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Wanda
Papa und Franziska schmücken im Wohnzimmer den großen Tannenbaum. Darauf freut Franziska sich jedes Jahr besonders. Mama darf dabei nicht helfen, nicht einmal zuschauen. Schließlich soll es eine Überraschung werden.
Papa versucht die Lichterkette gleichmäßig an der Tanne anzubringen. Franziska verteilt die bunten Weihnachtskugeln. Behutsam, um keine zu zerbrechen, nimmt sie eine nach der anderen aus der Pappschachtel, fügt die kleinen Häkchen an und befestigt sie an den Zweigen. Ab und zu muss Papa sie hochheben, denn bis an die letzten Äste reichen ihre kleinen Arme nicht.
Nach und nach finden silberne und goldene Glöckchen, Strohsterne, glitzernde Zapfen und allerlei weihnachtlicher Schmuck einen Platz. Froh gelaunt singt Franziska vor sich hin: „ … macht mir auf ihr Kinder, ist so kalt der Winter …“
Plötzlich verstummt sie und sieht Papa fragend an: „Papa … hattest du Angst vor dem Weihnachtsmann?“
„Angst?“ Papa überlegt einen Augenblick, dann schüttelt er den Kopf: „Vor dem Weihnachtsmann nicht, aber vor der Wanda!“
„Die hat dir wohl die Weihnachtsgeschenke gebracht?“
Papa lacht: „Nein … Wanda war kein Weihnachtsmann.“
Franziska runzelt die Stirn und fragt: „Dann war sie bestimmt das Christkind?“
„Auch nicht!“
„Wer denn dann?“ Franziska lässt mal wieder nicht locker. Jetzt hat Papa sie neugierig gemacht.
„Ja … also … die Wanda wohnte in dem kleinem Haus, das hinter unserem Dorfteich stand“, erklärt Papa und versucht angestrengt, den verflixten Knoten aus der Lichterkette zu lösen.
„Aha! Und die war böse zu dir?“
Papa schüttelt heftig den Kopf: „Nein, das war sie nicht!“
Das versteht Franziska überhaupt nicht.
„Dann erzähl es mir doch mal!“, bittet sie. Immer muss sie Papa alles aus der Nase ziehen.
Ihr Kopf verschwindet in einer großen Kiste. Es raschelt und knistert … schließlich holt sie eine goldene Girlande mit vielen klitzekleinen Sternchen hervor. Vorsichtig legt sie diese über die Zweige und läuft langsam um den Baum herum.
„Was soll ich da erzählen? Das ist schon viel zu lange her. Eigentlich fürchteten wir uns alle vor ihr. Am schlimmsten war der lange Hannes …!“
„Meinst du Melanies Papa?“, fragt Franziska.
„Ja, genau den!“ Papa fummelt an den Kerzen. Missmutig brummt er vor sich hin: „Wer hat hier bloß den Knoten hinein gemurkst …?“
„Ich war das nicht! Und Mama war da auch nicht dran!“
„Klar!“, bestätigt Papa und wippt mit dem Kopf hin und her.
„Erzähl doch bitte weiter?“, erinnert Franziska ihn.
„Ich war so alt wie du und spielte oft mit meinen Freunden am Teich. Im Sommer ließen wir unsere selbstgebauten Boote fahren, und im Winter liefen wir Schlittschuh.“
„Und was war mit der Wanda?“, fragt Franziska ungeduldig.
„Ja … die Wanda wohnte - wie ich schon sagte - in dem kleinem Hexenhaus, auf der anderen Seite. Wir dachten jedenfalls, dass es ein Hexenhaus sein muss, denn die Wanda war klein - kaum größer als wir - und hatte einen richtigen Buckel. Außerdem war es immer dunkel in ihrem Haus; nur manchmal sahen wir ein kleines schwaches Licht am Fenster.“
„Ach! Dann war sie also eine Hexe?“, fragt Franziska verwundert.
„Natürlich nicht! Aber die alten Leute im Dorf erzählten oft böse und schaurige Geschichten über sie, so dass wir Kinder dachten, sie muss wohl eine sein. Und eines Tages passierte es dann ...“
Papa hat den Knoten gelöst und die letzten Kerzen am Baum befestigt.
„Was war denn passiert?“, möchte Franziska nun unbedingt erfahren.
„Moment! Erst muss ich mal sehen, ob die Dinger hier noch alle brennen!“ Mühsam kriecht er auf allen Vieren hinter den Baum und sucht nach der Steckdose. Die Tannennadeln pieksen im Genick und rieseln in den Hemdkragen.
„Autsch … das sticht aber! Nächstes Jahr … kaufen wir einen künstlichen … Da geht alles viel besser … und schneller!“
„Bloß nicht!“, entgegnet Franziska, „bei Melanie steht auch so einer aus Gummi, und der sieht ganz doof aus.“
„Franziska!“, ermahnt Papa, „du weißt, das du so was nicht sagen sollst!“
„Das hat Melanie aber selbst gesagt!“, verteidigt sie sich, dann geht sie in die Hocke und sucht Papa unter dem Baum. „Wie lange dauert das denn noch?“
„Warte … gleich hab ich`s … jetzt … !“ Im gleichen Augenblick strahlt der Baum im vollen Lichterglanz. Franziska klatscht vor Freude in die Hände und ruft entzückt: „Es brennt … oh … ist das schööön … !“
Papa robbt vorsichtig rückwärts, um den Baum nicht umzustoßen. Dann wuselt er sich die Nadeln aus den noch verbliebenen Haaren.
Franziska beobachtet ihn und drängelt ungeduldig: „Komm, erzähl bitte weiter!“
Papa setzt sich in einen Sessel. Franziska springt auf seinen Schoß und kuschelt sich in seine Arme.
„Also gut, hör zu:
Es war an einem kalten Dezembertag. Ich glaube, es war ein paar Tage vor Weihnachten. Tagelang hatte es geschneit und draußen war es klirrend kalt. Der Teich war endlich zugefroren. Darauf hatten wir lange gewartet! Ich, der lange Hannes, mein Freund Paul und noch ein paar Kinder aus dem Dorf, wir rutschten und schlitterten über das Eis, um uns gegenseitig zu fangen. Keiner dachte daran, dass das Eis brechen könnte. Hauptsache, wir hatten unseren Spaß. Doch dann passierte es! Ich verlor das Gleichgewicht und rutschte aus. Ich krachte mit voller Wucht auf das Eis und brach ein! Mit Müh und Not konnte ich mich am Eisrand festhalten.“
Franziska hält vor Entsetzen beide Hände vor das Gesicht und schaut Papa mit weit geöffneten Augen an.
„Mir blieb vor Schreck und Kälte die Luft weg. Ich spuckte Wasser, zappelte und strampelte wie wild umher und wollte mich hochziehen, aber es gelang mir einfach nicht. Immer wieder rutschte ich ins eisige Wasser zurück!“
„Hat dir denn keiner geholfen? Der Paul ... oder der lange Hannes?“
Papa seufzt und schüttelt den Kopf: „Die anderen standen einfach da und guckten mich an, anstatt mir zu helfen. Sie waren genauso erschrocken wie ich und trauten sich keinen Schritt weiter. Langsam schlichen sie ans Ufer zurück.“
„Ja … aber … dann hast du es wohl allein geschafft?“, fragt Franziska.
„Nein! Das hätte ich nie! Was glaubst du wohl, wer mich wieder herausgeholt hat?“
Franziska hebt beide Schultern und sagt: „Weiß nicht … wer denn?“
„Die anderen hatten natürlich große Angst - nicht nur weil ich eingebrochen war - sondern, weil plötzlich die bucklige Wanda - wie aus dem Nichts – vor uns stand. Sie beobachtete uns immer, wenn wir am Wasser spielten. Aber wir hatten das nie bemerkt. Einige liefen so schnell sie konnten davon. Ich hatte vielleicht eine Angst – kann ich dir sagen -, auch vor der alten Wanda. Sie packte meine Hand und zog mich heraus. Ich hab mich selbst gewundert, woher das alte Mütterchen die Kraft nahm. Dann hat sie mich mit in ihr Haus genommen. Am warmen Ofen konnte ich erst einmal meine Sachen trocknen und sie gab mir einen heißen Tee. Sie war sehr freundlich zu mir und froh, dass ich nicht ertrunken war.
Eigentlich sah es bei ihr gar nicht aus, wie in einem Hexenhaus. Arm war sie - daran erinnere ich mich noch genau. Obwohl es fast Weihnachten war, war bei ihr nichts davon zu sehen. Nur ein paar abgebrannte Kerzen standen auf dem alten wackligen Tisch. Und plötzlich hatte ich keine Angst mehr! Warum auch – ohne sie wäre ich im Teich erfroren.“
„Dann hätte ich jetzt nicht so einen lieben Papa!“, stellt Franziska betrübt fest.
„Stimmt! Und ich hätte nicht so eine liebe kleine Tochter“, sagt Papa und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.
„Und dann?“
„Während meine Sachen trockneten, hat sie mir viel erzählt. Plötzlich verstand ich auch, warum sie so allein da draußen wohnte und keiner etwas mit ihr zu tun haben wollte. Sie hatte niemanden! Am Weihnachtstag bin ich zu ihr gegangen und habe ihr - aus Dankbarkeit - ein Geschenk gebracht. Sie war so glücklich darüber und sagte, dass es ihr schönstes Weihnachtsfest seit langer Zeit sei. Ich habe sie von da an oft besucht, und wir wurden gute Freunde. Aber das erzähle ich dir ein anderes Mal. Jetzt müssen wir noch schnell alles aufräumen, sonst kommt der Weihnachtsmann, und wir sind immer noch nicht fertig.“
Franziska betrachtet stolz den geschmückten Tannenbaum und sagt: „Glaubst du, die Wanda hätte sich über so einen schönen Baum gefreut?“
„Natürlich! Und sie hätte auch gern Kinder gehabt, die ihn so schön geschmückt hätten, wie du!“
Franziska geht zum Fenster und schaut zum Ende der Straße hinüber. Da … im letzten Haus wohnt ganz allein der alte griesgrämige Gottfried. Eigentlich ist er gar nicht so mürrisch. Ob sie ihn einmal besuchen sollte? Vielleicht kann sie ihre Freundin Melanie überreden, dass sie mitgeht. Sie könnten ihm eine Dose von den Weihnachtsplätzchen bringen, die sie mit Mama letzten Sonntag gebacken hat. Mal sehen, was Mama dazu sagt.