Walpurgisnacht
Kreidebleich war Tom in den Wagen gesprungen und hatte die Tür hinter sich zugeknallt. Nun saß er da, seine Hände umklammerten das Steuer, so fest, dass die Knöchel weiß hervor traten. „ Mist! Mist! Mist!“ murmelte er, als er den Kopf auf das Lenkrad sinken ließ.
„Tom! Was ist?“ Sara, die im Wagen auf ihn gewartet hatte, begann seinen Nacken zu kraulen.
Das zärtliche Spiel ihrer Finger entspannte Tom ein wenig. Er richtete sich auf und starrte durch die Windschutzscheibe hinaus auf das schmale Asphaltband, das sich durch ein dunkles Waldstück schlängelte. Darüber wölbte sich ein klarer Himmel, an dem der Vollmond seinem Zenit allmählich entgegen kletterte. Alles wirkte genau so friedlich wie eine halbe Stunde zuvor, als die beiden jungen Leute zu einer Maifeier in die City aufgebrochen waren.
‚In die City’: wenn nicht diese Angst gewesen wäre, Tom hätte lachen müssen: er nannte das Städtchen mit seinen knapp Siebentausend Einwohnern liebevoll City, weil es der einzige dicht besiedelte Fleck der gesamten Region war. Dann wanderten seine Gedanken zurück, zu dem Moment, als ihn Sara gebeten hatte, noch einen kleinen Umweg zu nehmen. Sie wollte den Zauber der Nacht länger genießen, ehe sie sich im unvermeidlichen Trubel der Feier verlieren würde. Eigentlich nur um seiner Freundin gefällig zu sein, steuerte Tom sein Cabrio über einsame Feld- und Waldwege. Doch als er aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Sara sich in ihrem Sitz lustvoll rekelte und der milde Südwind in ihren langen, roten Haaren spielte, hatte er gedacht: was soll’s. Ist nur ein Umweg. Alles schien perfekt.
Doch nichts war perfekt. Warum musste der nagelneue Wagen ausgerechnet hier seinen Geist aufgeben, im Niemandsland, wo sich nicht einmal mehr Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen? Und warum lag sein Handy zuhause? Fragen, auf die Tom zu diesem Zeitpunkt keine Antwort wusste.
Dann erinnerte er sich, wie Sara das versteckte Haus im Wald, einen uralten Bauernhof, entdeckt hatte. Und wie glücklich er war über die parkenden Autos. Ein Moment schöner als Weihnachten und Ostern zusammen. Doch jetzt wäre es ihm lieber gewesen, er hätte das Haus nie betreten.
„Sag schon!“ Sara rüttelte ihren Freund an der Schulter. „Was ist mit dem Haus?“
„Das – Haus – ist – voller – Hexen!“ presste Tom kaum hörbar zwischen zusammen gekniffenen Lippen hervor.
„Hexen?“
„Du – hast – richtig – verstanden: Hexen!“ wobei er das Wort Hexen merkwürdig dehnte.
„Und das ist schlimm?“
Mein Gott. Hatte Sara keine Ahnung? An diesem Abend feierten Hexen Walpurgis. Tom war aufgewachsen, mit Geschichten über dunkle Hexennächte, Schwarze Messen, Menschenopfer und dass am Höhepunkt der Walpurgisnacht der Satan selbst erscheinen würde, um sich feiern zu lassen. Ganz sicher hatten die Hexen seinen Wagen verzaubert, weil sie ein Opfer brauchten. Ihn würden sie, na ja umbringen, und Sara die Kleider vom Leibe reißen und ihren Körper als Altar missbrauchen.
„Sara versteh’ die Frage jetzt bitte nicht falsch? Aber bist du eigentlich noch Jungfrau?“
Tom hatte erwartet, dass Sara ihn wegen dieser Frage entrüstet zurecht weisen würde. Doch sie lachte nur: „Ich bin jetzt 24 Jahre. Was glaubst du? Wie viele Frauen warten heute noch bis zur Hochzeitsnacht? Wenn du eine solche finden willst, wirst dich schwer tun.“
Na ja. Auch eine Antwort auf eine Frage, die ihn seit ein paar Wochen interessierte. Und dann erzählte Tom, wie er im Haus war und die Oberhexe angeboten hatte, sie beide sollten an der Feier teilnehmen und anschließend dort übernachten. Am nächsten Morgen würde die Oberhexe sie in die Stadt mitnehmen. Schalmeientöne, hatte Tom geargwöhnt und sich in den Wagen geflüchtet.
Dass Sara seine Angst überhaupt nicht zu teilen schien, wunderte Tom. Er musste sich eingestehen: Wie viel wusste er wirklich von ihr? Immerhin kannte er sie erst seit zwei Monaten. Und wieder stellte er sich die Frage: Was mochten die Tattoos an ihren Beinen, knapp oberhalb der Knöchel, bedeuten? Und obwohl er wusste, dass Tattoos in Mode waren, meinte er doch, dass eine anständige Frau keine haben sollte.
„Wir haben wenig Alternativen.“ unterbrach Sara seine Gedanken. „Wir können zu Fuß in die City latschen. Das sind schon ein paar Kilometer. Oder wir können hier im Auto übernachten. Aber ich denke, wenn uns die Hexen opfern wollten, würden sie uns sowieso erwischen.“
„Das glaub ich auch.“ Tom kratzte sich am Kopf, als er begriff, wie schlecht ihre Karten standen.
Sara hakte nach: „Also warum sollten wir das Angebot der Oberhexe nicht annehmen und im Haus übernachten. Wir hätten zumindest ein Bett.“
Tom grübelte eine Weile und als er keine neue Alternative finden konnte, jammerte er vor sich hin, ohne eine Antwort zu erwarten: „Ist denn gar kein Kraut gegen Hexenzauber gewachsen?“
Umso verblüffter war er, als Sara Richtung Wald zeigte: „Schau! Da, hinter uns wachsen Ebereschen. Es heißt: Zweige von Ebereschen über einer Zimmertür aufgehängt, halten Hexenzauber fern.“
Tom schüttelte den Kopf und stieg wortlos aus dem Auto. Als Sara ihrem Freund zum Haus folgte, musste sie schmunzeln. Und auch über das Gesicht der Oberhexe huschte die Spur eines Lächelns als sie den jungen Mann mit der Hand voller Zweige vor sich stehen sah. Doch auch sie sagte nichts.
Gleich, nachdem die beiden in eine Kammer gebracht worden waren, begann Tom Zweige über Türen und Fenster zu hängen. Selbst den Kamin vergaß er nicht. Dann bezog er Position. Lange Zeit stand er am Fenster und beobachtete aufmerksam das Treiben im Hof. Dabei wunderte er sich, wie Sara so ruhig schlafen konnte.
Zu Anfang unterschied sich das Geschehen im Hof in nichts von einem normalen Gartenfest. Später wechselten sechs Frauen und sechs Männer in einen magischen Kreis, wo sie allerlei Beschwörungen murmelten. Als die Zeiger der Wanduhr immer weiter gegen Mitternacht vorrückten, wurde Tom nervöser und als zehn Hexen den Kreis verließen und das Rund mit einem Zeltdach gegen Blicke abschirmten, spürte Tom sein Herz im Hals pochen. Zwei Hexen, ein Mann und eine Frau waren im Kreis zurückgeblieben. Tom fühlte, der Höhepunkt der Zeremonie musste bevor stehen. Jeden Moment würde eine stinkende Schwefelwolke hinter der Plane aufsteigen. Quälend langsam vergingen die folgenden Minuten. Doch als die Wanduhr zur zwölften Stunde geschlagen hatte, erschien kein klumpfüßiger Höllenfürst, und kein Geruch nach Schwefel brandete zu seinem Fenster hoch. Stattdessen hörte Tom gedämpft Geräusche der – Lust!
Am nächsten Morgen erklärte die Oberhexe das Ritual und dass ihr Hexenzirkel Satanismus ablehnte. Als Tom endlich den Unterschied zwischen Weißer und Schwarzer Magie begriffen hatte, bat er die Hohepriesterin, seinen Wagen wieder in Gang zu zaubern. Doch die zeigte nur lachend auf Sara: „Das kann genau so gut unsere Novizin erledigen.“