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War es das wert?
Tarik saß im Bus nach Hause und hörte Musik auf seinem Handy, als plötzlich zwei groß gebaute Männer mit kahl rasiertem Kopf auf ihn zukamen. Durch die Musik befand er sich in einem Zustand, in dem er normalerweise alles um sich herum vergessen konnte. Er fühlte sich geborgen und wohl bei den Klängen aus seiner Heimat. Mit ihr konnte er sich so gut fallen lassen und zurückversetzten, dass er sogar die Luft in den Straßen roch, die Landschaften sah und seine Familie ihm wieder nah war.
Doch in dem Moment, als er die zwei dunklen Gestalten im Augenwinkel sah, verschwand alles, als hätte sich eine Blüte vor einem gefährlichen Pflanzenfresser in Schutzposition begeben. Ihre Blicke waren leer und kühl. Sie trugen beide schwarze Jacken, schwarze Hosen und auch schwarze Stiefel. Doch ihre Haut schien für ihn blass wie Schnee.
Er fragte sich was die beiden von ihm wollten. Er konnte sich jedenfalls sicher sein, dass sie es auf ihn abgesehen hatten.
Sein Blick sank zu Boden, in der Hoffnung, die beiden würden ihr Ziel ändern. Er wollte nicht gestört werden in seiner Tagträumerei, die ihm so viel bedeutete.
Als sie beide direkt vor ihm standen, war er sich sicher, sie würden es sich nicht noch einmal anders überlegen.
„Was willst du hier? Du Dreckspack! Geh zurück in das Bergloch aus dem du gekrochen bist!“
„E-entschuldigung, ich wollen kein Stress.“
„Na guck mal, der kleine will keinen Stress. Wie wärs, wenn du dich dann einfach wieder verpisst?“
„Ich verstehe nicht.“
„Du verstehst also nicht mal Deutsch! Du scheiß Kanacke! Dir werd ich‘s zeigen!!“
Er hatte die Arschkarte gezogen. Das wurde ihm schlagartig bewusst. Die beiden waren offensichtlich zwei dieser Menschen, vor denen ihn sein Betreuer im Jugendamt gewarnt hatte. „Neo-Nazis“ hatte er gesagt, mit denen sei nicht zu spaßen und er hoffe er würde nie einem begegnen. Tarik konnte noch gerade rechtzeitig seinen Kopf mit seinen Armen umschlingen, bevor der erste Schlag auf ihn eindreschte. Er traf ihn zwar am Unterarm, doch er merkte die Erschütterung in seinem Kopf.
Er war ohne Zweifel bis zum Hals in der Scheiße gelandet und er wusste nicht wie er da wieder ohne schwere Verletzungen rauskommen würde. Auch wenn es in Mörfelden mit viel Pech verbunden war, von Neo-Nazis an helllichtem Tage verprügelt zu werden, er war augenblicklich in genau diesem Übel gelandet.
Die anderen Mitfahrer, die noch im Bus saßen taten so, als würden sie von der Sache nichts mitbekommen. Offensichtlich hatte sie die Angst paralysiert.
Der zweite Schlag traf ihn am Kiefer und ließ ein lautes knacken folgen.
Als der Bus die nächste Haltestelle anfuhr witterte er seine Chance und machte sich bereit, um der Situation gekonnt zu entkommen. Er war sehr zierlich gebaut und wartete auf den perfekten Moment, um nicht noch mehr Schläge einzustecken und einfach zwischen den beiden durch huschen zu können.
Die Haltestelle kam näher, genau wie die Schläge der beiden Glatzköpfe. Nur leider kam sie nicht so schnell wie ihre Fäuste. Der zweite, der sich bisher mit seinen Aggressionen zurück gehalten hatte und eher im Hintergrund stand, kam einen Schritt vor und zog einen Teleskopschläger aus seiner Hosentasche. Das Klicken als er den Schläger aufzog ließ Tarik glauben, es sei gleich vorbei mit ihm.
So sollte es also enden. Geflohen vor Krieg und Terrorismus, ausgebeutet, fast verhungert und verdurstet. Fünf ganze Monate auf dem Weg nach Deutschland. Nun endlich in vermeintlicher Sicherheit, vor der Gewalt in seiner Heimat und totgeschlagen von einem Paar hirnloser Extremisten im gelobten Land.
Als der eine den Teleskopschläger in die Richtung seines Kopfes schwang bemerkte Tarik, dass der Bus angehalten hatte und die Türen offen standen. Er wich zur Seite aus und der Schläger erwischte ihn am Arm. Mit der einen Hand packte er seine Tasche und quetschte sich wie ein Schlangenmensch, zwischen den beiden hindurch.
Er setzte einen Fuß vor den anderen, so gut wie es ihm von Gott gegeben war und floh aus dem Stadtbus ins Freie. Er dachte an nichts anderes mehr als an das Davonrennen und wohin er laufen konnte, um sich vor den beiden zu verstecken.
Die beiden hatten sich gerade in Richtung Tür gemacht, da war Tarik schon aus dem Bus und die Türen wurden wieder geschlossen.
Er hörte die beiden noch aus der Ferne den Busfahrer anbrüllen, er solle die Tür aufmachen, doch sie blieben zu seinem Glück an diesem Tag geschlossen.
Er schleppte sich um die nächste Häuserecke und setzte sich auf die Bordsteinkante. Er atmete schwer vor sich hin und das Blut tropfte ihm aus dem Mund auf seinen grünen Rucksack.
Er konnte seinen Kiefer nicht mehr spüren. Generell konnte er kaum etwas spüren, doch er beruhigte sich allmählich und die Schmerzen wurden stärker.
Ein Passant, der aus der ferne das Blut sah rannte auf ihn zu, als Tarik bewusstlos wurde und mit dem Kopf auf den Bordstein schlug.
Im Krankenwagen kam er halbwegs wieder zu sich und hatte nur noch eine Frage im Kopf.
War es das wert?