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Warten
Und wir warten wie die Psychopathen
Und wir warten in harten, harten, harten Zeiten
Warten nur, bereiten uns auf's Warten vor
(The Wohlstandskinder – Apathisch warten)
Mein Daumengelenk schmerzt vom telefonieren. Nie hätte ich gedacht, dass so etwas überhaupt möglich ist. Nach unzähligen Anrufen habe ich es erneut in die Warteschleife geschafft. Endlich darf ich wieder warten. Alles, was ich heute bisher erreicht hatte, war ein ständiges Piiiiieeeppp. Nein, nicht Verona Feldbusch! Tinitus, einseitig. Linkes Ohr, hergerufen durch das Besetzzeichen, hat mein Arzt gesagt.
Doch jetzt befinde ich mich in der Leitung und höre Phil Collins. Zuvor wurde ich mit Robbie Williams, Phil Collins, Shakira, Westernhagen, Backstreet Boys, US5 und Robbie Williams beschallt. Das Programm wiederholt sich alle 21 Minuten 37 Sekunden. Hand gestoppt. Zwischen den Liedern meldet sich immer eine weibliche Stimme, die mir zärtlich ins Ohr säuselt: „Legen Sie nicht auf, der nächste freie Mitarbeiter ist für Sie reserviert.“ Da bleibt einem doch gar nichts anderes übrig, als zu warten. Außerdem bin ich schon froh, so weit gekommen zu sein. Ich gebe zu, ich klinge wie ein Kandidat, der es bei „Wer wird Millionär“ auf den Stuhl geschafft hat, aber es ist tatsächlich so. Warten ist die schönste Nebensache der Welt. Ich gehöre dem elitären Zirkel der ernstzunehmenden Kunden an. Ich bin mehr als nur Deutschland. Ich bin Wartender! Und das seit gut einer halben Stunde.
Warten hat sehr viele positiven Seiten, das glauben die meisten nicht. Ich lese viel, vor allem Zeitung, bin so über das Weltgeschehen informiert und überhaupt ziemlich ausgeglichen. Mein Herzrasen ist deutlich zurückgegangen, vom Blutdruck gar nicht erst zu sprechen. Gut ich gebe zu, es gibt auch ein paar negative Seiten, die Küchenzeile ist unter einem Berg Geschirr verschwunden und gestern bin ich auf der Staubschicht, die sich auf dem Fußboden abgesetzt hat, ausgerutscht und hätte mir fast das Genick gebrochen. Doch wer gibt sich schon mit derartigen Lappalien ab. Alles in allem hat mich das Warten zu einem besseren Menschen gemacht! Ich bin die Ruhe selbst geworden, zu einem Optimisten herangereift. Deshalb bin ich auch frohen Mutes heute durchzukommen.
Meine Kumpels meinen, ich sei verrückt geworden, den ganzen Tag zu telefonieren. Doch wenn ich mich in ein Thema hinein gesteigert habe, kann ich sehr ehrgeizig sein. Die Telefonkosten sind zwar mittlerweile in utopische Höhen gestiegen, aber das ist mir egal, ich werde zu meinem Recht kommen, egal wie lange es dauert und was es kostet.
Mittlerweile plärrt wieder Shakira in den Hörer. Das werde ich denen als erstes sagen! Wie kann man Shakira als Warteschleifenmelodie wählen. So was ist doch nicht verkaufsförderlich! Ich drehe die Lautstärke zurück, das mache ich immer wenn Shakira kommt, bei Westernhagen wird dann wieder rauf geschaltet und mitgegröhlt. Dann weiß ich wieder, was mich am Warten so fasziniert. Bis dahin entschließe ich mich ein wenig zu dösen.
Nach zwei Stunden erwache ich schweißgebadet. Ein Alptraum. Ich war in der Warteschleife, bin durchgestellt worden und wusste nicht mehr, was ich wollte. Schrecklich so was! Und noch schrecklicher. Ich bin durch gestellt worden.
Ich bin erst erleichtert, als ich das monotone Piepen höre. Davon abgesehen weiß ich sehr gut, was ich will, ich will meine 2,50 Euro, die mir auf der letzten Rechnung doppelt abgebucht wurden, zurück. Ich will Gerechtigkeit!
Ich beginne Schach gegen mich selbst zu spielen. Ich habe mal ein Buch gelesen, genauer gesagt eine Novelle, in welcher der Charakter vor lauter Ein-Mann-Schach schizophren geworden ist und komplett den Bezug zur Realität verloren hat. Das könnte mir nie passieren.
Ich konzentriere mich auf den nächsten Zug, ziehe den schwarzen Springer auf C5 und bedrohe so gleichzeitig den König und die Dame von Weiß. Gabelangriff, nennt man das, meine Spezialität. Doch ich kann mich nicht lange an meiner Genialität erfreuen, schließlich muss ich mit Weiß die teuflische Attacke parieren. Als ich gerade fieberhaft überlege, wie ich kontern kann, meldet sich wieder die Stimme zu Wort. Aber dieses Mal ist es nicht der freundliche Computer, sondern eine tiefe, maskuline Stimme, die sagt: „Kundenservice, Schlink. Was kann ich für Sie tun?“
Ich bin total perplex, sage: „Ähhh ... ich ruf später noch mal an“ und lege auf.
Minuten später drücke ich die Wahlwiederholungstaste und lausche erleichtert US5.