Warten
Das Warten war das Unerträglichste, dachte er. Wenn doch nur irgend etwas zu tun gewesen wäre, damit die Zeit schneller vergeht. Aber es gab ja nichts mehr. Nichts bis auf die unendliche Wüste feinen Staubes die vor ihm lag, und hinter im, und auch dort wo früher das Parlamentsgebäude gewesen war, die Börse, der Park und das Einkaufszentrum. Jetzt war alles weg. Und die Erinnerung an das, was gewesen war, verblasste von Stunde zu Stunde.
Er jedenfalls sollte hier warten, das hatte der alte Mann gesagt, der ihn nach der Katastrophe aus den Trümmern seines Hauses befreit, ihm diesen Stuhl und die Einladungskarten gegeben hatte. Und das tat er nun. Vielleicht seit Tagen, Wochen oder Jahren.
Sein blasser Schatten wanderte durch den Staub, wurde länger, dann kürzer und verschwand schließlich in den endlosen Nächten, die seit der Katastrophe um einiges ausgedehnter waren als früher.
Früher, wie seltsam das klang. Früher, da war er nachts oft mit seinen Bekannten durch die Kneipen gezogen. In einigen gab es Fernseher, und manchmal als er so am Tresen saß, da kamen gerade Nachrichten, in denen von den wachsenden Problemen mit dem Osten, oder war es der Süden, von der Aufrüstung und den Klimaveränderungen berichtet wurde. Interessiert hatte es ihn nie. Doch hätte er gewußt, wohin das alles führen sollte, er hätte sich den Strick genommen, oder die Pistole, die er in seinem Nachttisch aufbewahrte, auf dem das Bild seiner Frau stand.
Lange, braune Haare hatte sie, und ein Lächeln, dem er keinen Wunsch abschlagen konnte. Die Katastrophe hatte sie nicht mehr miterleben müssen, der Krebs war schneller. Und wenn er jetzt nachts in der Kälte saß und wartete, dann dachte er an sie und weinte, und hoffte das keiner es hörte in der Einsamkeit, die ihn umgab.
Oft hatte er daran gedacht, einfach aufzustehen und wegzugehen, aber das konnte er nicht. Er hatte schließlich den Stapel Einladungskarten. Und die muss er verteilen, wenn sie kommen, die Männer und Frauen, die Philosophen, Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller, Theologen und Journalisten, um über das zu diskutieren, was geschehen war. Über die Ursachen, den Anlaß, den Krisenverlauf, die Motive der beteiligten Parteien und schließlich über die Folgen, mit denen man nun rechnen muss, und wie man ihnen am besten begegnete. Er stellte sich vor, wie sie stundenlang analysieren, polemisieren, sich widersprechen, Vorwürfe machen, euphemisieren und dramatisieren würden. Dann wär er wenigstens nicht mehr so einsam, dann wär wenigstens etwas los. Aber sie kamen nicht.
Letzte Nacht hatte er geglaubt im Dunkel ein Kind um Hilfe rufen zu hören. Er war aufgestanden, umhergegangen, erst langsam, dann schneller. Er rannte und schrie bis er nicht mehr konnte und zusammenbrach. Heute morgen richtete er sich wieder auf, ordnete die Einladungen, putzte den Staub von seinem Stuhl und setzte sich wieder auf ihn. Und da sitzt er nun bis jetzt und wartet. Morgen werden sie sicher kommen, und vielleicht wird er dann gehen können.
Er stellte sich vor, was er dann tun würde. Vielleicht würde er nach Osten gehen, vielleicht nach Westen oder einfach dem Gefühl nach. Vielleicht würde er dann irgendwo eine Stadt finden, mit Parks, Einkaufszentren, Spielplätzen und Kneipen. Ja, das würde er vielleicht tun. Und wie er so darüber nachdachte, begann er ein wenig zu lächeln und lehnte sich bequem in seinem Stuhl zurück und genoss die sanfte Abendsonne.
Minuten später erschien am Horizont die Silhouette eines Menschen, die er zuerst nicht bemerkte, da er die Augen geschlossen hatte. Als er sie öffnete, erschrak er kurz, denn der Mensch war jetzt deutlich zu erkennen und ging gerade auf ihn zu. Es war der alte Mann, der ihm damals das Leben gerettet und veranlasst hatte hier zu warten. Er wurde nervös vor Aufregung. Sollte sein Warten nun endlich ein Ende haben? Der Alte zeigte keine Gefühlsregung, strahlte jedoch eine unglaubliche innere Wärme und Ruhe aus. Ohne das er gefragt hätte, begann der Alte zu sprechen: Es täte ihm alles schrecklich leid, was geschehen wäre. Obwohl er die Katastrophe hätte verhindern können, hatte er den Entschluss gefasst, sich nicht einzumischen. Die Männer und Frauen für die die Eintrittskarten bestimmt waren, würden nun doch nicht erscheinen, was ihn außerordentlich betrübe. Vor allem über das Nicht-Erscheinen der Theologen sei er verärgert. Der Untergang der Menschheit sei den verehrten Herrschaften wohl nicht die Diskussion wert. Damit beendete der Alte den Vortrag, und eröffnete dem ungeduldig Wartenden, dass er nun gehen könne, und verschwand.
Was sollte er nun tun dachte der Wartende. Was sollte er jetzt tun. So plötzlich. Er entschloss sich zu gehen, doch aufstehen konnte er nicht. Er würde noch einen Tag abwarten, vielleicht kommen sie ja doch noch, und bringen Antworten für all das, was geschehen war, und wieso es geschehen konnte. Der Alte konnte sich durchaus geirrt haben. Nur einen Tag würde er noch warten, dachte er, und ordnete ein weiteres mal die Einladungen. Dann wurde es dunkel, und er schlief ein, schließlich hatte er heute eine Menge erlebt.
Diese Nacht träumte er zum erstenmal seit der Katastrophe wieder. Er träumte, wie er mit seiner Frau auf einer Wiese am Rande der Stadt picknickte, wie sie miteinander durch das nachgiebige Gras rennen und sich umarmen würden. Fast hätte er vergessen, wie weich ihre Haut gewesen war, wie zart ihre Lippen und wie wundervoll sie duftete. Diese Nacht erinnerte er sich wieder.
Die Tage, Wochen und Jahre vergingen, doch er stand nicht von seinem Stuhl auf um fortzugehen. Sein Schatten wanderte unaufhörlich über den Sand und die Nächte wurden länger und länger. Und je länger sie wurden, um so mehr Zeit hatte er um zu träumen. Und in seinen Träumen erschuf er nach und nach Wälder, Seen, Flüsse, Menschen, Städte und Parks. Noch einmal kam der Alte Mann und berichtete, dass er zufrieden wär, wie die Dinge sich entwickelten und jetzt sterben würde. Er, der Wartende, hätte längst seine Aufgabe übernommen, und der Alte hoffte das er es besser machen würde, als er selbst. Das die neue Welt, die entstand eine bessere werden würde. Und so ging der Alte und verschwand am Horizont.
Der Wartende, dessen Charakter er längst abgelegt hatte, beschloss, da es Abend wurde, wieder ein wenig zu schlafen und zu träumen. Und das tat er über Jahre. Und manchmal am Abend, wenn die Sonne schon sehr tief stand, und er zwischen Wach - und Schlafzustand schwebte, da sah er am Horizont seine Frau spazieren gehen, und ab und zu drehte sie sich zu ihm, lächelte ihn an und wünschte ihm gute Träume.