Mitglied
- Beitritt
- 06.01.2022
- Beiträge
- 86
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Warten auf den Sohn
Er schlurft zum Waschbecken und tritt dabei auf seinen Pyjama. Dreißig?... Zweiunddreißig Jahre hat das Leben sie getrennt!
Er starrt in den Spiegel. Sein Sohn hat eine runde Stirn, die genauso aussieht wie seine. Hinter seiner professoralen Brille ist es derselbe Blick, auch wenn der Junge die blauen Pupillen seiner Mutter geerbt hat.
Bei ihr war es ein Misserfolg gewesen. Plaisir d'amour hatte nicht lange gedauert.
Seit seiner Inhaftierung hat er seinen Sohn nicht mehr gesehen. Eine Entführung, die viel versprach. Eine millimetergenaue Operation. Die Sache war in die Hose gegangen. Wie alles, was er unternahm.
Zweimal hat er versucht zu türmen, aber beide Male sind seine Versuche gescheitert. Der zweite Versuch hat das Leben eines Aufsehers gekostet und ihn selbst hat es teuer zu stehen gekommen. Wenn seine Strafen nicht zusammengefasst worden wären, hätte er siebenundsiebzig Jahre gebraucht, um sie abzusitzen.
Seine Frau hat ihn im Stich gelassen. Wäre es mit einem Kerl gewesen, könnte er sich schuldig fühlen; sie hatte ihm ein Horn mit einer anderen von der gleichen Sorte verpasst. Eines Tages wurden sie ein Paar und fuhren nach Paris, wobei sie das siebenjährige Kind bei ihrer Mutter zurückließen.
Anfangs kam seine Schwiegermutter ab und zu ins Besuchszimmer. Durch sie hatte er erfahren, dass der Junge in der Schule fleißig war. Dann war Schluss. Nach dem ersten gescheiterten Ausbruch wurde er in eine andere Region verlegt. Zu weit weg für die Stiefmutter.
Sein Sohn gehört zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart. Das ist nicht sein Verdienst. In einem Fernsehinterview hat der Junge seine Verachtung schmerzhaft geäußert: „Ich weiß, dass ich meinen Vater nie wiedersehen werde und ich sprühe vor Freude.“ Als er das sagte, hatte sein Sprössling einen Tick. Etwas, das er von ihm geerbt hat. Wenn er sich verlegen fühlt, zuckt der kleine Lachmuskel in seinem Mundwinkel.
Also hatte er ihm einen Brief geschrieben, adressiert an den Moderator der Sendung. Nun kommt sein Sohn am frühen Nachmittag an.
Der angekündigte Besuch seines Kindes bereitet ihm Bauchschmerzen. Er geht zur Toilette in der Ecke gegenüber dem Waschbecken und zieht seine Pyjamahose herunter.
Im Grunde ist er zu nichts nütze.
Dieser XXL-Schlafanzug! Er schätzt die Länge der Hosenbeine ab. Jedes ist über einen Meter lang. Er dreht sich um und schaut nach oben. Die Toilettenspülung? Fest an der Wand befestigt! Er könnte auf den Thron klettern, ein Ende an das Wasserrohr binden…
Er zieht seine Hose aus.
Schauspieler verbeugen sich vor ihrem Publikum, bevor sie die Bühne verlassen.
„Leb wohl!“
Er deutet mit dem Finger auf den Spiegel, der sein Abbild reflektiert… Sein Abbild: Er sieht sich nicht! Er hat sich noch nie direkt gesehen:
„Du, das bin ich nicht!“
Jetzt begreift er, was die Worte seines Sohnes in der Sendung bedeuteten. Der Junge hatte gesagt: "Man stirbt nicht jeder für sich selbst, sondern die einen für die anderen."
Der Spiegel setzt ein versonnenes Lächeln aus:
„Es ist an der Zeit, dass wir uns kennenlernen, und wenn du lachst, lache ich mit.“