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Warmduscher
Normalerweise dusche ich morgens nur drei bis fünf Minuten, um nicht zu spät ins Büro zu kommen, im Sommer ab und zu sogar kalt. Heute muss ich nicht zur Arbeit – ich habe alle Zeit der Welt. So stehe ich jetzt schon seit einer dreiviertel Stunde im warmen Regen der Dusche. Dieser Quadratmeter Keramikwanne in der Ecke des Badezimmers mit der billigen Duschwand an den anderen beiden Seiten ist heute mein Königreich.
Während die dampfenden Wassertropfen an mir abperlen wie schlechte Nachrichten aus dem fernen Ausland, schweift mein Blick über die verflieste Wand. Von den Eckfugen aus hat sich, von Rebeccas wachsamen Augen bisher wohl unbemerkt, ein kleiner Schimmelfleck ausgebreitet. Irgendwo in der Abstellkammer, hinter Stahlwolle und Insektenspray, müsste noch eine Flasche Schimmel-Ex stehen. Obwohl, eigentlich ist mir das jetzt ziemlich egal.
Nach einigen Minuten – oder waren es Stunden? – öffne ich die Schiebetür um, begleitet von einer Wolke aus Wasserdampf, aus der Dusche zu steigen. Neben der Toilettschüssel steht noch eine angebrochene Flasche Weisswein. Längst von der feuchtwarmen Luft im Badezimmer aufgewärmt, aber egal. Im Kühlschrank hätte sie das gleiche Schicksal erfahren. Mit der Flasche in der Hand zurück in die Dusche – Hoppla, vorsicht! Der kalte, geflieste Boden ist durch das Kondenswasser extrem rutschig. Mit der freien Hand gerade noch einen Sturz verhindert, steige ich wieder in die Dusche. Zwei Drittel aller tödlichen Unfälle passieren in den eigenen vier Wänden. Wenn ich jetzt ausgerutscht und mit dem Hinterkopf auf einer Kante gelandet wäre... ein bitteres Lachen entkommt meiner Kehle und wird von den glatten Wänden fast zustimmend zurückgeworfen.
Der Wein schmeckt scheußlich, noch vor ein paar Tagen hätte ich ihn, ohne darüber nachzudenken, weggekippt. Heute ist mir die bleierne Schwere willkommen, die mich überkommt, nachdem ich die halbe Flasche in wenigen Schlucken geleert habe.
Die Duschwanne bietet genug Platz, um sich mit angewinkelten Beinen hinzusetzen. Auch wenn der Wein durch das warme Wasser, das mir so über das Gesicht rinnt, verwässert wird, ist diese Position dem Stehen eindeutig vorzuziehen. Ich kann mich sogar in die Ecke (die mit dem Schimmelfleck) lehnen und den Kopf nach vorne fallen lassen. Keinen Muskel muss ich so bewegen, kann ruhig die Augen schließen und mich auf die Wassertropfen konzentrieren, die ich auf meine Haut fallen spüre.
Ich erwache, die leere Weinflasche immer noch in der Hand, unbestimmte Zeit später. Unverändert warm prasselt das Wasser aus der Dusche auf mich nieder. Durchlauferhitzer – einer der vielen Vorteile dieser kleinen Wohnung. Ich bin nicht auf das begrenzte Warmwasser eines 150-Liter-Boilers angewiesen. Der Gastank nahe des Hauses wurde erst vor kurzem für den bevorstehenden Winter gefüllt – damit bekomme ich noch verdammt viel warmes Wasser.
Früher, als ich ab und zu noch mit Rebecca zusammen geduscht habe, liebten wir uns, im heissen Regen stehend, und hörten Oldies mit dem Badezimmerradio auf dem Fensterbrett. Das rosafarbene Radio jetzt einzuschalten hätte keinen Sinn...
Im Gitter des Abflusses haben sich meine Haare und Stücke meiner Kopfhaut gesammelt – wenn Rebecca das noch sehen könnte, wo sie sich doch immer vor Haaren im Abfluss geekelt hat...
Durch das beschlagene Fenster dringt ein matter Rest Tageslicht. Man müsste schon die Deckenlampe anschalten, gäbe es noch Strom. Doch seit dem großen Blitz ist alles tot: Strom, Telefon (auch das Mobiltelefonnetz), Radio, Fernsehen – wenn ich es mir recht überlege, eigentlich ist die Dusche das einzige, was noch funktioniert.