Warten
Nachdenklich sog er an seiner Zigarette und stieß den Rauch langsam wieder aus der Nase aus. „Ich verstehe dich nicht.“
Ein vages Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Das brauchst du auch nicht.“
„Hm-hm“, war sein einziger Kommentar dazu, wobei er auf dem harten Stuhl in eine bequemere Position rutschte. Dann stellte er allerdings fest, dass er das Thema doch nicht ruhen lassen konnte. „Du fährst lieber mit mir weg, als dich mit ihm auszusöhnen?“
Wortlos zuckte sie ihm gegenüber auf ihrem Stuhl mit den Schultern.
„Was für ein Schwachsinn“, meinte er mit einem halb amüsierten, halb traurigen Lächeln und legte den Kopf in den Nacken. Starrte nach oben in das vollkommene Weiß hinein, das sich überall um sie herum befand. Tiefe und Weite war beides im gleichen Maße vorhanden wie Leere und Dichte, Boden und Decke. Er konnte spüren, dass er auf einem Stuhl saß, konnte fühlen, dass er einen festen Stand hatte, dass seine Füße festen Grund berührten.
Doch gleichzeitig durchflutete ihn ein ursprungsloses Wissen.
Er könnte fallen.
Er könnte aber auch fliegen.
Und er war sich ziemlich sicher, dass er auch eine Milliarde Schritte tun könnte und letzten Endes dennoch wieder bei den zwei Stühlen ankommen würde.
„Weißt du“, begann er nach einiger Zeit des Schweigens, „so gibst du mir irgendwie das Gefühl, schuldig zu sein. Hätte ich nicht zugestimmt, wäre jetzt keiner von uns hier.“
„Und jetzt erklär mir doch noch mal, warum du mich mitten in der Nacht aus meinem Bett holst, mich dazu zwingst, in Windeseile eine Tasche zu packen, um mit dir wegzufahren“, forderte er sie vollkommen verwirrt und mit einem gewissen Ärger in der Stimme auf. Allerdings war es auch keine allzu angenehme Erfahrung, wenn man mitten im tiefsten Schlaf von seiner aufgebrachten Schwester geweckt wurde.
„Das habe ich dir doch schon gesagt“, schnappte sie kurz angebunden und zog die Beine auf den Autositz, um sie mit den Armen zu umschlingen. „Ich habe mich mit Thomas gestritten.“
„Ah-hm“, machte er wenig verständnisvoll, während er leicht geblendet die Augen zusammenkniff, als ein entgegenkommendes Auto vergaß, das Fernlicht auszuschalten. „Und das Problem besteht darin, dass ... ?“
„Mann!“, fauchte sie, zornig über so viel männliche Taktlosigkeit. Fast schon verfluchte sie sich dafür, nicht zu einer Freundin gegangen zu sein, um ihr ihr Leid zu klagen. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. „Es ist etwas heftiger ausgefallen als üblich, okay? Wir haben uns angeschrieen. Dinge gesagt, die nicht nett waren. Die vielleicht nicht einmal ernst gemeint waren. Keine Ahnung. Es war einfach total beschissen, zufrieden? Und jetzt lass mich in Ruhe.“ Sie ließ kurz einige Sekunden verstreichen, ehe sie, da sie wusste, dass sie ihren Bruder vermutlich wirklich verärgert hatte, etwas leiser hinzufügte: „Bitte.“
Dann vergrub sie den Kopf zwischen ihren Armen.
Sie hob den Blick und betrachtete ihn, wie er mit zurückgelegtem Kopf und über die Augen gelegten Arm auf dem harten Stuhl saß. „Unsinn. Du bist doch nicht Schuld daran.“
„Ich bin gefahren.“
„Ja, einen Wagen.“
„Und wenn schon.“
Sie seufzte und gab es auf, erhob sich stattdessen vom Stuhl und schlang, als wäre ihr kalt, die Arme um ihren Oberkörper. Nein, sie log ihn nicht an. Es war die reine Wahrheit, dass sie ihn für unschuldig hielt. Normalerweise wäre sie beharrlicher gewesen und hätte ihn mit mehr Hartnäckigkeit zu dieser ihrer Überzeugzeugung gebracht.
Aber jetzt gerade gingen ihr ganz andere Dinge im Kopf herum.
Thomas.
Es waren wirklich hässliche Worte zwischen ihnen gefallen.
„Was ... was ist überhaupt noch mal genau passiert?“, fragte sie schließlich stockend, was ihn dazu veranlasste, den Kopf wieder nach vorne sinken zu lassen.
Aus den Augenwinkeln heraus betrachtete er das kleine Häufchen Elend neben sich. „Hey.“ Sie sah nicht auf, sodass er dem Drang nicht widerstehen konnte und einen Arm nach ihr ausstreckte, um sie sanft zu berühren. „Hey, entschuldige. Ich wollte nicht so harsch klingen.“ Tröstend strich er über ihren Arm hinweg und wandte den Kopf, um ihrer Reaktionen besser gewahr werden zu können. „Du kannst mich natürlich immer zu den unmöglichsten Zeiten aus noch so schönen Träumen reißen, wenn es dir ein Bedürfnis ist, mit mir in die Wallachhai zu flüchten.“
Das brachte sie endlich dazu, leicht den Kopf zu heben und ihn anzusehen. In ihren etwas feucht schimmernden Augen, die von Schmerz und Traurigkeit zeugten, mischte sich ein Funke von Dankbarkeit, mit dem sie nur ihn allein bedachte, und ein kleines Lächeln umspielte ihren Mund.
„Danke.“
Er grinste fröhlich zurück. „Dafür nicht.“
Mit einem warmen Gefühl im Herzen, dass da immer jemand war, der für sie da war, blickte sie wieder nach vorne auf die Straße hinaus.
Entsetzt riss sie die Augen auf, als sie das paar großer, greller Scheinwerfer auf sie zusausen sah, und ein Arm schnellte hervor, um ihren Bruder in einer instinktiven Geste zu packen. „Pass auf!“
Er zögerte nur einen Atemzug lang, ehe er ihr antwortete. Immerhin brachte es nichts, sich selbst zu belügen. „Ich bin mit ihm zusammengestoßen. Frontal. Aber er in seinem Laster hatte vermutlich die besseren Überlebenschancen.“
„Nein“, erwiderte sie bestimmt, wobei sie sich zu ihm herumdrehte.
„Nein?“ Er runzelte verwundert die Stirn und vergaß ganz seine Zigarette.
„Er war auf der falschen Seite. Das habe ich gesehen. Wahrscheinlich Sekundenschlaf. Oder so. Passiert ja häufiger.“
Er brauchte einen Moment, um diese gute Nachricht sacken lassen zu können. „Gut.“ Dann bemerkte er jedoch, dass die Neuigkeit trotzdem noch einen Haken hatte. „Allerdings ändert das nichts an unserer Situation und daran, dass ich am Steuer gesessen habe. Es tut mit Leid.“
„Hm-hm“, sagte sie diesmal. „Ist nicht mehr zu ändern. Ich war einfach zu blöd, da kannst du nichts dafür. Aber noch gibt es Hoffnung.“
Ein humorloses Lachen kam über seine Lippen. „Für ihn?“
„Für uns“, korrigierte sie ihn und saß mit zwei schnellen Schritten wieder auf dem Holzstuhl, wo sie sich vorlehnte und ihm fest in die Augen sah. „Spürst du das nicht?“
Er legte leicht den Kopf schief. „Was?“
„Na ...“ Mit einem Mal merkte sie, dass der Stuhl unter ihr nicht mehr da war und wenig sanft landete sie auf dem weißen Boden. „... das.“
Mit geweiteten Augen beobachtete er sie, die Zigarette mittlerweile vollkommen ignorierend. „Du ... lebst?“
„Ich ...“ Der Boden unter ihrem Hintern löste sich ebenfalls auf und ehe sie es sich versah, fiel sie, nicht minder geschockt wie er. „... lebe“
Aber er saß weit oben noch immer auf seinem Stuhl und verfolgte ihren Sturz mit den Augen. Es war ein schmerzhaftes Gefühl. Etwas verließ ihn.
Sie fiel.
„Ich nicht.“
Und er flog.