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Walters Begegnung

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13.06.2017
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Walters Begegnung

Die Landschaft flog vorbei. ›Ganz passabel, der ICE‹, zollte Walter der Technik seine Anerkennung. Nur ab und zu gönnte er sich einen Blick aus dem Fenster. Die Präsentation musste fertig sein, bis er in Darmstadt ankam. ›Nie ist Zeit, etwas ordentlich zu machen‹, fluchte er innerlich.
Ein wichtiger Punkt schien unklar, er musste nachdenken. Er hob den Kopf. Die bunt vorbeiziehende Landschaft fesselte ihn. Ein tief eingeschnittenes Tal, von einer einsamen Landstraße durchzogen, ein paar Wiesen, die in der Mittagssonne grün und bunt leuchteten. Gegenüber lag der Wald still im kühlen Schatten. Ruhe, Einsamkeit, fast hörte er das Rauschen des Windes, den Gesang der Vögel. Wie gerne wäre er eingetaucht in dieses verzauberte, vergessene Welt. Zu spät, ein Tunnel löschte die Sonne aus.
›Weiter, ich muss fertig werden!‹. Mühsam sammelte er seine Gedanken. Return on Investment in fünf Jahren, Steigerung der Gewinne um sieben Prozent jährlich, Abschreiben der Steuern in Übersee, das wollte der Kunde hören.
Der Zug wurde langsamer. ›Irgendwann ist die Strecke komplett ausgebaut.‹ Dieser Gedanke bedrückte ihn fast. ›Dann gibt es keine Ablenkungen und Verzögerungen mehr.‹
Kleine Dörfer und Städtchen zogen vorbei, die Dächer in Rot, typisch für Hessen. Natürlich Dachpfannen aus Beton mit Glasur, nicht die altmodischen, tönernen Biberschwänze. Jeder kräftige Sturm wehte ein paar vom Dach. Als Kind hatte er zugesehen, wie sein Vater einige Ziegel an der Eindeckung des kleinen Hauses ersetzte, das damals ihr Zuhause war. Sonst durfte er nicht auf den Dachboden klettern. Die wackelige Leiter hinauf, ein spannender Beginn, geheimnisvolle Spinnweben überall zwischen den rissigen, alten Balken. Ein totes Wespennest in einer Nische, nie gesehene Dinge, weggelegt und vergessen, kaputt, aber trotzdem voller Verheißung. Staub flimmerte silbrig im Sonnenlicht, das durch eine verschmutze Luke mit einem scharf begrenzten Strahl ein Rechteck auf die schmutzigen Dielen malte.
Die Erinnerung schmerzte. Mit sechs Jahren musste er in die Großstadt ziehen. Seinen Vater fand keinen Arbeitsplatz in Hessen. Sie verließen das idyllische Städtchen. Weg von seinen Freunden, weg von den Weiden und Wäldern, den Bächen. Keine Staudämme im Bach aus Steinen, Holz und Matsch. Keine geheime Höhle, gegraben in die Böschung. Keine frisch vom Acker stibitzten Kartoffeln, die schwarz und gar aus dem Feuer kamen, der Ruß ersetzte das Salz. Solche Abenteuer gab es nicht in der Großstadt, die ihre neue Heimat sein sollte.
Traurig hatte er durch das Heckfenster des alten Ford geblickt. Seine Heimat verschwand hinter der Straße, als sie den Hügel überquerten. Hatte er je wieder eine neue gefunden? Damals weinte er, um die Kindheit, die vorbei war, er weinte, obwohl er ein Junge war. Niemand sollte das wissen.
Ob das Haus noch stand, irgendwo in einem der namenlosen Dörfer, die vorbeizogen? Gegenüber hatte seine erste Liebe gewohnt, Regine hieß sie.
Das Knacken der Bordlautsprecher brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. »Meine Damen und Herren, eine wichtige Durchsage. Der ICE wird in wenigen Minuten außerfahrplanmäßig in Steinbachau halten. Ein- und Ausstieg sind nicht möglich. Bitte bleiben Sie an Bord. Wir bitten Sie, diese Verspätung zu entschuldigen.«
Es berührte ihn kaum, die Verspätung. Er musste erst am nächsten Morgen beim Kunden sein. Aber der Name des Ortes ließ ihn aufhorchen. Dort hatte er seine Kindheit verlebt.
Egal, er musste weiter an der Präsentation arbeiten. Wenn seine Firma den Zuschlag bekam, würde die Provision für den neuen Wagen seiner Frau reichen. Zwei ihrer Tennispartnerinnen fuhren schon ein aktuelleres Modell.
Der Zug wurde langsamer, die Bremsen quietschten, unruhig ruckelten die Wagen hin und her. Fuhren sie etwa auf ein Nebengleis? Mit einem scharfen Ruck hielt der Zug. Er klappte den Laptop zu und sah auf. Der Bahnhof zeigte sich kaum verändert. Die Farbe, die Modernität vortäuschen sollte, blätterte an vielen Stellen von den alten Klinkern ab, man erahnte sein wahres Alter. Das Städtchen selbst sah er nicht, es erstreckte sich auf der anderen Seite des flachen Tales. Laubbäume und blühende Büsche versperrten den Blick.
Nach dem Umzug als Sechsjähriger verbrachte seine Mutter mit ihm und dem kleinen Bruder Martin jedes Jahr die Sommerferien im alten Heimatort. Bei der Ankunft wurden sie von ihrer Großmutter erwartet, mit einem klapprigen Leiterwagen für den schweren Überseekoffer, der die Kleidung für sechs Wochen enthielt. Hinter dem Bahnhof führte der Weg erst etwas bergab, aber nach Überquerung des Flüsschens ging es eine ordentliche Strecke bergauf, und die Sonne stand heiß am wolkenlosen Himmel. Trotzdem gab es für ihn keinen schöneren Ort der Welt.
Manchmal, wahrscheinlich um die teure Zugfahrt zu sparen, fuhren sie bei einem freundlichen Nachbarn mit, der einen schweren Lastzug fuhr. Morgens um fünf Uhr standen sie verschlafen an der Kreuzung, mit dem großen Koffer und einem Waschkorb mit selbst gepflückten Äpfeln.
›Das ist so lange her‹, staunte er über sich selbst. ›Dass ich mich daran noch erinnere.‹
Die Erinnerungen fielen wie alte Fotos aus einem verstaubten Buch, in dem sie als Lesezeichen dienten. Leicht vergilbt, aber noch gut erkennbar, manchmal noch strahlend, so wie die mit den glitzernden Girlanden der Tautropfen, welche am Morgen des letzten Ferientages die Spinnweben an Gräsern und Zäunen schmückten. An die erinnerte er sich ganz deutlich. Und eine Ruhe lag über dem Dorf, eine Stille, die nun schon lange verloren war.
Die Kühle des Morgens im Spätsommer hatte sie frösteln lassen. Endlich ertönte aus der Ferne das tiefe Brummen des alten Lasters, unterbrochen von lauten Schaltgeräuschen. Die Straßen waren steil in diesem Teil des Ortes.
Damals empfand er die Unbequemlichkeit nicht. Sein kleiner Bruder Martin saß auf Mutters Schoss, er selbst machte es sich auf dem Getriebetunnel bequem. Ein paar Kissen halfen dabei. Die Fahrt dauerte lange, aber er bemerkte es kaum, er genoss es wie ein Abenteuer. Wenn die Waren ausgeliefert wurden, warteten sie vor dem Firmentor, aßen die belegten Brote und tranken kalten Tee. Müde erreichten sie gegen Abend den tristen Wohnblock und schleppten Koffer und Äpfel in den dritten Stock. Wochenlang nicht betreten, roch die Wohnung sonderbar, muffig und alt. In einer Ecke des Zimmers nistete eine Spinne, eine Florfliege wartete auf das Öffnen des Fensters. Die Bilder wurden unscharf, die Gedanken undeutlich.
Endlich regte sich etwas auf dem Bahnsteig. Er kehrte in die Gegenwart zurück. Zwei Angestellte der Bahn mit gelben Warnwesten untersuchten den Zug, kletterten darunter, klopften an Räder und Untergestelle. Ein dritter telefonierte mit dem Handy, offensichtlich erregt.
Er öffnete den Laptop. Der Abschnitt Personal erforderte besondere Aufmerksamkeit. Der Kunde plante eine Reduzierung um zehn Prozent, er musste Begründungen liefern. Punkt für Punkt ging er die Folien durch. Endlich passte es, nicht einmal der Betriebsrat würde viele Gegenargumente finden. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Nun stand er vor dem Aufsichtsrat und erläuterte die Maßnahmen, er stimmte sich ein in den Abgesang auf die Sozial Marktwirtschaft.
Eine Stimme schreckte ihn auf.
»Hallo, Sie.«
Irritiert öffnete er die Augen. Seit der letzten Station saß er alleine im Erste Klasse Abteil. Das half ihm, sich besser auf die Arbeit konzentrieren.
»Wo kommst du denn her? «
Ihm gegenüber saß ein kleiner Junge, etwa sechs oder sieben Jahre alt. Er baumelte lässig mit den Beinen, bis zum Teppichboden des Abteils fehlten noch ein paar Zentimeter. Unter dem schrägen Pony wurde er neugierig angesehen.
›Wer hat dir bloß diese Frisur verpasst, typischer Pottschnitt‹, dachte er mitleidig, ›na ja, wenigstens passt der Rest dazu.‹
Trotzdem, er kam ihm irgendwie bekannt vor, mit dem karierten, kurzärmeligen Hemd, der einfachen Lederhose und den Ringelsocken, die in derben Schuhen steckten. Abenteuer hatten ihre Spuren hinterlassen: Die Beine waren voller Mückenstiche und Kratzer und über das rechte Knie zog sich ein fast verheilter Schrund.
»Wo ist den deine Mutter? Du solltest schnell zu ihr gehen, vielleicht fährt der Zug gleich weiter oder wir müssen in einen Ersatzzug umsteigen. Hast du dich verlaufen?«
Statt einer Antwort fing der Junge an zu lachen. »Dein komisches Buch hat ja nur schwarze Seiten. Ist es in ein Tintenfass gefallen? Das muss aber mächtig groß gewesen sein.« Er deutete auf das vom Bildschirmschoner gelöschte Display des Laptops.
Langsam stieg der Ärger in ihm hoch, erst der kaputte ICE, und nun nervte ihn ein kleiner Junge, der offensichtlich nicht die Streichhölzer erfunden hatte.
»Komm, wir suchen deine Mutti, ich habe leider wenig Zeit. Sitzt sie hier in der ersten Klasse?«
»Nein, sie ist in Dortmund«, kam die Antwort, nun wirkte der Junge nicht mehr so unternehmungslustig.
»Na dann gehen wir eben zu deinem Vater oder wer sonst auf dich aufpasst«
»Meine Oma.«
»Und in welchen Abteil sitzt deine Oma?«, fragte er ungeduldig.
»Die sitzt zu Hause und wartet auf mich. Wir haben Sommerferien, da bin ich immer bei Omi.« Und er fügte stolz hinzu »Ich gehe schon zur Schule. Ich bin in der zweiten Klasse.«
Der Junge schwieg und musterte ihn eine Weile.
»Ich bin mit meinem Roller zum Bahnhof gefahren, er liegt da draußen auf dem Bahnsteig.« Er zeigte aus dem Fenster und wirkte jetzt sehr schuldbewusst. »Ich darf das eigentlich nicht, die Landstraße im Tal ist gefährlich, sagt Omi, wegen der Autos.«
Tatsächlich, auf dem Bahnsteig lag ein alter Holzroller, naturfarben lackiert, mit großen roten Rädern und einem aufgemalten Teddybären. Eine richtige Antiquität aus den Fünfzigerjahren. Wo hatte der Junge ihn bloß her?
Dieser sah er ihn durchdringend an »Du bist ein Lehrer, stimmt es? Du siehst so streng aus. Haben deine Schüler Angst vor dir?«
»Nein, ich bin kein Lehrer.« Er versuchte, nicht zu ungeduldig zu klingen. »Na ja, eigentlich doch, ich berate Menschen und helfe ihnen, ihre Firma richtig zu führen.«
»Dann hast du selber auch eine Firma und weißt, wie es geht, ist die groß?«
»Nein, ich habe keine Firma«, langsam wurde er ungeduldig.
»Und woher weißt du dann die Sachen, die du den Leuten erzählst?«
»Ich habe es gelernt, in einer anderen Firma.« Er wurde unsicher. »Ich kann dir das schlecht erklären, dazu bist du zu klein.«
»Das sagen Erwachsene immer, wenn sie es selbst nicht wissen.« Der Junge lachte leise.
»Lehrer werde ich nie! Ich mag die Sterne, die Sonne und den Mond. Und wenn ich groß bin, habe ich ein riesengroßes Fernrohr und entdecke einen Kometen.«
Das hatte er selber vorgehabt, als er Junge war. Er hatte rechtzeitig eingesehen, dass Astronomie eine brotlose Kunst war. ›Mein Leitstern sitzt auf dem Kühler meines Autos‹, sagte er sich mit einem Anflug von Selbstironie.
Der Junge verlor die Lust auf weitere Unterhaltungen und sah aus dem Fenster, die Arbeiter in den Warnwesten interessierten ihn mehr.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken schweiften ab und entglitten ihm ins Nichts. Da wurde die Schiebetür des Abteils kraftvoll und lautstark geöffnet. Er schreckte hoch, wie aus tiefem Schlaf.
Der Zugbegleiter baute sich im Türrahmen auf, fast wie ein Unteroffizier beim Stubenappell . »Der ICE kann wegen technischer Probleme nicht weiterfahren.« Sein Ton ließ keinerlei Bedauern erkennen. »In fünfzehn Minuten stehen Busse bereit, die alle Fahrgäste zum Frankfurter Hauptbahnhof bringen. Dort können Sie ihre Fahrt zum Zielort fortsetzen.« Sein Blick drückte leichte Missbilligung aus. »Die Durchsage kam schon vor einer Viertelstunde.«
»Entschuldigung, ich muss wohl eingenickt sein.« Nicht besonders freundlich, das Zugpersonal, seine Firma sollte der Bahn eine Schulung anbieten. »Ach ja, können Sie sich bitte um den Jungen kümmern. Er stammt wohl aus dem Ort und hat sich hier eingeschlichen. Sie sollten die Eltern benachrichtigen.«
»Welcher Junge?«, der Schaffner sah ihn ratlos an, »Entschuldigung, ich muss weiter, auf Wiedersehn.« Geräuschvoll schloss sich die Tür. Wo war der Junge? Egal, er hatte wohl alleine zurückgefunden.
Laptop und Unterlagen waren schnell eingepackt. Der unbequeme Ausstieg ärgerte ihn, der Bahnsteig war zu niedrig, ungepflegt und holprig, wohl nur für Gütertransport vorgesehen. Das Innere des Gebäudes passte zu dem äußeren Eindruck. Der Kiosk schien seit langem geschlossen, ein vergilbtes Pappschild ›Betreiber gesucht‹ klebte schräg in der Tür.
Auf dem Vorplatz des Bahnhofs standen die Fahrgäste des ICE in kleinen Gruppen und klebten nervös an ihren Smartphones. Dann kam der erste Bus. Er verspürte wenig Lust, sich in das Getümmel zu werfen, das am Einstieg entstand.
Er hielt sich abseits, so als gehöre er nicht dazu. Sein Handy klingelte.
»Hallo Walter, Sigrid hier, bist du schon in Darmstadt?«
»Nein, ich hänge in einem kleinen Ort in Hessen fest, es gibt Probleme mit dem ICE.«
»Leider habe ich schlechte Nachrichten, der Kunde hat anderweitig abgeschlossen, du kannst zurückkommen.«
Diese Nachricht brachte ihn brutal in die Wirklichkeit zurück. Der Auftrag konnte gar nicht scheitern. Was hatte er falsch gemacht? Er würde Rechenschaft ablegen müssen. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, Gründe, Fakten, Vermutungen tanzten einen wilden Reigen.
»Der letzte Bus nach Frankfurt!« Die Stimme des Ordners war fordernd. Seine Unschlüssigkeit fiel dem Angestellten auf.
»Wenn Sie noch nach Frankfurt wollen, beeilen Sie sich bitte!«
Er schüttelte den Kopf. Das Hotel gegenüber würde für eine Nacht ausreichen. Jetzt, am frühen Nachmittag, blieb noch Zeit, Orte seiner Kindheit wiederzufinden.
Die Brücke über dem kleinen Stauwehr erstrahlte in frischem Blau. Als Kind hatte er sich vor dem Fluss gefürchtet. Zur Vorsicht ließ er seinen kleinen Bruder auf der abgewandten Seite des Uferweges gehen. Welche hilflose Verzweiflung überkam ihn, als er, unbequem und ängstlich auf dem Gepäckträger des Fahrrades seines großen Bruders sitzend, den ihm anvertrauten Fußball - die wertvolle „Hulle“, eigentlich nur ein verschlissener, schlaffer Ledersack - fallen ließ und zusehen musste, wie der grässliche Fluss mit ihm um die nächste Biegung entschwand.
Er sah nur ein romantisches Flüsschen. Wie zur Verhöhnung seiner kindlichen Ängste standen ein paar Enten auf der überfluteten Wehrkrone und putzen ihr Gefieder.
Auch die alte Burg im Stadtzentrum, früher angenagt vom Zahn der Zeit und mit Efeu bewachsen, zeigte sich frisch renoviert und glänzte in neuer Schönheit. Überall glatter Asphalt statt Kopfsteinpflaster, Schilder und geparkte Autos statt Unkraut und Gebüsch. Und Himbeersirup, der, mit Sprudel vermischt, schneller überschäumte als man abtrinken konnte, stand im modernisierten Café nicht mehr auf der Karte.
Die Orte seiner Kindheit waren nicht mehr da. Sie waren überwachsen, abgerissen, begradigt, überbaut, asphaltiert und lackiert. Und der See, an dem er vorhin vorbeigefahren war? Sogar das kleine Flüsschen wurde zur Talsperre vergewaltigt. Aber konnte er das Städtchen deswegen nicht mehr seine Heimat nennen? Nur, weil das Bild in seiner Erinnerung durch die Macht der Realität in tausend Scherben zerbrochen war und kaputt im Staub lag?
Alles muss sich erneuern, oder es muss sterben. Der sechsjährige Knabe, der von den Sternen träumte, stand nun als Erwachsener Mann da. Aber ein Teil von dieser kleinen, neugierigen Rotznase lebte noch in ihm! Eigentlich viel zu wenig, er nahm sich vor, das zu ändern.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hej kioto,

bereits gestern las ich deine zarten Kindheitserinnerungen, die deinem Protagonisten während einer Bahnfahrt so kommen und fand nicht recht hinein. Wie sich heute herausstellte, war das ein Problem meiner eigenen Wahrnehmung, denn ich habe sie heute früh richtig gerne gelesen..
Besonders gefällt der genaue Blick, die Wärme und liebevolle Wahrnehmung innerhalb seiner Erinnerungen, seine Melancholie, der verklärte Blick auf die (scheinbar) heile Kinderzeit, so dass mich das behäbige Tempo heute weniger störte und eben ja auch angemessen ist.
Die Idee, sein jüngeres Ich dem Protagonisten gegenüber zu setzen, finde ich eine hübsche. Den Dialog allerdings etwas zu ausführlich. Mir gefällt nicht der Bezug zum Jetzt. Möglicherweise hätte es gereicht, wenn die beiden nicht im speziellen geredet hätten.

Seinen Vater fand keinen Arbeitsplatz in Hessen. Sie verließen das idyllische Städtchen.

Sein Vater.

Damals weinte er, um die Kindheit, die vorbei war, er weinte, obwohl er ein Junge war.

Weil ich nicht glauben kann, dass der Junge bereits zu diesem Zeitpunkt wissen konnte, dass er um seine verlorere Kindheit weinte, diesen Gedanken aber schön finde, wäre es doch gut, wenn du es deutlicher machen würdest. Denke ich. :shy:

Egal, er musste weiter an der Präsentation arbeiten. Wenn seine Firma den Zuschlag bekam, würde die Provision für den neuen Wagen seiner Frau reichen. Zwei ihrer Tennispartnerinnen fuhren schon ein aktuelleres Modell.

Diese Bemerkung kommt wie gerufen. So werde ich mal aus seinen Erinnerungen geholt und erfahre (endlich) etwas über den Protagonisten derzeit. Für meine Leselust an deiner Geschichte notwendig. ;)

Die Erinnerungen fielen wie alte Fotos aus einem verstaubten Buch, in dem sie als Lesezeichen dienten.

Das ist sehr hübsch - fallende Erinnerungen :)

In einer Ecke des Zimmers nistete eine Spinne, eine Florfliege wartete auf das Öffnen des Fensters.

So genau gucken bloß Kinder. Schön.

Wo ist den deine Mutter?

denn

Langsam stieg der Ärger in ihm hoch, erst der kaputte ICE, und nun nervte ihn ein kleiner Junge, der offensichtlich nicht die Streichhölzer erfunden hatte.

Ist das eine Anspielung auf mangelndes Wissen, im Sinne von keine Leuchte? Schon gemein, oder? Er ist doch noch klein und seine Bemerkung zeigt auch Phantasie.

Er schüttelte den Kopf. Das Hotel gegenüber würde für eine Nacht ausreichen. Jetzt, am frühen Nachmittag, blieb noch Zeit, Orte seiner Kindheit wiederzufinden.

Dieser "Beschluss" gefällt mir nicht so gut. Bisher "passierte" ihm die Zeitreise ja nur. So ein Beschluss nimmt ein bisschen den Zauber.

Und Himbeersirup, der, mit Sprudel vermischt, schneller überschäumte als man abtrinken konnte, stand im modernisierten Café nicht mehr auf der Karte.

Eine feine Erinnerung und Bezug zum Heute.

Und der See, an dem er vorhin vorbeigefahren war? Sogar das kleine Flüsschen wurde zur Talsperre vergewaltigt.

Das wirkt jetzt aber im Vergleich zum gesamten Ton zu aggressiv, lieber kioto. ;)

Aber ein Teil von dieser kleinen, neugierigen Rotznase lebte noch in ihm! Eigentlich viel zu wenig, er nahm sich vor, das zu ändern.

Ich verstehe, dass du einen resümierenden Schlusssatz benötigst. Aber ein tatsächliches Bild einer "Rotznase" würde mir im Rahmen deiner bildhaften Sprache sehr viel mehr gefallen. Also etwas, was an dem Geschäftsmann tatsächlich noch an den Jungen in ihm erinnert. Und vielleicht einen spontanen direkten Plan - schließlich kann er das ja auch beruflich - etwas Konkretes.

Das waren jetzt aber auch nur mitfühlende Ideen und Eindrücke, die deine zarte Geschichte in mir ausgelöst haben. Und es zeigt sich wieder einmal, dass es bei dem Gefühl, welches sich für eine fremde Geschichte entwickelt, durchaus eine angemessene Tagesform benötigt.

Ich wünschte, dein Protagonist würde wirklich einiges in seinem Leben neu justieren, zum Beispiel seiner Frau nicht alle unnützen Dinge, die sie wünschte, erfüllen.

Danke für diese zarte Geschichte.

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo kioto.

Diese Geschichte hat mich fast sprachlos zurückgelassen. Sie hat mich emotional bewegt, hat mich sehr getroffen. Ich musste einfach mit Walter mitfühlen, es hat stellenweise fast weh getan. (Das muss jetzt niemand außer mir nachvollziehen können.) Hesse bin ich zudem auch noch, wohne allerdings noch immer in dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin.

Dein Schreibstil gefällt mir, viel habe ich nicht anzumerken.

Die Landschaft flog vorbei. ›Ganz passabel, der ICE‹, zollte Walter der Technik seine Anerkennung. Nur ab und zu gönnte er sich einen Blick aus dem Fenster.
Der zweite Satz fühlt sich für mich hier wie ein Fremdkörper an. Wie kommt Walter von der Landschaft auf die Technik?

Seinen Vater fand keinen Arbeitsplatz in Hessen. Sie verließen das idyllische Städtchen.
Warum hier Hessen? Hessen ist groß genug, dass man auch wegen eines Arbeitsplatzwechsels innerhalb zum Umzug gezwungen sein kann. Für mich würde hier eher etwas wie "in der Umgebung" passen.

Weg von seinen Freunden, weg von den Weiden und Wäldern, den Bächen. Keine Staudämme im Bach aus Steinen, Holz und Matsch. Keine geheime Höhle, gegraben in die Böschung. Keine frisch vom Acker stibitzten Kartoffeln, die schwarz und gar aus dem Feuer kamen, der Ruß ersetzte das Salz.
Ach, lange ist das her...

Die Farbe, die Modernität vortäuschen sollte, blätterte an vielen Stellen von den alten Klinkern ab, man erahnte sein wahres Alter.
[..]
Langsam stieg der Ärger in ihm hoch, erst der kaputte ICE, und nun nervte ihn ein kleiner Junge, der offensichtlich nicht die Streichhölzer erfunden hatte.
Bei solchen Sätzen würde ich mir zwischendurch einen Punkt gönnen. Ich komme aber auch so damit klar.

Die Fahrt dauerte lange, aber er bemerkte es kaum, er genoss es wie ein Abenteuer.
Hier auch.
Und worauf bezieht sich "es" in "er genoss es wie ein Abenteuer"? Die Fahrt? Dann "sie".

Vielen Dank für diese wundervolle Geschichte.

Holger

 

Hallo Kanji, Hallo Holger,

Es freut mich, dass euch meine kleine Geschichte gefallen hat. Sie war recht spontan entstanden, für einen Schreibwettbewerb, hat sich aber nicht platzieren können. Es waren allerdings wohl an die 1000 Einsendungen.
Vielen Dank auch für die Kommentare und Anmerkungen. Sie helfen mir bestimmt, mich weiter zu verbessern. Holger, zu deiner Frage mit dem Umzug. Das ist 60 Jahre her. Damals war Hessen ein reiner Agrarstaat. Das Heu wurde noch mit Ochsenkarren von der Wiese geholt. Wir hatten kein Warmwasser, keinen Kühlschrank, Fernseher oder sonstige Elektrogeräte, nur ein Radio. Dafür fließendes Wasser im Keller, das Haus hatte Hanglage. Und sogar mal einen Feuersalamander in der Waschküche. Dafür einen wunderbaren Sternhimmel und herrliche Stille in der Nacht und am Sonntag. Aber uns Kindern hat nichts gefehlt.
Ich vermisst es, obwohl ich heute wohl nicht mehr so leben möchte.

Heute lebe ich im Norden, aber mein Haus hat ein rotes Dach.

Gruß Werner

 

Hallo Bas,

Danke fürs Lesen und deine Anmerkungen. Ich freue mich, dass dir die Geschichte so gut gefallen hat. Als Anfänger schreibe ich ja noch sehr intuitiv. Ich hatte das Thema "Kaputt" von dem oben erwähnten Schreibwettbewerb, habe überlegt und dann war die Geschichte da und ich habe sie aufgeschrieben. Für Kurzgeschichten geht das, aber für einen richtigen Roman fehlt mir noch die Erfahrung, wie publikumswirksam einsteigen usw.

Auslöser für die Geschichte war dann die Erinnerung an dieses abgelegene kleine Tal in Hessen an der Strecke Kassel-Frankfurt. Der Rest ist ein bisschen autobiographisch, ein bisschen Überhöhung, etwas Dichtung.

Und wie ich jetzt erfahre, ist er einer von der besonders traurigen Sorte. Die, die ein Leben führen, das nicht ihres ist

Das siehst du zu streng. Jeder Mensch besteht aus Facetten (ich denke da an das Buch "Der Steppenwolf" von Hesse. Man kann einen technischen Job haben und Spaß daran haben, aber ab und zu davon träumen, Schäfer zu sein.

Du hast es sehr gut drauf, Bilder in den Kopf zu pflanzen, all die Landschaftsbeschreibungen, die hessischen Städtchen, stibitzte Kartoffeln und das hier:

Ich habe eigentlich immer zuerst die Bilder. Vielleicht ist deshalb die Geschichte für viele zu uninteressant.
Mir hat sie Spaß gemacht.

Gruß Werner

 

Hallo kioto,


deine Geschichte hat mir gut gefallen.

Da ich allerdings nicht weiß, ob du überhaupt Interesse daran hast, weiter an deinem Text zu arbeiten, halte ich meinen Kommentar recht kurz.
Es ist in diesem Forum üblich, dass eingestellte Texte vom Autor überarbeitet werden, falls auf für ihn nachvollziehbare Mängel hingewiesen wird (z. B. auf orthografische Fehler).


... aber für einen richtigen Roman fehlt mir noch die Erfahrung, wie publikumswirksam einsteigen usw.
"Publikumswirksam einsteigen", wie du es nennst, ist ja immer wichtig - das gilt auch für Kurzgeschichten.


Ich beschränke mich mal auf deinen Einstieg:


Ganz passabel, der ICE‹, zollte Walter der Technik seine Anerkennung. Nur ab und zu gönnte er sich einen Blick aus dem Fenster. Die Präsentation musste fertig sein, bis er in Darmstadt ankam. ›Nie ist Zeit, etwas ordentlich zu machen‹, fluchte er innerlich. Ein wichtiger Punkt schien unklar, er musste nachdenken.
Ich finde deinen Einstieg ganz passabel, das Unterstrichene lässt mir aber zugegebenermaßen nicht gerade das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Ich habe eigentlich immer zuerst die Bilder. Vielleicht ist deshalb die Geschichte für viele zu uninteressant.
Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Man muss ja nicht reißerisch beginnen, gute Bilder - und die kannst du ja trefflich vermitteln - vermögen aber doch, Interesse , Neugierde zu wecken.

Wieso beginnst du dann nicht gleich damit?

Vorschlag:

Die bunt vorbeiziehende (vorbeifliegende) Landschaft fesselte ihn. Ein tief eingeschnittenes Tal, von einer einsamen Landstraße durchzogen, ein paar Wiesen, die in der Mittagssonne grün und bunt leuchteten. Gegenüber lag der Wald still im kühlen Schatten. Ruhe, Einsamkeit, fast hörte er das Rauschen des Windes, den Gesang der Vögel. Wie gerne wäre er eingetaucht in dieses verzauberte, vergessene Welt. Zu spät, ein Tunnel löschte die Sonne aus.
›Nie ist Zeit, etwas ordentlich zu machen‹, fluchte er innerlich. Die Präsentation musste (bis zum Halt in Darmstadt) fertig sein, bis er in Darmstadt ankam. Return on Investment in fünf Jahren, Steigerung der Gewinne um sieben Prozent jährlich, Abschreiben der Steuern in Übersee, das wollte der Kunde hören.

Du hast hier das Fesselnde, (Fliegende), Einschneidende, Einsame, Rauschende, Verzauberte ... Die ganzen Bilder gleich - damit hättest mMn einen fetteren Wurm am Haken. Auf alles andere könntest du verzichten.

Kannst ja mal darüber nachdenken, kioto.
Und wenn du Lust darauf hast, deinen Text zu überarbeiten, schaue ich gerne noch mal rein.


Danke fürs Hochladen


hell

 

Hallo hell,

Als ich die Geschichte vor einigen Monaten gepostet hatte, gab es nur zwei Antworten, die keine orthographischen, formalen oder sprachlichen Defizite anmahnten, sondern Kommentare enthielten, die mich freuten aber mMn nicht unbedingt eine Überarbeitung erforderten. Weitere Kommentare blieben aus, so dass ich annahm, nicht unbedingt auf großes Interesse gestoßen zu sein.

Deine Vorschlag für einen geänderten Einstieg gefällt mir ganz gut, auch wenn er meine angedachte Perspektive ändern würde. In deiner Version sieht er während der Fahrt aus dem Fenster auf die Landschaft. Ich ging davon aus, dass er konzentriert arbeitet und nur, als er bei einem unklaren Punkt hochschaut, zufällig das Tal bemerkt, abgelenkt hängenbleibt aber sofort killt der Tunnel diesen schönen Traum.

Ich wollte die Fahrt aus der Perspektive des konzentrierten Arbeitens beschreiben, das den Prota charakterisiert. Der wirkliche Bruch sollte erst bei dem nicht geplanten Stopp in seinem Heimatstädtchen erfolgen, der ihn dann vollends aus dem Trott reißt. Beim erneuten Lesen merke ich aber, dass ich das nicht so durchgehalten habe, weil er ab dem zweiten Abschnitt doch anfängt, sich in Erinnerungen zu verlieren. Da fehlt der Übergang. Der Text war für einen Wettbewerb vorgesehen und vom Umfang begrenzt, was keine Entschuldigung sein soll.

Vielen Dank fürs Lesen und die Anmerkungen.

Gruß Werner.

PS. Soll eine Überarbeitung den alten Text ersetzen?

 

kioto schrieb:
Seinen Vater fand keinen Arbeitsplatz in Hessen. Sie verließen das idyllische Städtchen.
Kanji schrieb:
Sein Vater.

kioto schrieb:
Wo ist den deine Mutter?
Kianji schrieb:

kioto schrieb:
Erwachsener Mann
Bas schrieb:
erwachsener

Ist eh nur Kleinvieh, kioto, und schnell erledigt.
Und ja, mit der überarbeiteten Version ersetzen - also, die Bearbeiten-Funktion nutzen.


Gruß


hell

 

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