ich vom lebensbejahenden Grau des umliegenden Großstadtambiente. Das hebt die Laune natürlich ungemein. Auf der Straße streiten ein paar Krähen um einen grauen Fetzen, der aussieht wie ein kleiner Tierkadaver, oder wie etwas, das vor ein paar Wochen mal ein Snack für zwischendurch gewesen sein mag. Mich schaudert's.
Auf dem Weg nach hause entschließe ich mich spontan, mein Mittagessen in ein Café am Straßenrand zu verlagern, hauptsächlich, um nicht wieder den ganzen Tag in dieser stickigen, kleinen Drecksbude verbringen zu müssen. Trautes Heim.
Also rein ins Café, eigentlich ein ganz nettes Lokal, klein und überschaubar, und der Geruch von Kaffee hilft gegen die Müdigkeit. Ein kleines Glöckchen bimmelt über der Tür.
Ich bestelle einen einfachen Bagel mit Lachs und Frischkäse, einen Muffin für danach, und eine große Kanne Kaffee.
Dem Blick der Bedienung nach zu urteilen, ist eine ganze Kanne für eine Person anscheinend zu viel.
Fräulein sollte sich mal lieber um einen vernünftigen Job und ein längeres Röckchen kümmern, anstatt mich und meinen verdammten Kaffee zu verurteilen!
Nach einer Weile habe ich also mein Essen und den Kaffee (dazu zwei Tassen) vor mir stehen. Gedankenverloren blicke ich aus dem Fenster und kaue einen Bissen von meinem Hipster-Brötchen, als plötzlich -
DER MANN!
Vor Schreck pruste ich eine Ladung Lachs-Frischkäse-Belag an die Fensterscheibe vor mir, ernte natürlich sofort entsprechende Blicke vom Kaffeefräulein, ist mir aber egal.
Diesmal schlafe ich ganz sicher nicht! Der ist da gerade lang gelaufen, genau da, auf der anderen Straßenseite!
Ein Zufall...? Oder war es doch ein anderer Mann? Nein, das kann nicht sein. Man trifft nicht an ein- und demselben Tag zwei Männer in langem, grauem Trenchcoat, einem schwarzen Hut, die Krempe tief ins Gesicht gezogen, sodass nur das Blitzen darunter eine Brille verrät, und einem dichten Rauschebart. Das kann nicht sein. Verfolgt er mich?! Welchen Grund hätte er dazu?!
Und wieder ist mir schlagartig ganz mulmig zumute. Hastig krame ich mein Portemonnaie aus der Tasche und lege beim Rausstürmen einen Zwanziger auf den Tisch – viel zu viel, ist mir egal. Soll sie sich von dem übrigen Geld was Ordentliches zum Anziehen kaufen.
Als ich auf der Straße stehe, stelle ich erschrocken fest, dass es schon dämmert. Ich habe doch unmöglich den ganzen Tag in diesem Café verbracht! Was ist denn heute los?!
Ich fühle mich wieder wie im Wartezimmer, er sieht mich an! Vielleicht verliert er meine Spur, wenn ich einfach loslaufe.
Ich lege extra ein paar kleine Umwege ein, um ihn zu verwirren – wer weiß, vielleicht versucht dieser Mann ja herauszufinden wo ich wohne!
Doch Schritt für Schritt fühle ich mich unwohler. Es ist, als laufe ich diesem Unbekannten weiter und weiter in die versteckten offenen Arme. Klack, klack, klack – meine Absätze klingen beim Laufen wie das Schlagen eines riesigen Uhrwerks.
Ich will noch eine kleine Seitenstraße in meinen Weg einbauen, biege links ab, bin steif vor Schreck. Eine Krähe sitzt mitten auf der Straße. Sie blickt mich an. Diese Augen!
Das reicht! Stalker hin oder her, ich muss nach hause!
Ich renne los, stoße namenlose Passanten beiseite, hinter mir das Krächzen der Krähe. Der Wind peitscht mir in den Ohren wie das Schlagen monströser Schwingen irgendwo am pechschwarzen Nachthimmel. Und die Schwingen kommen näher. Lauter, lauter, lauter. Sie müssen direkt hinter mir sein! Hilfe! Ich traue mich nicht, mich umzublicken, keine Zeit, macht die Maus ja auch nicht, wenn sie vorm Falken flieht.
Endlich! Meine Haustür ist in Sicht! Noch ein paar letzte Schritte, Schlüssel ins Schloss, mein Herz schlägt wild, dumpfes Pochen, ich reiße die Tür auf, hechte rein und schlage sie hinter mir zu. Die Metalltür fällt ins Schloss und Ruhe kehrt ein. Langsam, ganz langsam nur, beruhigt sich mein Herzschlag. Ich lehne an einer Wand, sinke herab und bleibe sitzen. Kraftlos.
III.
Nach einer Weile stehe ich dann doch wieder auf. Ein bisschen zittrig noch, sonst aber in Ordnung, marschiere ich durch das Treppenhaus nach oben. Müde wie ich bin, kommt der Aufwand einer Mount-Everest-Besteigung gleich.
Im sechsten Stock angekommen, krame ich meinen Schlüssel aus der Tasche, lasse ihn fallen, verfluche den Herrn, hebe den Schlüsselbund auf, und öffne die Tür im zweiten Anlauf.
Erschöpft schmeiße ich meine Sachen von mir, lasse mich auf's Sofa plumpsen und schalte die Glotze an. Zap, zap, zap. Nur Müll. Ich wundere mich, bin ich tatsächlich noch überrascht davon?
Nach alledem scheint mir ein enttäuschender Abend zu Hause doch wie das passendste Ende für einen Tag wie heute. Ich entschließe mich, einfach schlafen zu gehen.
Mit einem tiefen Seufzer schalte ich die Glotze wieder aus, mache mir in der Küche noch einen Spezial-Schlaf-Cocktail, Eigenkreation, die da besteht aus einer Handvoll eigens gekaufter Sedativa und einem kräftigen Schluck Whiskey zum runterspülen. Ob das schmeckt? Nein. Ob das gesund ist? Gott, nein. Wieso dann das ganze? Ganz einfach: damit ich wenigstens mal eine Nacht durchschlafen kann. Einen dritten Tag wach würde ich wirklich nicht mehr überleben.
Lustlos schleppe ich mich ins Badezimmer. In meinem Bauch spüre ich, wie Alkohol und Schlafmittel miteinander um die Herrschaft über mein Gehirn ringen. Über meinem Waschbecken hängt ein kleines Schränkchen, in dessen verspiegelten Türen ich mich selbst erblicke. Gott, ich sehe ja aus wie eine wandelnde Leiche...! Rote Augen, darunter dicke blaue Tränensäcke, mein Haar zerzaust, und meine Wangen merkwürdig fahl und eingesunken. Ich widere mich selbst an.
In der Hoffnung, mein Gesicht einfach wegzuwaschen, senke ich meinen Kopf, fülle meine Hände mit kaltem Wasser und spritze es mir ins Gesicht. Und noch einmal. Und noch einmal. So langsam spüre ich etwas.
In leichter Sorge, mir doch tatsächlich mein Gesicht weggewaschen zu haben, hebe ich meinen Kopf wieder und blicke in den Spiegel.
Alles um mich herum wird schwarz. Jeder Muskel in meinem Körper verkrampft sich. Ich atme nicht. Alles eingefroren, einen Moment lang. Ich gebe ein leises Wimmern von mir.
Im Spiegel sehe ich mich, mein Gesicht, alles unverändert. Doch Er steht hinter mir. Seine behandschuhte Pranke ruht auf meiner Schulter. Felsenfest, ein eiserner Griff. Ich sehe ihn! Da! Ganz deutlich!! Nur... spüre ich seine Hand nicht...
Kalter Schweiß tritt mir auf die Stirn, mein Herz rast, mein Mund ist staubtrocken. Wenn ich mich jetzt bewege, bin ich tot. Langsam, ganz langsam, hebe ich eine zitternde Hand in Richtung Schulter. Jede Sekunde kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Poch, Poch, Poch.
Die ganze Zeit halte ich meinen Blick mit eiserner Starre auf meine Augen im Spiegel gerichtet. Auf diese roten Augen, auf diese panischen Augen, die jeden Moment vor Anspannung platzen müssen, auf diese todgeweihten Augen.
Meine Hand berührt meine Schulter und – nichts. Ich spüre keine eisernen Pranken, nur meine schweißnasse Schulter.
Das ist meine Chance! Ich reiße mich zusammen, unter Aufwand all meiner Willenskraft drehe ich mich um und will losstürmen. Ich rutsche aus auf einem Handtuch, das am Boden liegt, und stolpere der Tür entgegen. Egal, Hauptsache raus hier.
Ächzend lande ich auf allen Vieren auf den Fliesen meines Schlafzimmers. Was? Ich habe keine Fliesen! Mein Teppich! Wo bin ich?!
Tick, tick, tick.
Ich bin im Wartezimmer!! Vor mir die Totenmasken, über mir die Uhr, irgendwo schreit die Krähe, sie will mein Gehirn! Das ist ein Traum, das muss ein Traum sein! Führen denn alle Türen ins Wartezimmer?! Ich will hier weg! Bitte!
Ich schnelle nach oben, ein letzter gehetzter Blick, Wartezimmer, ich stürze zurück durch die Badezimmertür.
Zitternd stütze ich mich mit beiden Armen auf das Waschbecken, etwas tropft in den Abfluss. Ich weine? Oder ist das Blut?
Ich spüre, wie ich den Halt verliere, mir wird schwarz vor Augen. Doch bevor ich falle, werde ich gehalten. Er hält mich!! Ein gewaltiger schwarzer Arm direkt aus dem Spiegel, er packt mich an der Kehle!!Im Spiegel sein grässliches Gesicht. Ich sehe es, blicke direkt hinein, erkenne aber nichts. Eine Furcht wie ich sie nie gekannt habe macht sich im mir breit. Bitte, ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr!
Panisch reiße ich meine Arme hoch und will mich aus seinem Griff befreien, doch statt meiner Hände hebe ich zerrupfte Schwingen, schwarze Federn. Er zieht mich näher zu sich, näher, näher, ich versuche, mich mit meinen Flügeln zu wehren, heiße Tränen rinnen mir über das Gesicht, ein Schrei entfährt meiner Kehle, ich höre ihn nicht, ich fühle ihn, ein stummer Schrei. Wahre Furcht hat keine Stimme. Blut tropft von meinen befiederten Armen, dicke, schwarze Tropfen, im Wartezimmer tickt, tickt, tickt es, jetzt hat er mich, ich reiße die blutigen Augen auf, hinter mir der gellende Schrei, das Lachen einer Krähe. Schwarz umfängt mich. Nichts.
IV.
Ich liege in meinem Bett, Augen geschlossen.
In meinem Kopf grausame Explosionen.
Weiß nicht, wann.
Ich öffne meine Augen, neben mir im Bett eine Krähe. Ihr Schnabel glänzt rot. Ihre Augen eiskalt.
Keine Kraft, nachzudenken.
Setze mich langsam auf, blicke umher.
Ein grauer Mann steht neben meinem Bett.
Er reicht mir einen Becher.
Ich trinke.
Und lege mich wieder schlafen.
~SaintedAshes