Walerij
Walerij
Eine Katze kann den freien Fall aus dem achten Stockwerk überleben, weil sie vermutlich auf ihren vier Pfoten landen wird. Soviel wusste Walerij.
Als er seine schneeweiße Katze in einer blutroten Pfütze auf dem Asphalt liegen sah, war ihm, als stürzten die Mauern auf ihn herab, als läge sein Brustkorb lebendig begraben im Schutt und Dreck der Vorstadtsiedlung. Weinend trug er das Tier in seiner Jacke die zertretenen Stufen des Plattenbaus hinauf, legte es sachte auf den schmutzigen Teppich und sich selber daneben. So verharrte er schweigend an der Seite des sterbenden Geschöpfes. Als seine Ex-Freundin, ein blasses, dürres, vielleicht niemals hübsch gewesenes Mädchen aus dem tiefsten, verschneiten Norden Sibiriens, die beiden so liegen fand, seufzte sie.
Der Veterinär bekam das Ganze schließlich wieder hin. Das Tier hatte beim Aufprall den größten Teil seines Gebisses verloren, sodass Katz und Mensch sich äußerlich anzugleichen schienen.
„Eine Wohnung im achten Stock ist kein Ort für eine Katze“, hatte seine Ex-Freundin danach immer wieder mit kreisendem Finger gesagt. Walerij hatte sich ihre Vorwürfe angehört und stumm den Kopf geschüttelt, wobei er ihr insgeheim recht gab, allerdings nur mit dem Zusatz, dass eine Wohnung im achten Stock ebenso wenig ein Ort für einen Menschen war.
Die Nachbarn machten sich noch lange Zeit auf allen Etagen lustig über den Vorfall; die Kosovaren unter’m Dach gemahnten ihren Kindern, nicht zu nah an den Rand des Balkons zu klettern, die Russen aus dem Sechsten diskutierten kontrovers bei einer abendlichen Runde Wodka, ob es nicht eine Investition wert wäre, jegliche Balkone mit Netzen zu verhängen, die Türken im Ersten beschlossen schließlich, weder Katz noch Mensch noch Russ‘ aufzufangen. Die Zigeuner im Keller sprachen noch lange vom „Sturz der weißen Göttin“. Die Kinder, immer in einer ganzen Herde zusammen über den Hof galoppierend, starrten Walerij an aus ihren großen, dunklen Augen und schüttelten sich vor Lachen, wenn er in seiner hinkenden Art an ihnen vorbeizog. Manchmal drehte er sich um und streckte ihnen die Zunge raus oder drohte schimpfend mit der Faust. Dann verfolgte ihn ihr Gelächter wie Donnerschlag bis in die Stille des Fahrstuhles hinein. Walerij hörte nicht auf sie, sprach ohnehin nicht ihre Sprache, hasste sie alle wie die Pest.
Die Katze erholte sich langsam von dem Sturz, doch ließ sie eine gewisse charakterliche Veränderung bemerken. Ihr Gemüt war von einer Stille getrübt, einer schmerzlichen Lethargie, die sie dazu veranlasste, den größten Teil des Tages unter dem Schreibtisch auf ihrer Zeitung zu liegen und mit grimmiger Miene in die Leere des Raumes zu starren. Walerij schaffte es zwar, sie unter langem Zureden dazu zu bewegen, ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen, doch machte ihm die traurige Stimmung seiner Katze das Herz schwer. Er wurde den Verdacht nicht los, dass damals jemand das Fenster zum Balkon aufgelassen – nein, absichtlich geöffnet hatte! Irgendetwas sagte ihm, dass es sich um einen Anschlag, eine perfide geplante Aktion gehandelt haben musste. Sein Hirn, ein trunkener, kaum brauchbarer Genosse, konnte ihm keine Antwort geben, aber seine trinkfeste Intuition hatte ihn selten getäuscht. Auf die konnte er sich wohl nach allem noch verlassen…
Als er sich dann eines Abends sicher wurde, dass es nur seine Ex-Freundin gewesen sein konnte, dass sie ihn und seine Katze nie hatte leiden können, immer eifersüchtig gewesen und ein bösartiges Weib war, da trank er seine Flasche Moskovskaya in einem Schlucke aus und stampfte hinüber ins Wohnzimmer, um Mord mit Mord zu vergelten. Die Ex-Freundin, ein flinkes Biest, nahm Reißaus und trabte schreiend und jammernd über den Hof und davon. Der Polizei würde sie vorerst, obwohl sie doch ein volles gelbes Gebiss besaß, nichts von alledem sagen können, denn sie sprach nicht deren Sprache.
Seine Katze hatte den freien Fall aus dem achten Stockwerk überlebt, weil sie das Einzige auf der Welt war, das Walerij liebte. Sie gehörte nur ihm.