- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Warnung an mich
Während meine Augen über das Papier kreisen, nahm ich ihn war. Erst unbewusst, dann auf einmal in seiner ganzen Pracht. Dort war er. Er geifert mich an, hässlich seiner selbst.
Aus jedem Buchstaben, jedem Wort, jeder Zeile giert er hinaus, schreit nach Freiheit - will mich überwältigen.
Hass, reiner, unverfälschter Hass.
Mit Not kann ich ihn abwehren, mühsam halte ich ihn im Zaum. Dann greifen Mechanismen, ich schüttle mich, klopfe jede Spur von ihm aus meinem Körper, meine Gedanken schließen sich, innere Wände bewachen jetzt meine Seele vor diesem ursprünglichsten aller Gefühle.
Ich lege den Ausdruck beiseite, lehne mich zurück und greife instinktiv nach einer Zigarette. Der Versuch, mich weiter zu lösen, Raum zum Atmen zu schaffen indem ich meine Lungen mit Teer verpeste. Es gelingt, der Rauch bringt Distanz.
Nicht was dort geschrieben steht ist es, was ihn ausmacht. Nein, dort ist nur Bedeutungsloses, tausendmal gehörte Agitation, austauschbar. Der Hass in diesem Papier ist nicht in fassbar, nicht im Inhalt, nicht in der Intention, wie eine Schlange liegt er im weissen Raum dazwischen, aber hat doch, für immer untrennbar, jeden Buchstaben mit seinem Gift durchtränkt. Schwarz und Weiß, ohne Grau, einfach und klar, strahlend für alle die ihm Glauben schenken wollen, kann er sich verstellen, umstellen, man kann ihn sehen wie man will, er verspricht Wahrheit, seine Realität ist so verführerisch unkompliziert. „Denk nicht nach“, scheint er zu flüstern, „Ich bin die Antwort auf alle Fragen.“
Der Ursprung, seine Quelle, ist weit entfernt. Dies eine Kopie aus unzähligen, gefischt aus dem täglichen Rauschen des Netzes. In alle Bestandteile zerlegt kam diese in kleinen Paketen zur mir. Das Medium wechselte, wurde gereinigt und neu zusammensetzt und die Buchstaben durch Hunderte von Düsen gepresst, die so klein sind, das selbst auf der Spitze einer Haarnadel noch unzählige Platz hätten. Dennoch, da ist er, jungfräulich und frisch, wie an dem Tag, wo sein Wirt ihn mit den Worten verflochten hat - auf das er sich vermehren kann, einem Kuckkuck gleich.
Dieses namenlosen Wirtes Hasses ist es nun, welcher dort auf meinem Tisch liegt. Der Hass gegen seine eigenen Moralverstellungen, an denen er scheiterte, gegen seine Unfähigkeit zur Reflexion, gegen die unangenehme Wahrheit, die sich nicht mit der seinen deckt, gegen alles, was ihm jemals wiederfahren ist, gegen alle, die ihn nicht verstehen, gegen die Welt, gegen sich selber; ja, der gesamte Hass seines Lebens ist nun hier bei mir, in meiner Wohnung, liegt keinen Meter von mir entfernt und ruft mich.
Wie schon sooft zuvor, will er, dass ich ihn akzeptiere, es mir einfach mache, mich in ihm ergehe. Mächtig und Rein ist er, wie gerne würde ich ihn aufnehmen, pflegen und hegen wie meinen eigen Fleich und Blut.
Aber noch zu vertraut ist das verführerische Feuer, was dort lodert, zu oft habe ich es gesehen, so oft hat es mich verbrannt.
Ich schließe die Augen, Fragmente meiner Erinnerung formen sein Gesicht: Ich rieche den Schaum vor dem Mund meines Bruder, als er auf meinen Vater einschlägt; höre die sich überschlagende Stimme einer Lehrerin, die eines schnippischen Kommentar wegen, jede Fassung verlor und uns die ganzen Agonie ihres Lebens entgegenschleudert; spüre die Tritte eines Jungen ohne Zukunft, der mich verprügelt, weil ich eine habe; sehe das Feuer in den Augen der Frau, die, durch Uniformierte von uns getrennt, immer noch im Raum ist, während wir die klaffende Wunde am Kopf ihres Mannes versorgen.
Doch mit diesen Überresten kommen andere Empfindungen, untrennbar mit ihm in diesen Bildern verschmolzen: Verbitterung, Leid, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Sie rauben ihm seine Klarheit, Schwarz und Weiß wird zu Grau, seine einfachen Realitäten bekommen Risse, seine unbändige Kraft wir schwächer.
Meine Chance – ich vernichte das Papier, schmeiße es weg, entferne es aus meinem Leben.
Ich werde keine Antwort schreiben, feige enthalte mich des Kommentars. Nicht noch einmal will ich diesen Hass spüren, der die krumme Welt seines Wirtes so gerade macht. Zu groß ist die Angst, schleichend ihm doch Zutritt zu gewähren.
Vielleicht bin ich eines Tages stark genug, mich ihm zu stellen, vielleicht muss ich dann nicht mehr hinter Mauern verstecken. Beschämt über meine fehlende Courage schreibe ich, einer Warnung an mich selber gleich, meine Gedanken nieder.