Warten.
Warten, warten. Immer wartete man auf irgendetwas. Auf den nächsten Urlaub, auf Weihnachten, auf jemanden, mit dem man sich verabredet hatte, der aber nicht kam, auf eine Gelegenheit, die aber ebenso wenig kam. Oder man wartete ganz allgemein darauf, dass es einfach weiter ging, dachte sie. Zum Beispiel, wenn man im Stau steht.
Sie war in den letzten zehn Minuten ungefähr dreißig Zentimeter vorwärts gekommen. Jetzt stand sie wieder. Sie stellte den Motor ab, wie die Fahrer vor und hinter ihr auch. Sie würde ewig bis nach Hause brauchen.
Sie überlegte welche Ausdrücke es noch für „Stau“ gab: „Blechlawine“, „der Verkehr stockt“, „Autoschlange“, „Verkehrschaos“, „Autokolonne“, „Verkehrsstörung“, vielleicht gab es auch „Stauung“. Aber sie hatte noch nie gehört, dass diesen Ausdruck mal jemand verwendet hatte. Ach ja, „Rückstau“ gab es noch. In einem Rückstau steckte sie gerade fest. In einem der Tunnel der Stadtautobahn war die Höhenkontrolle ausgelöst worden und der Tunnel gesperrt worden. Sie hatte zwar gar nicht über die Stadtautobahn fahren wollen, aber durch die Tunnelsperrung hatte sich ein Rückstau gebildet. Man solle den Bereich weiträumig umfahren, so riet der nette Herr im Radio von den Verkehrsnachrichten.
'Dumm nur, dass Fahren an sich gar nicht mehr möglich ist, du Gurke.', dachte sie. Dann eben warten, bis sich die Lage wieder bessert.
Ihr fiel eine Sache aus ihrer Kindheit ein. Als sie endlich nach der Grundschule auf die weiterführende Schule hatte gehen dürfen, war der Schulweg weiter gewesen. Sie hatte zum Geburtstag ein blaues Fahrrad geschenkt bekommen und einen neuen Schulranzen. Sie hatte sich sehr gefreut und gedacht: „Jetzt geht es endlich los!“ Am ersten Schultag nach den Sommerferien war sie morgens aufgeregt und viel zu früh los geradelt.
Auf ihrem Schulweg kam sie am Haus ihrer damals besten Freundin vorbei. Glücklicherweise würden sie beide weiterhin dieselbe Schule besuchen. Sie hatten vereinbart, dass sie sich jeden Morgen treffen wollten, um zusammen zur Schule zu radeln.
An diesem ersten Morgen war sie zu früh bei ihrer Freundin angekommen und traute sich zuerst nicht zu klingeln. Nach ein paar Minuten gelang es ihr, ihren Mut zusammen zu nehmen und den Klingelknopf zu drücken. Hinter der Haustür war ein ziemlicher Trubel zu vernehmen. Ihre Freundin wuchs in einer fünfköpfigen Familie auf. Dann öffnete die Mutter ihrer Freundin und sah sie sehr streng an. Aber sie durfte eintreten. Ihre Freundin saß noch etwas müde beim Frühstück. Sie setzte sich dazu. Und wartete. Sie guckte verstohlen auf ihre Uhr. Die Minuten verstrichen. Es wurde immer später. Sie wollte auf keinen Fall an ihrem ersten Tag an ihrer neuen Schule zu spät kommen. Sie traute sich aber nichts zu sagen.
Dann endlich ermahnte die Mutter ihre Tochter, dass es jetzt bereits über der Zeit war. Ihre Freundin stand auf. Sie folgte ihr in das Kinderzimmer. Ihre Freundin fing an ihren Schulranzen zu packen und wollte wissen, was sie einpacken sollte. Die Mutter kam dazu und fing an mit ihrer Tochter zu schimpfen. Sie hätte ihre Sachen schon am Abend zuvor packen sollen, warum das erst jetzt geschehen würde. Warum sie noch nicht fertig angezogen sei und warum ihre Haare noch aussähen, als sei sie gerade aus dem Bett gestiegen. Die Mutter nahm eine Bürste und begann grob das wirre Haar ihrer Tochter zu kämmen und zu einem straffen Pferdeschwanz zu binden. Die Tochter versuchte weiter ihren Schulranzen zu packen, doch mit einem Ruck riss die Mutter ihrer Tochter den Kopf zurück und schrie sie an, sie solle jetzt gefälligst still halten, sonst würden sie nie fertig und sie würde zu spät in Büro kommen, nur weil ihre Tochter zu faul sei und sich anstellen würde wie ein kleines Baby. Dabei würden andere Kinder in ihrem Alter morgens keine Hilfe mehr benötigen.
Sie stand wie erstarrt im Zimmer und wusste nicht was sie tun sollte. Ihrer Freundin stiegen Tränen in die Augen. Sie ging zum Schreibtisch und fing an Federtasche und Hefte in den Ranzen zu legen. Im Zimmer war es sehr still.
Endlich waren sie fertig und konnten das Haus verlassen. Sie gingen schweigend zu ihren Fahrrädern. Erschrocken stellte sie fest, dass sie ihren Ranzen auf dem Gepäckträger vergessen hatte. Sie hatte gedacht, sie würde nur rasch klingeln, dann käme ihre Freundin heraus und sie könnten zur Schule radeln. Aber das stimmte ja nicht, sie war ja viel zu früh dagewesen und deswegen war alles anders gekommen.
Erleichtert stellte sie fest, dass ihr Ranzen noch auf dem Gepäckträger festgeklemmt war. Sie radelten los.
Sie kamen fast zu spät an ihrem ersten Schultag, schafften es aber, obwohl schweißgebadet, keuchend und mit roten Gesichtern, gerade noch rechtzeitig.
In den folgenden Wochen spielte sich der morgendliche Ablauf ein und sie holte jeden Morgen ihre Freundin ab.
Die Freundin saß immer beim Frühstück, wenn sie dort eintraf. Sie fuhr von zuhause inzwischen nicht mehr ganz so zeitig los, aber wenn sie bei ihrer Freundin eintraf, saß diese immer noch beim Frühstück an dem Holztisch mit der abwaschbaren Wachstuchtischdecke. Jeden Morgen. Sie setzte sich jeden Morgen dazu und wartete.
Es wurde Herbst. Immer wenn sie klingelte und das Haus betrat, musste sie jetzt ihre Mütze abnehmen, der Schal ablegen und die Jacke ausziehen. Sie war für die geheizte Wohnung viel zu warm angezogen. Wenn ihre Freundin endlich ihr Frühstück beendet, ihren Ranzen gepackt und das Haar zum Pferdeschwanz gebunden hatte, zog sie sich wieder an. Dann konnten sie los radeln.
Es wurde Winter. Die Stiefel mussten im Hausflur bleiben. Die Freundin frühstückte. Sie wartete.
Sie stellte fest, dass sie jeden Morgen alles zweimal machte: Anziehen, Los radeln, Ausziehen, Warten, Anziehen, Losfahren. Sie stellte weiterhin fest, dass sie doppelt so lange für ihren Schulweg brauchte.
Sie versuchte es, indem sie vor der Haustür stehen blieb und rief, sie würde draußen warten, weil sie nicht ihre ganzen Winterklamotten aus- und wieder anziehen wollte. Dann wartete sie. Die Freundin frühstückte zu Ende. Sie wartete. Es ging nicht schneller. Nur stand sie jetzt in der Kälte und trat von einem Bein auf das andere.
Sie wurde hartnäckiger. Ob das Ganze nicht schneller gehen würde, es sei echt kalt draußen. Sie wurde aufgefordert ins Haus zu kommen, dort sei es warm.
Sie ging wieder ins Haus und wartete weiter.
Im Frühjahr kam sie auf die Idee, besonders spät bei ihrer Freundin einzutreffen. Dann wäre diese bestimmt fertig und losradelbereit. Guter Plan!
Sie radelte wirklich sehr spät von zuhause los. Eigentlich so spät, dass sie direkt hätte weiter fahren müssen, um noch rechtzeitig zur ersten Stunde zu kommen. Sie hielt am Haus, in dem ihre Freundin wohnte, klingelte und wurde hereingebeten. Ihre Freundin saß beim Frühstück.
An diesem Morgen kamen sie zu spät zur Schule.
In den Sommerferien radelte sie allein hierhin und dorthin, ohne jemanden abzuholen oder zu auf jemanden zu warten. Das gefiel ihr.
Als das nächste Schuljahr losging, ging auch das Warten wieder los. Aber sie wollte nicht mehr warten. Sie sagte ihrer Freundin, dass sie am nächsten Morgen nicht kommen könne. Manchmal fuhr sie auch einfach an deren Haus vorbei.
Ihr war nicht sehr wohl dabei. Sie hatte das unbestimmt Gefühl, dass etwas falsch war und hatte ein schlechtes Gewissen. Die Freundin fragte sie ein paar Tage später, ob sie morgen wieder gemeinsam zur Schule fahren wollten. Sie versprach zu kommen und dachte sich, wenn sie an drei Tagen alleine fuhr und nicht auf ihre Freundin warten musste, dann würde ihr das Warten an den anderen drei Tagen nicht so schwer fallen. Sie irrte sich. Das Warten mache sie wütend.
Es wurde wieder Herbst und auf den Herbst folgte der Winter. Sie hielt morgens nur noch selten bei ihrer Freundin.
Kurz vor den Weihnachtsferien fragte ihre Freundin, warum sie sie morgens nicht mehr abholte. Und dann endlich konnte sie ihr sagen, dass dieses Warten einfach schrecklich war. Dass sie keine Lust hatte ihrer Freundin morgens beim Frühstücken zuzugucken, sondern einfach, wie alle anderen, zur Schule fahren wollte. Dass, wenn sie sie morgens abholte, ihr Schulweg doppelt so lang dauerte, weil das Abholen gar kein Abholen sei, sondern eine halbstündige Pause. Und dass sie einfach nicht verstehen würde, was daran so schwer sei, morgens zur vereinbarten Zeit einfach von alleine aus dem Haus zu kommen. Aber was nützt es, wenn man einem sein ganzen Herz ausschüttet und die andere versucht dann alles so zu machen, wie man es einfordert? Es nützt gar nichts.
Die Freundin versuchte nach den Weihnachtsferien jeden Morgen rechtzeitig fertig zu sein. Es klappte nicht. Sie wartete draußen in der Winterkälte. Ihre Freundin kam jeden Morgen mit rotem Kopf aus dem Haus gestürzt und hatte immer etwas vergessen einzupacken.
Sie kamen überein, dass es vielleicht am einfachsten war, wenn jede getrennt zur Schule fahren würde.
Nachdem sie sich morgens nicht mehr versuchten sich zu verabreden, wurde es einfacher. Wenn sie zusammen Schulschluss hatten, radelten sie manchmal gemeinsam von der Schule nach Hause. Hin und wieder saßen sie im Garten der Freundin auf der Bank unter dem Apfelbaum und quatschten noch ein bisschen.
Die Blechlawine bewegte sich. Die Motoren sprangen wieder an und ganz langsam konnte sie anfahren. Bis zur nächsten Straßenkreuzung war es nicht mehr weit. Da konnte sie abbiegen. Das war zwar ein kleiner Umweg, aber immerhin fuhr sie wieder.