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Warm Springs

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Warm Springs

Warm Springs

Rachel ist das kleinste Wüstennest, das man sich vorstellen kann. Neben der Tankstelle mit Roadside- Cafe, das gleichzeitig als Dorfladen und kleines Museum über UFOs fungierte, gibt’s dort nur ein gutes Dutzend Trailer- die üblichen grossen Wohnwagen, hier noch um eine Spur schäbiger, wohl weil der Wüstenstaub die Kunststoffabdeckungen schnell altern liess. Ich stellte mein Reiserad von der Abendsonne geschützt an eine Hauswand und trat ins Cafe ein. Die Zeit schien hier irgendwann in den Siebzigerjahren stehen geblieben zu sein.
Leicht amüsiert betrachtete ich die vielen UFO- Fotos und die vergilbten Zeitungsberichte über UFO- Sichtungen, die die Wände zierten und gönnte mir einen kühlen Eistee. Der Eistee hatte üblicherweise den Vorteil, dass es „Refills“ nach Belieben gab, und nach der langen Tagesetappe machte ich ausgiebig davon Gebrauch. Es herrschte nicht gerade Hochbetrieb. Am Tresen unterhielt sich ein stiernackiger Lastwagenfahrer mit der älteren Bardame und nippte an seinem Bier, über die Lautsprecher ergoss sich die übliche Sülze aus Country Music und Schmuserock. Aber irgendwie passte das hier ins Bild.

Der besagten Dame entlockte ich ein paar Informationen zu meiner weiteren Reiseroute und fragte sie, ob ich mein Zelt in der Umgebung aufstellen dürfe.
Sie wies mich darauf hin, dass sie eigentlich hier ein Motel führe mit Zimmern in einigen der umliegenden Wohnwagen, gestattet mir aber das Zelten auf ihrem Grundstück.
Welcher Konfession ich denn angehöre, wollte sie von mir wissen. Mit der Antwort, ich sei Katholik, gab sie sich knapp zufrieden. Sie seien zwar alles Methodisten und Unitarianer hier, aber gegen andere Christen habe sie nichts weiter einzuwenden. Gleichzeitig lud sie mich zum Abendgottesdienst ein, da es ja „Day of the Lord“ sei. Das konnte ich der guten Dame fast nicht abschlagen, denn andere Aktivitäten konnte ich hier nicht als Ausrede vorschieben. Ich willigte also ein und erkundigte mich nach der Kirche, denn in Rachel selber hatte ich nichts dergleichen bemerkt, und die nächste Siedlung war mindestens eine Fahrstunde entfernt. Sie erklärte mir, dass die Leute hier dafür extra einen Wohnwagen hergerichtet hätten.

Nach dem Zeltaufstellen und einem Kleiderwechsel (meine Hosen waren glücklicherweise in einem akzeptablen Zustand) fand ich mich zum verabredeten Zeitpunkt vor dem Kirchentrailer ein. Die Gemeinde bestand aus einem guten Dutzend Personen, allesamt im Sonntagsgewand, und ich bildete in meinen schäbigen khaki- Reisehosen und dem farbigen neuen Grand Canyon T- shirt sofort einen ungewollten Mittelpunkt. In kurzen Worten erklärte ich meine Herkunft, und ich wurde wohlwollend aufgenommen. Der Pfarrer begrüsste mich zu Beginn des Gottesdienstes speziell, und in den Fürbitten wurde für mein gutes Weiterkommen gebetet. Der mit vielen pastellfarbenen Vorhängen hergerichtete Wohnwagen, und die kleine, freundliche Gemeinde sorgte für eine Atmosphäre, wie ich sie noch nie an einem Gottesdienst erlebt hatte. Ich schmunzelte. Hier war ich mitten in der Wüste von Nevada in einem Trailer, umgeben von ein paar Leuten in gesetztem Alter, die Frauen in Nylonhemden, die Männer mit Krawatten und Anzügen im Stile der 70-er Jahre. Ich war mal wieder in eine fremde Welt eingetaucht. Solche Momente musste ich mir einprägen.

Früh am Morgen brach ich mein Zelt ab und stärkte mich mit einen ausgedehnten Frühstück im Roadside- Cafe. Ich war der einzige Gast, und die Dame am Tresen war gesprächiger als am Vortag. Bis Tonapah, einer kleinen, ehemaligen Minenstadt, in der heute das Militär aus der nahen Luftwaffenbasis die Haupteinnahmequelle bildete, dürfe ich keine Zivilisation erwarten. Das war mehr als eine Tagesetappe entfernt. Der auf der Karte eingezeichnete Ort „Warm Springs“ sei schon lange eine Geisterstadt; dort gäbe es lediglich Wasser und eine Telefonzelle. Ich liess mir noch einmal eine Tasse Kaffee nachschenken und bedankte mich für die nette Aufnahme im Ort.

Es war noch angenehm kühl, als ich mich in den Sattel schwang. Gleich zu Beginn gab's eine lange gerade Strecke und die Strasse verengte sich bis zu einem Punkt am Horizont. Die Wüstenlandschaft bot hier wenig Abwechslung: Immer gleiche, spärlich in der Ebene verteilte Büsche und Kakteen beidseitig der Strasse. Was ich zuerst als mühsam empfand, dieses Gefühl wie an einer Stelle zu treten, wandelte sich aber allmählich zu einem eigentümlichen Wohlempfinden. Ich fand einen gleichmässigen Tritt, und die monotone Kulisse versetzten mich in eine Trance. Mein Pedalen und die Funktion meiner Muskeln nahm ich wie aus einer Entfernung war, ähnlich wie ein Autofahrer die Arbeit des Motors.
Aus diesem nicht unangenehmen Geisteszustand konnte und musste ich mich gelegentlich mit viel Willenskraft lösen, um zur Wasserflasche und zu Verpflegungshäppchen zu greifen. Austrocknen wie damals bei Moab wollte ich nicht noch einmal. In der trockenen Hitze verdunstete der Schweiss in Sekundenschnelle. An jenem Tag muss ich alles inklusive mehr als 10 Liter getrunken haben. Diesen „Treibstoff“ entnahm ich meinem 3- Gallonen Wassertank in der vorderen linken Fahrradtasche und füllte ihn bei Bedarf in die Bidons im Rahmendreieck um. Die Tageshitze liess den Asphalt bald erbarmungslos flimmern.

Die Strasse war so angelegt, dass sie die durch Längstäler getrennten etwa 30 bis 50 km auseinander liegenden Hügelzüge in einer Geraden durchquerte. Auf den Hügeln erfolgte eine kleine Richtungsänderung. Dort war auch immer ein guter Ort zum Anhalten, sich Umsehen und die unendliche menschenleere Weite geniessen. Dabei erspähte ich auch einmal ein paar Mustangs. In Rachel hatte ich mich auch nach der Tierwelt erkundigt, und von den scheuen Pferden war dabei auch die Rede gewesen. Es sei rar, dass man sie zu Gesicht kriege. Mit meinem lautlosen Fahrrad hatte ich da einen gewissen Vorteil...

Autos kreuzten mich so alle zwei Stunden. Ein Fahrer mit Familie hielt an und erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden. Dankbar bediente ich mich mit einer Cola aus ihrer Eisbox. Die Kinder waren wie immer neugierig und ich gab breitwillig Auskunft. Vielleicht keimte beim einen oder anderen dabei ein Bubentraum. Frisch gestärkt schwang ich mich wieder auf meinen Ledersattel und suchte aufs neue meinen Rhythmus. Eine kleine Windhose, die in etwa hundert Metern Entfernung den Wüstenstaub anhob, begleitete mich ein Stück lang und drehte wieder ab.

Von der Bardame in Rachel wusste ich, dass sich atomare Testgelände und Luftwaffenbasen in der Gegend befanden. Die UFO- Sichtungen hatten vielleicht auch damit zu tun, dass die Amis dort ihre neuen Flugzeugtypen testeten. Ich stellte mir diese geheime Testzentren vor, Dutzende von Meilen abseits der Strasse, von den Hügelzügen abgedeckt und gut abgeschirmt. Die weite, eintönige Wüste entlang der Strasse gab nichts davon preis.

Mitten in der Wüste war auf der Karte die Geisterstadt "Warm Springs" eingetragen, von der auch schon in Rachel die Rede gewesen war. Eigentlich hatte ich eine längere Tageswegstrecke eingeplant, fühlte mich aber jetzt müder als auch schon. Als Etappenort tönte „Warm Springs“ überdies verlockend. Nebst einem vernagelten ehemaligen Cafe mit der erwähnten immer noch funktionierenden Telefonzelle war dort nur die ehemalige Thermalquelle an Gebäuden übrig. Alle anderen Bauten waren wohl einst Wohnwagen gewesen oder vom Zahn der Zeit schon eingeebnet worden. Ziemlich müde und staubig kam ich also in dieser kleinen Geisterstadt an. Ein steinalter Volvo mit zwei Zelten hinter dem Cafe kündigten an, dass schon jemand anderes auf die Idee gekommen war, hier zu verweilen. Auf meine Nachbarn war ich gespannt.

Zuerst wollte ich aber die Thermalquelle ausprobieren. Die Anlage bestand aus einem kleinen Haus, das offenbar einmal Umkleideräume, Toiletten und einen Materialraum beherbergt hatte, und einem einfachen, ca. 12 m langen Pool, das verlockend in der etwas kühleren Abendluft dampfte. An einem Ende hatte sich das Wasser einen eigenen Weg aus dem Becken gesucht, der Zufluss funktionierte offenbar noch gut. Ein löchriger Maschendrahtzaun und ein uralter Hinweis auf "private property- no trespassing" hatte seine einst abschreckende Wirkung längst verloren. In den Überresten einer alten Umkleidekabine stieg ich in meine Badehosen und musste mich dabei vor Glasscherben in acht nehmen. Am Bassinrand entledigte ich mich meiner Fahrradschuhe.
Dann kam der lang ersehnte Moment:. Ich tauchte ins Becken ein und liess mich auf den Grund gleiten, genoss das wohlig warme Gefühl des Thermalwassers und kam erst wieder hoch, als mir die Luft ausging. Dann streckte ich Arme und Beine aus und entspannte meine schmerzenden Glieder. Als Kulisse bot der Sonnenuntergang über der Wüste ein einzigartiges Schauspiel. Es war in jenem Moment der Himmel auf Erden. Ich wusch mir den Staub vom Körper und tauchte langsam auch mit meinen Gedanken in eine eigene Welt ein.

Kindergeschrei riss mich nach einer Weile aus meinen Träumereien. Eine kleine Schar bahnte sich den Weg durch den Zaun. Zwei Buben und ein Mädchen so zwischen 7 und 13, wie ich vermutete, von dunkelbrauner Hautfarbe mit pechschwarzen Haaren. Sie musterten mich ebenso gründlich wie ich sie.
"Are you the one who came here by bicycle?" Ich bejahte, und das Gespräch war eröffnet. Sie deponierten ihre Tücher, und bald schon war ich von kreischenden und prustenden Kindern umringt. Behände wie Fische umkreisten mich ihre klitschigen Leiber. Wir schwammen um die Wette und spielten Fangen. Die lebhafte Gesellschaft tat mir gut, auch wenn ich dazu eigentlich etwas zu müde war. In den kurzen Erholungspausen erfuhr ich, dass sie einem Indianerstamm in Alaska angehörten und dass ihre Eltern auf dem Weg zu einem "Native American Congress" in New Mexico waren. Mitten in der Wüste habe ihr Volvo vor einer Woche Motorenschaden erlitten und warte seither auf Ersatzteile. So waren diese „Eskimos“ also in der Wüste gelandet... Den Kindern behagte diese Situation sichtlich. Zuhause gab’s keine Thermalquelle, und die kleine Geisterstadt bot ihnen offenbar genug Abwechslung. Die Schule konnte sowieso warten. Ich erzählte ihnen von meinen Tourenerlebnissen, während wir uns wieder ankleideten, und bald kamen wir lebhaft diskutierend beim kleinen Zelt ihrer Eltern an. Diese begrüssten mich freundlich, und ich wurde ohne Umschweife zum Abendessen eingeladen, wobei ich auch meinen Teil beizutragen hatte.

Die Familie hatte genügend Vorräte dabei, und wenn etwas mal ausging, liessen sie sich auch mal von Durchreisenden aushelfen. Heute gab’s Bohneneintopf aus der Dose. Ich fügte dem als Vorspeise zwei Dosen Sardinen hinzu.
Offenbar konnten sie es sich nicht leisten, den Wagen abschleppen zu lassen und so hatte sich die Indianerfamilie so gut es ging mit den misslichen Umständen arrangiert.
Während die Kinder nach und nach in ihrem Zelt verschwanden, diskutierten ich mit den Eltern noch lange über das Reiseleben, meine Herkunft und die Indianerpolitik in den USA und staunten über den wunderbaren Nachthimmel über der Wüste Nevadas. Im Zelt musste ich noch lange über diese eigentümliche Begegnung in der Wüste nachdenken.
Am anderen Morgen überliess ich der Familie meine Zahnpaste. Der ältere Knabe übergab mir einen Brief an einen Schulkollegen; ich solle ihn doch beim nächsten Postamt einwerfen. Ich hinterliess ihnen meine Adresse, habe aber leider seither nie mehr von ihnen gehört.

[ 11.05.2002, 13:05: Beitrag editiert von: markus ]

 

Schön geschrieben, allerdings fehlt mir so ein bißchen eine abschließende Wendung. Irgendetwas, das diesen Text zu einem sinnvollen Ende bringt, eine Wendung, ie Ankunft des Abschleppwagens beispielsweise oder der Entschluß des Protagonisten, mit der Familie weiterzureisen. Nichts ernsthaft spektakuläres, aber etwas, das den Text "rechtfertigt". Vom Stil her gefällt er mir sehr gut: einfach und beaschaulich, aber doch spannend genug, um bis zum Ende zu lesen.
Lieben Gruß,

chaosqueen :queen:

 

Hab Dank für deine Rückmeldung.

Der Text ist tatsächlich nichts Abgeschlossenes. Ich bin dabei, Bruchstücke einer langen Fahrradtour durch die USA, die ich 1990 unter die Räder genommen habe, niederzuschreiben.
"Warm Springs" ist so ein Bruchstück, und das dringt am Anfang und am Ende durch. Es fehlt tatsächlich so etwas wie eine Pointe oder Schlussklammer für diese Episode. Der Gedanke mit dem Abschleppwagen gefällt mir.

"Kolekole" ist übrigens auch eine solche Episode, wobei beide nicht als Autobiographie verstanden werden sollen.

Ich baue auch Erfahrungen und Erlebnisse ein, die von anderen Personen stammen oder chronologisch so nicht stimmen würden. Auch versuche ich, mich von der Erzählperson (eine Person auf der Schwelle zum Erwachsenen, wie ich sie damals auch war) zu distanzieren, was mir vielleicht nicht immer so gut gelingt, ich bin selber immer noch zu fest mit drin, wie mir scheint...

Vielleicht kennst du Steinbecks "Travel with Charlie", das hat mich inspiriert. Überhaupt finde ich, das Reiseerzählungen und Entwicklungsgeschichten gut zueinander passen. (z.B. A. Garland, The Beach)
Ich weiss aber nicht, ob das Ganze genug hergibt für einen Entwicklungsroman.
En liebe Gruess:
markus

 

Klasse geschrieben. Manchmal würde ich gerne mehr erfahren, so z.B. beim Gottesdienst im Trailer. Solltest Du ruhig fortsetzen!

Gruss Niko

 

Hab Dank für die Rückmeldung. Ich werde mich mal dransetzen und dieses Stück etwas überarbeiten.

Aber erst einmal muss ich meine Klasse ins Skilager führen und dann zwei Wochen Militärdienst, d.h. praktisch drei Wochen kg.de Abstinenz.

Hebets guet.
markus

 

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