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Waren Sie nicht eben noch brünett?

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10.09.2001
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Waren Sie nicht eben noch brünett?

"Waren Sie nicht eben noch brünett?" 'Ertappt' sprechen ihre Augen, doch ihr Mund sagt: "Aber brünett zu sein ist doch illegal."

'Illegal? Was zum Teufel...' Doch sie hat recht. Ich hätte schwören können, dass die Haarfarbe für mich bis vor wenigen Sekunden keinerlei tiefergehende Bedeutung gehabt hatte, außer vielleicht bei der Einstufung der Attraktivität einer Frau.

Die Augen der Verkäuferin haben mittlerweile von 'ertappt' auf 'misstrauisch' umgeschaltet. Ich gehe lieber, jetzt fühle ich mich ertappt. Diese Bemerkung war gefährlich. Sie könnte mich verpfeifen, die Judenschlampe. Judenschlampe? Nochmals: Was zum Teufel... Ich verlasse die Bäckerei hastig und verwirrt.

Ich gehe die Straße entlang, doch sie ist jetzt viel breiter als zuvor. Die Straßenbauer haben anscheinend in den drei Minuten, die ich in der Bäckerei verbracht habe, gute Arbeit geleistet. Doch andererseits weiß ich natürlich, dass die Straße schon immer so ausgesehen hat. Die Häuser wirken, als hätte es einen Architekturwettbewerb zum Thema 'Albert Speer' gegeben. Rillige, monströse Säulen vor jedem Hauseingang. Sinnentleerte, seelen- und scheinbar endlose Fensterfronten in perfekter Symmetrie; Brechreiz erzeugende Uniformität mit Hang zum Größenwahn. Wie zur Bestätigung der passende Anblick, als ich um die Ecke biege: Hakenkreuzfahnen zieren ein Gebäude, hängen an Masten, die wie erigierte Penisse aus der Fassade ragen. Stimmt ja, wir haben den Krieg gewonnen. Was machen da nur diese Bilder in meinen Kopf von zertrümmerten Großstädten, von Schutt, verzweifelten Schreien und gelenkig verrenkten Leichen?

Ich muss von der Straße, ich fürchte das, was in mir tobt, könnte nach außen dringen. Glücklicherweise ist die Verwirrung noch so groß, dass sie die Furcht, die unter ihr lauert, noch an allen Stellen sauber überdeckt. Da, ein Restaurant. Ich gehe hinein, auf der Suche nach Ruhe und einem Cognac. Doch ich rieche, dass die meisten Fressrinnen schon besetzt sind. Da ist noch etwas frei neben einem mächtigen Eber. Aber der Platz ist nicht ohne Grund unbesetzt, denn der Eber verströmt den Geruch von Kampfbereitschaft. Sind ja auch genügend Säue da, die eine solche Vorstellung durchaus zu schätzen wüssten. Meine Hauer sind mindestens ebenso groß wie seine; ich fürchte eine Herausforderung nicht, sie würde mich zumindest vom Summen in meinem Kopf ablenken. So stelle ich mich zu ihm. In der Rinne sind vergorene, matschig verschimmelte Früchte. Mir wären Schlachtabfälle ja lieber gewesen, aber ich habe keine Wahl. Wider Erwarten grunzt er mir nur eine nicht mal unfreundliche Begrüßung zu, ich grunze ebenso höflich zurück und mache mich über meine Früchte her.

'Kein Besteck', denke ich und blicke ungläubig auf meine paarigen Hufe. Mich drängt es schon wieder zur Flucht. Die Furcht hat sich mittlerweile schon ein paar Plätzchen in den oberen Etagen meines Bewusstseins ergattert. Auf der Straße: Holzkarren und fahrradähnliche Dreiräder. Es wird immer voller auf den Straßen, seit diese Dreiräder in Mode gekommen sind. Aber es gibt auch noch genügend Fußgänger, die sich blicklos an mir vorbeidrängen. Ein Weibchen kommt mir entgegen. Seine Schuppen glänzen in der prallen Mittagsonne irisierend, opalisierend, wie auch immer. Verführerisch wippt sein Schwanz beim Gehen hin und her, hin und her. Als es näher kommt, gleitet seine gespaltene Zunge kurz aber deutlich aus einer spitzen Schnauze, nimmt freundlich meine Witterung auf. Hätte sie Lippen gehabt, wäre das ein Lächeln gewesen.
Ich wage nicht an mir herunter zu sehen, doch ist das auch nicht nötig, denn ich fühle meinen eigenen schuppigen Schwanz hinter mir wippen, wenn auch bei weitem nicht so elegant, wie bei dem Weibchen.

"Furcht", so hatte unser Brutvater damals im Nest gesagt, während er drohend vor uns auf und ab marschierte, "vermag es letztendlich immer, sich gegen alle anderen Gefühle durchzusetzen, wenn man es nicht schafft, sie niederzuringen. Welches Mittel man dafür einsetzt ist letztendlich egal: Mut, Schlauheit, Wut oder Gelassenheit. Man muss nehmen, was noch an Gefühlen da ist". Mit diesen Worten hatte er einem meiner Geschwister, das trotzig seinem Blick stand gehalten hatte, den Kopf abgebissen. Trotz war wohl keins von den Gefühlen, die gegen die Furcht halfen. So oder so ähnlich wollte er diese Lektion wohl verstanden wissen. Mein alter Herr hatte schon so seine Eigenheiten.

Doch wer war der freundliche, wenn auch müde wirkende Mittvierziger in meinem Kopf, der, wenn er mir eine Freude machen wollte, unseren in die Jahre gekommenen Volvo Kombi aus der Garage geholt hatte und mit mir zum Fußballplatz fuhr, und der als Belohung für seine Mühe, ein guter Vater sein zu wollen, von mir bis zu seinem Tode nie erfahren hatte, dass er sich damit selbst jedes Mal eine deutlich größere Freude gemacht hatte, als mir?

Noch immer fällt mir nichts Besseres als Flucht ein; so erhebe ich mich in die Lüfte, fühle die Luft unter meinen Schwingen. Ich lasse mich treiben, spüre einen Aufwind und nutze ihn in Spiralen kreisend um immer höher zu steigen. Ich verlasse den Aufwind und gleite auf den unsichtbaren Linien dahin, die den Weg nach Süden zeigen. Trotz der Qualen, die meinen Geist martern, genieße ich den Flug; davon habe ich schon immer geträumt: fliegen zu können. Doch schon meldet sich eine Stimme in mir, flüstert mir ungefragt zu: 'Die Fähigkeit zu Fliegen ist dir angeboren, wie kannst du von etwas träumen, das du schon immer konntest?'.
"Nein", schreie ich, doch aus meinem Schnabel kommt nur ein schriller, klagender Laut, der um die ganze Welt zu gehen scheint. Ich steige weiter, bin immer noch auf der Flucht. Doch wie schön die Welt unter mir ist. Wie vielfältig der bunte Reigen der Schwingungen durch mein substanzloses Selbst fährt. Von den Meter langen Bergen und Tälern, auf denen ich sanft reite, bis hin zu dem nervösen Gigahertzstakkato, das unfassbar eilig vorbeihuscht. Ich möchte nach einer unglaublich gleichförmigen Sinuswelle greifen, doch da ist nichts außer der erstaunlichen Erkenntnis, keinen Körper zu haben. Ich schicke die Botschaft hinaus, auf allen Frequenzen: "Wo ist mein Körper?". Doch die Wesen, die mich umgeben, die mit mir diese unbegreifliche entstofflichte Existenz teilen, antworten mit unwilligem infrarotem Brummen und mit nadelspitzen Impulsen, die ihr Unverständnis und ihren Ärger bezeugen.


Ruhe ist in mich eingekehrt. Ich flüchte nicht mehr. Die Furcht, eh nur noch ein "hot spot" aus energiereicher, aus Millionen verschiedener Wellenlängen bestehender Strahlung hat keine Macht mehr über mich. Ich sehe (ha, von wegen!) den jungen Mann vor mir, der den Wasserwerfern trotzig ein "Atomkraft, nein danke"-Schild entgegen hält. "Heil Hitler", denke ich und rieche die aphrodisiakumgesättigten Ausdünstungen einer läufigen Sau, die ihre Pheromone Lügen straft und laut quiekend meine Begattung auf offener Straße missbilligend kommentiert. Was wird kommen, was war gewesen? War etwas von all den widersprüchlichen Erinnerungen überhaupt gewesen? Und was ist mit dem Hier und Jetzt? Was ist der gemeinsame Nenner, der mein 'Ich' ausmacht? Ich bin ich, und ich erwarte gelassen die nächste Wandlung.

 

Servus Ierato,

irgendwie hab ich die Geschichte mit Interesse gelesen, obwohl sie sehr, wirklich sehr verwirrend ist. Kam mir so vor, wie wenn man in der Nacht etwas träumt, womit man nach dem Aufwachen nichts anfangen kann, obwohl man mitgerissen war vom Geschehen.

So gings mir persönlich beim Lesen. Vom Stil her hat's mir zugesagt vielleicht deshalb.

die wie erigierte Penisse aus der Fassade ragen.

das ist meine persönliche Geschmackssache. Ich bin schon sowas von "oversexed" von der modernen Literatur, daß ich derlei schon irgendwie augenverdrehend zur Kenntnis nehme. Kaum ein moderner Roman kommt mehr ohne Vergleich mit Penissen, Vaginas, Samenergüssen, etc. aus, obwohl die Szene rein gar nichts mit Erotik zu tun hat. Vielleicht hatten die Fahnenstangen die Form von Penissen, dann sollte man das aber auch so schreiben. Aber wie gesagt, meine persönliche Geschmackssache.

gelenkig verrenkten Leichen?
gelenkig hat für mich die Bedeutung von "leicht beweglich" "geschickt in der Bewegung". Leichen mit verenkten Gelenken, vielleicht.

Eins noch:

'Keine Besteck'

Kein Besteck, oder????

Sehr verwirrend die Geschichte, aber gut.

liebe Grüße

Echnaton

 

Auch ich habe nicht ganz verstanden, worum es geht. Aber interessant ist die Geschichte allemal. Hier mein Versuch:

Die Geschichte beginnt direkt mit zwei Verwandlungen. Die Verwandlung der Verkäuferin von einer Illegalen (Brünetten) in eine Legale, so nimmt es jedenfalls der Protagonist wahr. Und die geistige Verwandlung des Protagonisten, für den es auf einmal mehr als bloß eine optische Rolle spielt, welche Haarfarbe eine Frau hat. Verwundert nimmt er seine Verwandlung wahr, und kann kaum glauben, dass er rassistische Gedanken hat. Zudem fürchtet er durch eine unbedachte Bemerkung denunziert werden zu können. Also geht er.

Dies erinnert sofort an die Nazi-Zeit. Rassistisches, antisemitisches Gedankengut und starke Oppression. Erstaunlich ist dabei, wie schnell sich der P. in der „neuen“ Welt zurecht findet. Er wundert sich über seinen Rassismus, passt sich dennoch aber schnell an und wehrt sich nicht gegen die bestehende Ordnung.

Auch äußerlich hat sich seine Welt verändert, jedenfalls nimmt er sie anders wahr. Die Gebäude entsprechen dem Stil Albert Speers. Er beschreibt sie so: „Sinnentleerte, seelen- und scheinbar endlose Fensterfronten in perfekter Symmetrie; Brechreiz erzeugende Uniformität mit Hang zum Größenwahn.“ Dazu noch das Hakenkreuz als Zeichen für den Nationalsozialismus. Der P. erinnert sich daran, dass der Krieg gewonnen wurde. Die Bilder von Zerstörung und Tod kann er aber nicht so richtig einordnen.

Mit dem Hakenkreuz und dem wichtigsten Architekten Hitlers, Albert Speer, beschwört der Autor weiter Bilder aus der Nazi-Zeit herauf. Gut gemacht ist die Beschreibung der Gebäude, die auch gleichzeitig an den Wahn Hitlers erinnert. Das weckt Bilder.

Immer noch ist der P. verwirrt und fürchtet wegen seiner ketzerischen Gedanken entdeckt zu werden. Er betritt ein Restaurant, um sich zu beruhigen. Dort entdeckt er einen „mächtigen Eber“ und viele Säue. Dieser Eber strahlt Aggressivität aus. Doch auch der P. besitzt Macht und muss sich daher nicht verstecken. So nimmt er ohne Zwischenfall sein Mahl, verschimmelte Früchte, zu sich.

Die Schweine erinnern mich an „Farm der Tiere“. Auch dort haben Schweine die hohen Positionen inne. Sicherlich keine schlechte Wahl. Der mächtige Eber ist in meiner Vorstellung so etwas wie ein Offizier oder ähnliches. Die Säue die Frauen, die Uniformierte so umgarnen. Überraschend, auch der P. besitzt eine gewisse Macht, hat also eine etablierte Position inne.

Er möchte flüchten, fühlt sich nicht wohl. Die Furcht verdrängt nun die Verwirrung. Sie nimmt ihm die Kraft für Reflexion. Er flirtet mit einem Weibchen.

Immer mehr passt sich der P. der Ordnung an, nimmt sogar Kontakt auf zu seiner Umgebung.

Nun wird die Geschichte etwas wirr. Der P. erinnert sich daran, dass ihm sein Brutvater beigebracht hatte, dass man gegen Furcht ankämpfen müsse, da sie jegliche Tugend niederringe. Er fragt sich, wer sein Vater war. Erkennt, dass er ihn nie richtig gekannt hatte.
Er fliegt und flüchtet so endlich. In den Süden. Er hatte immer vom Fliegen geträumt. Und fragt sich plötzlich, warum er von Dingen träumt, die er tun kann. Das möchte er nicht wahrhaben, so schreit er auf. Auf der Flucht entdeckt er die Schönheit der Welt und erkennt, dass er keinen Körper hat. Er möchte wissen, warum. Findet bei seinesgleichen doch keine Antwort.
Nun hat er endlich Ruhe erlangt. Ein protestierender Mann. Und eine Sau, die er begattet. Er fragt nach der Vergangenheit und nach der Zukunft. Nach der Gegenwart. Die Fragen führen zur Frage, was ihn ausmache. „Ich bin ich, und ich erwarte gelassen die nächste Wandlung.“

Ist er ein Vogel? Ein Vogel kann fliegen und wird so mit Freiheit in Verbindung gebracht. Hat er vergessen, dass er frei ist? Jedenfalls versucht er die Furcht durch Flucht zu überwinden. Erkennt hierbei, dass sein Körper nicht wichtig ist. Und findet Ruhe.
Der Körper könnte für die äußerliche Schale stehen. D.h. er gelangt zur Erkenntnis, dass jegliche äußerliche Veränderung unwichtig sei. Die Essenz ist, dass er immer er selbst bleibt, ganz egal, wie sich die Welt um ihn herum verändert. Und daher ist es ihm zum Schluss möglich, gelassen die nächste Wandlung zu erwarten.

Ich bin mir nicht sicher, ob Du das sagen wolltest. Die Nazi-Zeit also als Extrem-Beispiel für eine äußerliche Wandlung, der man sich furchtlos als sich selbst stellen soll?
Wenn das so ist, dann wäre eine Überarbeitung des Schlussteils angebracht, da der nicht sehr verständlich ist. Besonders bildet er einen Bruch. Man findet nicht so recht die Verbindung zum ersten Teil. Von der Erinnerung an den Vater an fliegst Du mit dem P. mit, so dass man Dir nur schwer folgen kann.

Also, Lerato, liege ich völlig daneben?

 

@Zaza: Könntest du den von dir erwähnten Bruch zum Schlussteil hin mal erläutern?
Wenn ich mir die Geschichte jetzt so durchlese, bin ich selbst etwas verwirrt. Deswegen kommt eine ausführliche Antwort etwas später.

 

Hallo lerato,

mir kommt die Geschichte wie ein rückwärts abgespielter Evolutionsfilm vor (es lebe das Morphing!). Die kraftvolle Sprache (obwohl ich die Penisse auch zu abgedroschen empfinde) passt zu dem Spannungszustand, den der Protagonist empfindet und in der Frage nach seinem wirklichen „Ich“ den Zusammengefaßten Höhepunkt der Geschichte findet.
Hat mir echt gut gefallen, gute Idee.

Tschüß... Woltochinon

 

Soooooo, ich nehme mir jetzt die Zeit (aber dann die ausführliche Antwort, ja?):

Der Bruch. Die erste "überraschende" Wendung geschieht, wenn vom "Brutvater" die Rede ist. Erstens erwartet man den nicht. Zweitens ist das eine Erinnerung. Drittens ist es eine persönliche Erinnerung. Von da an wird also der Protagonist fokussiert. Davor eher seine Umwelt.
Und dann geht es immer tiefer in den P. hinein. So tief, dass ich gar nicht mehr so mitkomme.
Das ist es wohl, was ich meine. Seine Umwelt - sein Inneres. Es wird wohl seinen Sinn haben.

Hilfst Du mir nun?

 

Hi lerato!

Irgendwie sehe ich in Deiner Geschichte einerseits eine Gesellschaftskritik, die Menschen sind Tiere, die alles nachsagen, mitmachen, die Augen verschließen; der Vater, der den Kindern seine Meinung aufzwingt und schließlich die Selbstfindung. Ich finde, es paßt auch so, weil es schon gut vorstellbar ist, daß man durch die Mängel, die man in der Gesellschaft sieht, die eigenen Mankos erkennt, und schließlich auch zu sich findet.
Aber dann paßt der letzte Absatz irgendwie nicht dazu. Wahrscheinlich hab ich sie nicht richtig gelesen...?

Und jetzt warte ich, wie Zaza, gespannt auf Deine Antwort... ;)

Doch ich rieche, dass die meisten Fressrinnen schon besetzt sind. Doch da ist noch etwas frei neben einem mächtigen Eber. Doch der Platz ist nicht ohne Grund unbesetzt, denn der Eber verströmt den Geruch von Kampfbereitschaft. Sind ja auch genügend Säue da, die eine solche Vorstellung durchaus zu schätzen wüssten. Doch meine Hauer
- Etwas viele Dochs...

mittlerer Weile
- mittlerweile

seid diese Dreiräder in Mode
- seit

müde wirkende Mitvierziger
- Mittvierziger

der den Wasserwerfen trotzig
- Wasserwerfern

der mein "ich" ausmacht
- mein "Ich"

Alles liebe
Susi

 

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