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Waren Sie nicht eben noch brünett?
"Waren Sie nicht eben noch brünett?" 'Ertappt' sprechen ihre Augen, doch ihr Mund sagt: "Aber brünett zu sein ist doch illegal."
'Illegal? Was zum Teufel...' Doch sie hat recht. Ich hätte schwören können, dass die Haarfarbe für mich bis vor wenigen Sekunden keinerlei tiefergehende Bedeutung gehabt hatte, außer vielleicht bei der Einstufung der Attraktivität einer Frau.
Die Augen der Verkäuferin haben mittlerweile von 'ertappt' auf 'misstrauisch' umgeschaltet. Ich gehe lieber, jetzt fühle ich mich ertappt. Diese Bemerkung war gefährlich. Sie könnte mich verpfeifen, die Judenschlampe. Judenschlampe? Nochmals: Was zum Teufel... Ich verlasse die Bäckerei hastig und verwirrt.
Ich gehe die Straße entlang, doch sie ist jetzt viel breiter als zuvor. Die Straßenbauer haben anscheinend in den drei Minuten, die ich in der Bäckerei verbracht habe, gute Arbeit geleistet. Doch andererseits weiß ich natürlich, dass die Straße schon immer so ausgesehen hat. Die Häuser wirken, als hätte es einen Architekturwettbewerb zum Thema 'Albert Speer' gegeben. Rillige, monströse Säulen vor jedem Hauseingang. Sinnentleerte, seelen- und scheinbar endlose Fensterfronten in perfekter Symmetrie; Brechreiz erzeugende Uniformität mit Hang zum Größenwahn. Wie zur Bestätigung der passende Anblick, als ich um die Ecke biege: Hakenkreuzfahnen zieren ein Gebäude, hängen an Masten, die wie erigierte Penisse aus der Fassade ragen. Stimmt ja, wir haben den Krieg gewonnen. Was machen da nur diese Bilder in meinen Kopf von zertrümmerten Großstädten, von Schutt, verzweifelten Schreien und gelenkig verrenkten Leichen?
Ich muss von der Straße, ich fürchte das, was in mir tobt, könnte nach außen dringen. Glücklicherweise ist die Verwirrung noch so groß, dass sie die Furcht, die unter ihr lauert, noch an allen Stellen sauber überdeckt. Da, ein Restaurant. Ich gehe hinein, auf der Suche nach Ruhe und einem Cognac. Doch ich rieche, dass die meisten Fressrinnen schon besetzt sind. Da ist noch etwas frei neben einem mächtigen Eber. Aber der Platz ist nicht ohne Grund unbesetzt, denn der Eber verströmt den Geruch von Kampfbereitschaft. Sind ja auch genügend Säue da, die eine solche Vorstellung durchaus zu schätzen wüssten. Meine Hauer sind mindestens ebenso groß wie seine; ich fürchte eine Herausforderung nicht, sie würde mich zumindest vom Summen in meinem Kopf ablenken. So stelle ich mich zu ihm. In der Rinne sind vergorene, matschig verschimmelte Früchte. Mir wären Schlachtabfälle ja lieber gewesen, aber ich habe keine Wahl. Wider Erwarten grunzt er mir nur eine nicht mal unfreundliche Begrüßung zu, ich grunze ebenso höflich zurück und mache mich über meine Früchte her.
'Kein Besteck', denke ich und blicke ungläubig auf meine paarigen Hufe. Mich drängt es schon wieder zur Flucht. Die Furcht hat sich mittlerweile schon ein paar Plätzchen in den oberen Etagen meines Bewusstseins ergattert. Auf der Straße: Holzkarren und fahrradähnliche Dreiräder. Es wird immer voller auf den Straßen, seit diese Dreiräder in Mode gekommen sind. Aber es gibt auch noch genügend Fußgänger, die sich blicklos an mir vorbeidrängen. Ein Weibchen kommt mir entgegen. Seine Schuppen glänzen in der prallen Mittagsonne irisierend, opalisierend, wie auch immer. Verführerisch wippt sein Schwanz beim Gehen hin und her, hin und her. Als es näher kommt, gleitet seine gespaltene Zunge kurz aber deutlich aus einer spitzen Schnauze, nimmt freundlich meine Witterung auf. Hätte sie Lippen gehabt, wäre das ein Lächeln gewesen.
Ich wage nicht an mir herunter zu sehen, doch ist das auch nicht nötig, denn ich fühle meinen eigenen schuppigen Schwanz hinter mir wippen, wenn auch bei weitem nicht so elegant, wie bei dem Weibchen.
"Furcht", so hatte unser Brutvater damals im Nest gesagt, während er drohend vor uns auf und ab marschierte, "vermag es letztendlich immer, sich gegen alle anderen Gefühle durchzusetzen, wenn man es nicht schafft, sie niederzuringen. Welches Mittel man dafür einsetzt ist letztendlich egal: Mut, Schlauheit, Wut oder Gelassenheit. Man muss nehmen, was noch an Gefühlen da ist". Mit diesen Worten hatte er einem meiner Geschwister, das trotzig seinem Blick stand gehalten hatte, den Kopf abgebissen. Trotz war wohl keins von den Gefühlen, die gegen die Furcht halfen. So oder so ähnlich wollte er diese Lektion wohl verstanden wissen. Mein alter Herr hatte schon so seine Eigenheiten.
Doch wer war der freundliche, wenn auch müde wirkende Mittvierziger in meinem Kopf, der, wenn er mir eine Freude machen wollte, unseren in die Jahre gekommenen Volvo Kombi aus der Garage geholt hatte und mit mir zum Fußballplatz fuhr, und der als Belohung für seine Mühe, ein guter Vater sein zu wollen, von mir bis zu seinem Tode nie erfahren hatte, dass er sich damit selbst jedes Mal eine deutlich größere Freude gemacht hatte, als mir?
Noch immer fällt mir nichts Besseres als Flucht ein; so erhebe ich mich in die Lüfte, fühle die Luft unter meinen Schwingen. Ich lasse mich treiben, spüre einen Aufwind und nutze ihn in Spiralen kreisend um immer höher zu steigen. Ich verlasse den Aufwind und gleite auf den unsichtbaren Linien dahin, die den Weg nach Süden zeigen. Trotz der Qualen, die meinen Geist martern, genieße ich den Flug; davon habe ich schon immer geträumt: fliegen zu können. Doch schon meldet sich eine Stimme in mir, flüstert mir ungefragt zu: 'Die Fähigkeit zu Fliegen ist dir angeboren, wie kannst du von etwas träumen, das du schon immer konntest?'.
"Nein", schreie ich, doch aus meinem Schnabel kommt nur ein schriller, klagender Laut, der um die ganze Welt zu gehen scheint. Ich steige weiter, bin immer noch auf der Flucht. Doch wie schön die Welt unter mir ist. Wie vielfältig der bunte Reigen der Schwingungen durch mein substanzloses Selbst fährt. Von den Meter langen Bergen und Tälern, auf denen ich sanft reite, bis hin zu dem nervösen Gigahertzstakkato, das unfassbar eilig vorbeihuscht. Ich möchte nach einer unglaublich gleichförmigen Sinuswelle greifen, doch da ist nichts außer der erstaunlichen Erkenntnis, keinen Körper zu haben. Ich schicke die Botschaft hinaus, auf allen Frequenzen: "Wo ist mein Körper?". Doch die Wesen, die mich umgeben, die mit mir diese unbegreifliche entstofflichte Existenz teilen, antworten mit unwilligem infrarotem Brummen und mit nadelspitzen Impulsen, die ihr Unverständnis und ihren Ärger bezeugen.
Ruhe ist in mich eingekehrt. Ich flüchte nicht mehr. Die Furcht, eh nur noch ein "hot spot" aus energiereicher, aus Millionen verschiedener Wellenlängen bestehender Strahlung hat keine Macht mehr über mich. Ich sehe (ha, von wegen!) den jungen Mann vor mir, der den Wasserwerfern trotzig ein "Atomkraft, nein danke"-Schild entgegen hält. "Heil Hitler", denke ich und rieche die aphrodisiakumgesättigten Ausdünstungen einer läufigen Sau, die ihre Pheromone Lügen straft und laut quiekend meine Begattung auf offener Straße missbilligend kommentiert. Was wird kommen, was war gewesen? War etwas von all den widersprüchlichen Erinnerungen überhaupt gewesen? Und was ist mit dem Hier und Jetzt? Was ist der gemeinsame Nenner, der mein 'Ich' ausmacht? Ich bin ich, und ich erwarte gelassen die nächste Wandlung.