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Warten auf 'Warten auf Godot'
„Zu früh. Wie immer“, grummelte ich, als wir durch die Eingangstüre gingen. Die Luft, die uns aus dem Vorraum entgegenschlug, war angenehm warm, aber sie roch abgestanden.
„Man weiß ja nie, wann und wo man einen Parkplatz bekommt.“ Der gereizte Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Wir hätten mit dem Fahrrad herkommen können, dann hätten wir keinen Parkplatz gebraucht“, giftete ich zurück. Mir war klar, dass sie sich bei dieser kühlen Witterung niemals aufs Fahrrad gesetzt hätte.
„Es gäbe auch die öffentlichen Verkehrsmittel, aber die sind Dir nicht fein genug“.
Sie konnte es nicht lassen. Einfach ignorieren, sagte ich mir, und ging in Richtung Garderobe. Den Mantel zog ich mir im Gehen aus und schob den Schal in den rechten Ärmel. Weit und breit noch keine Garderobefrau zu sehen. Die Vorhänge an den Annahmestellen sprachen eine deutliche Sprache: ‚geschlossen’. Ich legte meinen Mantel trotzdem auf den Tresen und half meiner besseren Hälfte aus ihrem Kamelhaarumhang. Da lagen sie nun, die beiden Kleidungsstücke, einträchtig beieinander auf der abgewetzten Oberfläche des Tresens. Ihr eleganter Mantel mit seidenem Innenfutter und mein dunkleres, schon etwas abgetragenes, Exemplar. So als ob sie nichts von der Spannung in unserer Beziehung spüren würden.
„Ich muss noch für kleine Mädchen.“ Ohne weiteren Kommentar ließ sie mich stehen und verschwand in Richtung Toiletten.
Die erste Garderobefrau schlurfte heran. Im vorbeigehen drückte sie ihre Zigarette im Abfalleimer aus, obwohl Plakate im ganzen Haus das Rauchverbot an jeder passenden und unpassenden Stelle verkündeten. Gelangweilt schob sie den schweren Samtvorhang zur Seite. Ein Vorgeschmack auf das richtigen Theater, wenn sich der Vorhang öffnet. Ihren massigen Körper zwängte sie in eine blaue Dienstjacke. Die Knöpfe rissen fast aus den Knopflöchern. Ohne Eile hing sie unsere beiden Mäntel an die vordersten Haken und schob mir die Plastikschildchen mit den Garderobenummern über den Tresen. „Macht vier Euro“, murmelt sie, ohne mich anzuschauen. Mit der Zunge pulte sie die Reste ihres Abendessens aus den Zähnen, als sie darauf wartete, bis ich das Geld auf den Tresen zählte. Ein Extratrinkgeld bekam sie von mir nicht, denn Unfreundlichkeit sollte man nicht belohnen, fand ich.
Die Technik schaltete einen zusätzlichen Deckenfluter ein, der die Stuckaturen über uns in effektvolles Licht tauchte . Als ob sie auf dieses Zeichen gewartet hätten, stiegen jetzt die anderen Garderobefrauen aus den Katakomben des Theaters empor und öffneten die Vorhänge über ihren Theken. Alle in den gleichen blauen Dienstkitteln. Alle im Alter jenseits von 50 und in der Gewichtsklasse über 60.
Meine Frau war noch nicht am Ende des Ganges, wo es zu den Toiletten geht, auszumachen. Also warten. Eigenartig: normalerweise dauert es nur lange, wenn sich in den Pausen eine Schlange vor der Türe mit der Aufschrift ‚Damen’ gebildet hat. Ich lehnte mich an eine Säule zwischen den Garderobenischen und beobachtete die ersten Zuschauer, die frierend den Vorraum betraten. An die üble Luft hier drin hatte ich mich schon gewöhnt, aber die Neueintretenden rümpften sichtlich die Nase.
Ein Pärchen steuerte zielstrebig auf die Garderobe links von mir zu. Er mit ausladenden, sie mit kleinen Schritten. Ich zählte mit: Sie brauchte drei Schritte, um den gleichen Weg zurückzulegen, für den er nur einen benötigte. Ein ungleiches Paar!
„Zu früh! Wie immer“, hörte ich ihn brummeln und musste leise vor mich hin grinsen. Er legte zuerst eine große Plastiktüte von ALDI auf den Garderobentisch. Ich wartete gespannt auf die Reaktion der Dame.
„Oh Schatz, ich warte so gerne. Das hebt die Spannung vor dem eigentlichen Theater. Ich bin immer ganz kribbelig!“ Sie sah ihn mit einem feuchten Dackelblick von unten an. Er nahm ihr den Mantel ab und legte den seinen dazu auf den Tresen. Ohne Mantel war klar, warum es kleine Schritte sein mussten: Der Rock war lang und eng. Dafür das Oberteil um so kürzer. Jedenfalls oben - schulterfrei. Sie massierte fröstelnd ihre Oberarme. Dann tauschte sie ihre Stiefel gegen elegante, rote Schuhe, mit hohen Absätzen, die sie aus der Plastiktüte gefischt hatte. Ein kesser Kontrast zum schwarzen Kleid. Auch sie machte sich auf den Weg zur Toilette. Ihr Gang wirkte mit den Abendschuhen leichter und beschwingter, obwohl die Schritte nicht länger wurden.
Meine Frau war noch immer nicht in Sicht.
Der junge Mann lehnte sich in lässiger Haltung ebenfalls an die Wand. Mit einem Fuß stützte er sich dagegen ab. Die Arme hielt er vor der Brust verschränkt. Das dadurch leicht angehobene Revers der Anzugsjacke drückte die dunkelrote Fliege an seinem Hemdkragen schief. Er machte keinerlei Anstalten, das zu korrigieren. So wie ich verlegte er sich auf das Beobachten der weiteren Theaterbesucher, die jetzt zahlreicher durch die Eingangstüre strömten. Offensichtlich hatte es angefangen zu regnen. Einzelne Männer schüttelten mit Vehemenz die nassen Schirme aus, ohne darauf zu achten, dass alles auf den frisch gebohnerten Theaterfußboden tropfte. Ob sie das zu Hause auch so gemacht hätten? Ihre Ehefrauen, die hier keinerlei Zeichen von Entrüstung zeigten, hätten daheim sicher anders reagiert!
Die Garderobefrauen erwachten langsam aus ihrer Lethargie. Das erste Läuten der Theaterglocke schien sie zum Leben zu erwecken. Aber ein freundliches Lächeln konnte auch die Glocke nicht auf ihre Gesichter zaubern. Ich bedaure es weiterhin nicht, kein Trinkgeld gegeben zu haben.
Immer noch keine Spur von meiner Frau. Auch von der jungen Dame im engen Schwarzen war nichts zu sehen. Der Mann blinzelte mir kumpelhaft zu und zuckte mit den Schultern. Das bedeutete so viel wie ‚dann warten wir halt weiter, da kann man nichts machen!’
Stimmt. Da konnte man nichts machen. Aber warum dauerte es so lange? Ich wurde langsam unruhig, trat von einem Fuß auf den anderen. Um Zeit zu gewinnen warf ich einen Kontrollblick in den Wandspiegel, der gegenüber angebracht war. Sitzt die Krawatte korrekt? Alles passte – nur meine Frau fehlte immer noch.
Die Theaterglocke schellte zum zweiten Mal.
Eine etwas fülligere Frau rempelte mich aus Versehen an. Sie entschuldigte sich umständlich dafür, hatte dabei aber offensichtlich nicht bemerkt, dass sie mir mit einem ihrer spitzen Absätze auf den Fuß getreten war. Es schmerzte höllisch. Meine Reaktion im schmerzverzerrten Gesicht missdeutete sie. Sie Wiederholte, wie unangenehm es ihr sei, mich angestoßen zu haben. Als ob das etwas gegen den Schmerz helfen würde! Dabei war am Zwinkern in ihren Augen deutlich abzulesen, dass es ihr keinesfalls unangenehm war. Im Gegenteil. Sie war ohne Begleitung da – und ich auch, musste sie vermuten. Was rechnete sie sich aus?
Ich sah am Ende des Korridors die nackten Schultern über roten Schuhen auftauchen. Ihr Galan löste sich von der Wand und ging ihr entgegen.
Verdammt, wo blieb meine Frau? Meine Hände wurden feucht. Gleich schrillte die Glocke zum dritten und letzten Mal. Der Geräuschpegel im Vorraum hatte sich fast auf Null gesenkt. Alle Besucher hatten ihre Plätze im Theatersaal eingenommen. Auch die Füllige ging hinein, nachdem sie mir noch einen schmachtenden Blick zugeworfen hatte. Einige Türen wurden schon geräuschlos geschlossen.
Da, endlich tauchte sie auf.
„Hast Du vielleicht auf mich gewartet? Ich habe noch jemanden getroffen“, sagte sie mit einem unschuldsvollen Lächeln auf dem Gesicht. Meinen Ärger im Gesicht ignorierte sie gekonnt. Dann nahmen auch wir unsere Plätze in der Mitte der siebten Reihe ein. Die anderen Zuschauer in der Reihe lächelten uns mit zusammengebissenen Zähnen zu, als sie alle aufstehen mussten, um uns durch zu lassen. Kaum saßen wir auf den harten Klappstühlen des kleinen Theaters, ging der Vorhang auf und das Saallicht wurde langsam zurückgefahren. Riesige Spots tauchten die Bühne in gelbliches Licht, das in den Augen schmerzte. Zwei Landstreicher, Estragon und Wladimir, standen sich dort bewegungs- und wortlos gegenüber.
Sie warteten auf Godot.