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Warten auf den Nachtbus
Es war beträchtlich spät am Abend und die Sonne berührte schon die höher liegenden Dächer der Stadt. Birgit hatte an der Feier teilgenommen, die ihre Mutter zu ihrem fünfundfünzigsten Geburtstags veranstaltete. Sie musste Rekarda, ihre sechs Jahre alte Tochter mitnehmen, da niemand sonst zu Haus gewesen wäre. Das Kind wollte nämlich rein gar nicht alleine zu Hause bleiben und plärrte wild, bis Birgit schließlich doch entnervt nachgab und sie mitnahm. Rekarda unterband außerdem mit erstaunlicher Wirkung, dass ihre Mutter bis in die Mitternacht hinein dort blieb. Nun gingen die beiden Hand in Hand in der Dämmerung durch die Pflastersteinstraßen, welche aller Gewöhnlichkeit zum Trotz an diesem Tag unheimlich leer und still waren. Da Birgit selbst keinen Wagen fuhr, mussten sie den Bus nehmen.
Bis sie die Bushaltestation erreichten, ließ Birgit die diesabendlichen Erzählungen ihres Onkels Revue passieren, der sein Publikum dank seines rosig gesunden Humors zu belustigen wusste. Neben ihr her tollte ihre Tochter im Dunkeln herum. Sie war sichtlich aufgekratzt, weil sie sich ihre Müdigkeit wie gewohnt nicht eingestehen wollte. Überhaupt bewölkte ein gewisser Zweifel Birgits Gemüt, ob das Mädchen nicht doch an der Hyperaktivität litte.
Sie erreichten bald ihr Ziel. Im Laternenschein sahen sie dort, alt und gebeugt auf der Wartebank sitzend, einen Mann, der seine Hände auf den Knauf eines Stocks stützte und eine Brille mit schwarzen Gläsern trug. Es musste sich allem Anschein nach also um einen Blinden handeln. Sodann versuchte Birgit im Schein des Neonlichtes die Fahrpläne zu lesen. "Hm, alles so unübersichtlich." murmelte sie. Sie hatte große Mühe, die kleine Schrift zu entziffern. Als schließlich ihre Augen zu schmerzen anfingen, entschloss sie sich kurzerhand für die 1194. Jene Linie hatte als Endstation den kleinen Ort Schattenburg, woran sich ihr noch kleinerer Wohnort Weckingen direkt anschloß. Sollen sie doch dann noch ein paar Straßen zu Fuß gehen - das würde kein Problem darstellen.
Doch musste sie schon die ganze Zeit in ihren Augenwinkeln beobachten, wie Rekarda sich in ihrer Ungehemmtheit dem Blinden zuwandte. Diese Laune mit einer gehörigen Portion Neugierde verbunden, machte ihre Tochter zu einer Person, wegen der ihr schon manches Mal die Angstperlen von der Stirn rannen. Kaum dass sie sich's versah, nahmen die flinken Finger ihres werten Kindes dem Blinden die Brille von seiner Knollnase. Der arme blinde Mann erschrak dermaßen, dass er aufschrie.
Ebenfalls entsetzt rief Birgit nach ihrer Tochter: "Rekarda, was zum Teufel machst du da. Lass den Mann in Ruh!"
Seine Lider fest zugekniffen, tastete der alte Mann nach der Diebin. Eh diese jedoch ihre Untat bereuen konnte, setzte sich der Fremde plötzlich - scheinbar wieder beruhigt - zurück, und er sah auf. Er sah das Mädchen an, geradewegs in die Augen. Birgit wusste aus ihren Büchern, dass Blinde mangels ihres Augenlichts nicht fixieren können. Mit einem Mal ward ihr bewusst, dass der vermeintlich Blinde in vollem Besitz seiner Sehkraft war.
"Moment mal," wandte sie sich an den Alten, "Sie können ja sehen. Sie haben ihre Blindheit- Ich fass es nicht..."
Wie konnte sich nur ein Mensch von seinen funktionstüchtigen Augen so losgesagt haben! Es gab viele Menschen, denen nicht mal ein Schättchen gegönnt war, nichts von ihrer Welt sehen konnten, welche nur in ihren Formen und Beschaffenheiten für sie erfühlbar war, denen die Natur den farbigen Teil ihres Lebens nicht zugebilligt hatte. Und dieser alte Herr hatte von diesem wichtigen Sinn keinen Gebrauch machen wollen?
Rekarda stand rückenwärts zur Straße und stierte den Mann an, ihre schwarzen Mondaugen weit aufgerissen. Plötzlich fing der Alte furchtbar zu schluchzen an. Die Verwirrung war perfekt.
"Mami, was ist mit diesem Mann? Was ist los mit ihm?", fragte das Mädchen ängstlich.
"Ich weiß es nicht, Schatz."
Das faltendurchfurchte Gesicht des Alten trug Züge einer tiefen Erleichterung.
"Ich sehe wieder! Ich sehe wieder!! Ich kann sehen!?" rief er aus und fing an zu lachen.
"Eben noch waren Sie blind. Wie können Sie Blindheit vortäuschen?", fragte Birgit mit belegter Stimme.
Der Mann versuchte zu rechtfertigen: "Sie müssen wissen: Ich habe nichts vorgetäuscht. Es war -" Er zögerte. "Ja was war es nun?!" hakte Birgit mit ungeduldigem Nachdruck nach. Der Mann rang spürbar nach Worten:
"Na ich - ... Als ich noch in jüngeren Jahren war, so ungefähr zwanzig. Da, da habe ich mit meiner lieben Cousine Schach gespielt. Das besondere daran war: Wir hatten den Ausgang der Partie mit einer Wette belegt. Ja, ich erinnere mich: Wir hatten uns darauf geeinigt, dass es eine Wette sein sollte, die wir zeit unseres Lebens nicht vergessen sollten. Wir schrieben jeder auf einen Zettel, was wir vom anderen forderten, falls dieser verlierte. Was ich auf den meinen schrieb, das weiß ich nicht mehr so genau, aber irgend etwas mit Leben in der Wildnis. Sie liebte die Wildnis, und es sollte ja nach der Vereinbarung etwas mit den Vorlieben des Anderen zu tun haben. Sie wusste im Gegenzug, dass ich es mochte, mit einem Tuch um die Augen geschlungen meine Umwelt zu ertasten und zu erhören. Ja doch, ich war oft so verrückt und bin verbundenen Auges Stunden lang durch unsere schönen Nadelwälder spaziert. Auch meine Mutter rang mit sich und war besorgt, doch die gütige duldete es letztendlich immer.
Und was all das ins Rollen brachte: Wir haben innig geschworen, dass wir uns an die Wette halten würden. Als sie dann noch die Bibel aus dem Bücherregal holen wollte, gebot ich ihr Einhalt; Es wurde mir dann doch zu mulmig. Es war richtig so. Denn hätten wir bei ihm geschworen, säße ich jetzt wahrscheinlich nicht mehr hier."
"Warum denn das?" wollte Rekarda wissen, die ihm wieder mit ungeduldiger Hingabe zuhörte; ihre Angst hatte sich schnell in Neugier verwandelt.
Der ehemalig Blinde sah zu ihr ärgerlich auf und antwortete mit einer wegwerfenden Geste: "Ich hatte gleich am selben Abend die Augen, ja, ich hatte sie versehentlich geöffnet, um den Verschluss einer neuen Tube Zahnpasta zu öffnen. Der liebe Gott hätte mich sofort mit einem Blitz erschlagen!"
Rekarda bereute ihre tollpatschige Störung und hielt beschämt den Mund.
Sodann führte der Gebeugte seine Erzählung fort:
"Natürlich legten wir uns auf, das Geheimnis der Zettel, die wir zur Sicherheit vor der Partie unter das Spielbrett gelegt hatten, erst nach dem Spiel zu lüften. Und dann - Ich sehe es ganz klar vor mir: Sie stieß mit der Dame meinen König vom Spielfeld. Und überaus freudestrahlend tanzte sie darauf hin vor Glück im Raum herum. Ich hatte ihn Schach-Matt gespielt, ich hatte meinen König Schach-Matt gespielt! Nach beinahe zwei Stunden zermaterte mir die Neugier nach ihrer Auferlegung so den Geist, dass ich mich nicht mehr konzentrieren konnte." Der Mann senkte den Kopf und sah in Erinnerung versunken vor sich auf den Boden. "Eigenhändig musste ich ihren Zettel umdrehen, und mir blieb fast das Herz stehen, als ich las: 'Suche dein Glück im Dunkeln! Neununddreißig Jahre lang sollst du durch die Welt der Blindheit wandeln.' Erschüttert sah ich zu ihr auf. Ihr Gesicht sah plötzlich merkwürdig kalt aus. Sie sagte: 'Nun?'. Dieses Nun, mit seinem Tonfall, hält mein Gedächnis noch immer fest umgriffen, lange Nächte schallte dieses Wort durch meinen Kopf. Erst eine Rundfunksendung über multiple Persönlichkeiten riss mir später den Schleier von den Augen. Wahrhaftig, in ihrem Körper wohnten zwei Seelen: die ruhige schweigsame, aber sehr freundliche, und eine teuflische hasserfüllte hinterhältige. Nun, das wusste ich damals leider noch nicht, und so nahm ich schließlich, denn ich hatte ja bei aller Ehrlichkeit geschworen, Abschied vom Licht und von den Farben."
Birgit war es eng in der Kehle geworden. Nicht nur wegen der Trauer, die sie bei seinen Erzählungen empfand, nein, sie bekam Angst und wusste nicht wovor.
"Dann, ein paar Tage später brachte sie mir die Brille. Ich sah Schadenfreude in ihrem Gesicht. Darüber wunderte ich mich sehr, denn sie war ja immer freundlich zu mir gewesen. Sie lachte: 'Damit deine Lider keinen chronischen Muskelkater bekommen.' Tss. Es war übrigens dieselbe Brille, die ihre Tochter mir eben von der Nase genommen hat, werte Dame. Aber sagt mal bitte, welches Jahr haben wie jetzt eigentlich? Denn ich habe seit langem nur von einem Tage zum anderen gelebt, vollkommen zurückgezogen und mit der Schreibmaschine aberhunderte von Gedichten verfassend. Ganz den Sinn für die Zeit verloren... Ehm, hallo?"
"Ja, ähm, wir haben das Jahr 1988."
Verflixt, hatte sie sich doch von den Geschichten eines alten Mannes einlullen lassen. In der Annahme, ihre Tochter wäre dem selben Schicksal zum Opfer gefallen, zwickte sie sie sachte in den rechten Oberarm. "Autsch!!" quieckte diese verärgert auf.
"Nun gut, rechnen wir mal.", sagte der Alte mehr zu sich selbst, "Geboren wurde ich 1929 in Zürich, so war die besagte Schachpartie 1949, wo ich zwanzig war, und achtundachzig weniger neunundvierzig... Ooh, das sind doch neununddreißig - Es sind neununddreißig Jahre!"
Ein zweites Mal rechnete er im Stillen noch mal nach. Er nickte.
Daraufhin stieg Freude in das faltige Gesicht des Mannes. Er stand auf, und ganz im Widerspruch zu seiner körperlichen Haltung fing er an, um Birgit und Rekarda herum zu tanzen. Diese wussten weder aus noch ein, schon gar nicht wie sie darauf reagieren sollten.
Plötzlich hielt der Alte mit seiner Freudbezeigung inne, schnippte mit den Fingern und sprach zu Rekarda: "Du kleines Feenkind warst das? Ohne deine Ungezogenheit heute hätte ich unsere tapf're Welt bestimmt nie wieder gesehen! Tausendmillionenmal Danke!"
Er lachte freudestrahlend im Schein der Neonröhre auf und drückte dem Kind ganz erquickt einen Kuss auf die Stirn. Rekarda mochte das natürlich überhaupt nicht und wischte verärgert ab; "Nichts zu danken!" sagte sie bescheiden.
Birgit bestarrte nur ganz verdutzt das Geschehen - Ihr Mund war halb offen und zuckte, als wollte sie etwas sagen, doch sie brachte keinen Laut über die Lippen.
Und dann sagte der Alte: "Na, nun muss ich mich mal auf die Socken machen. Meine Eveline hat bestimmt schon die Kartoffeln übers Gas gestellt. Wollt hier nur eine Pause machen. Wo liegt denn mein Hut? Ach ja hier! Ah, seht ihr, da kommt euer Bus, ihr fahrt doch mit der 1194, nicht? So." Er setzte sich den Hut auf und wandte sich zum Gehen "'Hätte euch sehr gerne besser gekannt. Aber vielleicht sehen wir uns mal wieder. Lebt wohl!"
"Auf Wiedersehn!" erwiderte Birgit und sah ihm wie durch einen Schleier nach, ein bisschen traurig geworden.
"Wollen Sie nun einsteigen oder nicht!", drang unvermittelt eine Stimme unfreundlich zu ihnen hinab. Es war die Stimme des Busfahrers.
"Ja." antwortete Rekarda, denn ihre Mutter wirkte noch immer zerstreut.
Sie stiegen ein und setzten sich auf einen der hinteren Sitze. Als der Bus anfuhr, blickte Rekarda zu ihrer Mutter auf.
"Erzählst du mir dann eine Gutenachtgeschichte?", fragte sie.
Birgit antwortete nicht, sondern starrte blicklos aus dem Fenster.
"Maaami!", rüttelte das Mädchen an ihrem Arm.
Mechanisch drehte die Frau den Kopf zu ihr um. Dann lachte sie auf, lachte heiser ein zweites Mal auf, grinste breit. Ihre Zähne blitzten, und in ihren Augen sah Rekarda einen Schimmer, eine unheimliche Flamme, die ihr Angst machte.
"Ja, mein Schatz, ich lese dir eine Geschichte vor." Ihr Gesicht verzog sich zu zu einer schrägen bösen Maske. "Eine Geschichte, an die du lange denken wirst."