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Wale retten
Seit sich sein Evolutionszweig von dem des Affen gelöst hat, ist der Mann ein Herdentier. Und als solches liegt es ihm in der Natur, sich zu kleinen Gruppen zusammenzurotten und seine Zeit sinnvoll in der Gesellschaft Gleichgesinnter zu verbringen. Wo es früher Jagdgemeinschaften gegeben hatte, um den schmackhaften Dinosaurier zu erlegen, führte das Aussterben derselben zu der Notwendigkeit, sich andere Formen der kommunikativen Gemeinschaftsaktivität zu suchen und der Verein war geboren.
...
"Hiermit eröffne ich offiziell unsere heutige Sitzung mit einem anständigen Hoch die Tassen."
"Hoch die Tassen!", erscholl die schlachtrufähnliche Begrüßungsformel aus den zehn Kehlen der übrigen Anwesenden und es wurde angestoßen. Der Wirt des Grünen Hering hatte sich sofort einverstanden erklärt, als Horst Düvelmeier ihn vor ein paar Tagen gebeten hatte, hier den Stammtisch seines Vereins abhalten zu dürfen. Immerhin zogen die Jungs ganz schön was weg.
"Kommen wir zur Tagesordnung", fuhr Horst fort. "Nachdem wir uns bei unserem ersten Treffen letzte Woche auf die allgemeinen Grundlagen unseres Vereins, insbesondere die Zusammensetzung des Vorstandes, geeinigt haben, kommen wir heute zum wohl wichtigsten Punkt: die Festlegung auf ein Motto."
"Motto?"
"Naja, ein Ziel halt. Wofür beziehungsweise wogegen richtet sich unser Verein? Was wollen wir erreichen? Ich glaube, Vereinsbruder Walther hat da schon mal was ausgearbeitet." Horst gab dem links neben ihm Sitzenden ein Zeichen und der erhob sich.
"Nun, Brüder, ich bin zu folgenden Themenvorschlägen gekommen. Erstens: Langhaarige und Hippies. Zweitens..."
"Äh... wären wir dann dafür oder dagegen?", fragte jemand.
"Dagegen. Zweitens: alkoholbedingtes Rowdietum auf öffentlichen Plätzen."
"Aber, entschuldige mal, Bruder Walther", unterbrach Horst. "Ich denke nicht, daß wir uns allgemein gegen Alkohol aussprechen wollen, oder? Ich meine, da ist doch nichts dabei eigentlich." Beifälliges Gemurmel erhob sich und das ein oder andere Schnäppschen wurde zustimmend geleert.
"Na gut. Dann änder ich das um in allgemeines Rowdietum auf öffentlichen Plätzen."
"Ja, das klingt gut. Weiter."
"Drittens: Walsterben. Der Vorschlag kam von meiner kleinen Tochter, muß ich dazu sagen. Sie ist gerade in der Flipper - Phase." Walther selbst fand den Vorschlag nicht sonderlich gut und er hoffte auch, daß er abgelehnt werden würde. Aber er wollte seiner Tochter hinterher wenigstens sagen können, daß er es versucht hatte.
"Also wirklich... Walsterben. Hast du hier schon mal irgendwann einen Wal gesehen?"
"Nein, aber vielleicht liegt das daran, daß sie alle ausgestorben sind", sagte Thorsten und nippte an seinem grünen Tee.
"Hast du noch einen vierten Punkt?"
"Ja, natürlich... Viertens und Letztens wäre dann noch: Rocker und Rabauken an unseren Schulen."
"Hatten wir das nicht schon?", fragte der dreiundvierzigjährige Tennislehrer Manfred Mönter und versuchte, einen Blick auf den Hintern der drallen Kellnerin zu erhaschen.
"Nein, das war 'Langhaarige und Hippies'."
"Ist das nicht das selbe?"
"Ja... ja, wenn ich da so drüber nachdenke, hat Vereinsbruder Manfred gar nicht so Unrecht", sagte Horst. "Vielleicht sollten wir Themenvorschlag eins und vier zusammenfügen."
"Also... gegen Rocker, Rabauken, Hippies und Langhaarige?"
"Das ist zu kompliziert. Kann sich doch kein Mensch merken. Wie wäre es mit: gegen allgemeines Hippietum?"
"Nein, das ist zu allgemein... vielleicht: gegen die Zersetzung unserer Werte?"
"Wie wäre es denn", begann Manfred Mönter, der es inzwischen aufgegeben hatte, die Kellnerin von hinten zu sehen, "wenn wir unser Motto positiv formulieren würden: Für Aufrechterhaltung von Anstand und Disziplin."
"Danke, Bruder Manfred", sagte Horst. "Ich glaube aber, daß es dem Charakter unseres Vereins zugute kommen würde, wenn wir die Mißstände, gegen die wir vorgehen wollen, in unser Motto mit aufnehmen."
"Ich wäre ja für: gegen öffentliche Randale.", sagte jemand, aber das verhallte ungehört.
"Naja... irgendwie wird mir das hier zu kompliziert", sagte Jürgen Gruber, achtunddreißigjähriger Fernfahrer aus dem Nachbarort. "Warum nehmen wir nicht einfach das mit den Fischen und gut is?"
"Walsterben? Ja, ich finde auch, daß das am Einfachsten ist", ertönte eine unsichere Stimme aus dem Hintergrund und andere stimmten ihr erleichtert zu.
"Na gut", sagte Horst. "Stimmen wir ab. Wer ist für 'gegen Hippies, langhaarige Rabauken, Rocker und so'?" Drei Hände hoben sich - darunter Walthers. "Und wer ist für das mit den Fischen? ... Okay, das ist die Mehrheit. Damit ist es beschlossen, daß wir uns ab jetzt für..."
"Gegen."
"... gegen das Walsterben einsetzen. Hoch die Tassen!"
"Hoch die Tassen!", schallte es Horst entgegen und elf Gläser wurden geleert. Nur Walther Klöden war nicht zufrieden. Der Vorschlag war zwar irgendwie von ihm gekommen, aber insgeheim fand er das mit den Walen ziemlich dumm. Immerhin gab es hier gar keine Wale, die man retten könnte, dachte er.
...
"Und dann hat Horst auch noch gesagt, wenn es mir nicht passen würde, könnte ich ja gehen. Kannst du dir das vorstellen? Das hat der Horst zu mir gesagt. Der Horst! Zu mir!" Am Abend saß Walther Klöden zusammen mit seiner Frau vor dem Fernseher und ließ sich von der Lindenstraße einlullen, wie er es jeden Sonntag tat. Obwohl seine Füße in den flauschigen Wohlfühlpantoffeln steckten, die seine Mutter ihm damals zu Weihnachten geschenkt hatte, Hertha die Käsewürfel heute extrem geometrisch geschnitten hatte und seine Tochter Klara freiwillig mit dem Hund Gassi gegangen war, konnte ihn weder das monotone Ticken der sperrigen Wanduhr noch das dazu rhythmisch passende Klacken von Herthas Stricknadeln an diesem Abend beruhigen.
"Ich meine", sagte er und sammelte automatisch ein paar Knäckebrotkrümel von seinem Hemd. "Ich meine, es ist ja nicht so, daß ich den Club nicht mit gegründet hätte oder so..."
"Walther, is gut jetzt", murmelte Hertha Klöden abwesend und machte den Fernseher lauter. Sie hatte nicht die geringste Lust, sich von ihrem Mann ablenken zu lassen. Das würde nur wieder in Laufmaschen enden, wie letztens in dem Pulli, den sie für ihre Schwester gemacht hatte. Außerdem war Mutter Beimer gerade dabei, ihren Mann für eine Jüngere zu verlassen. Oder andersrum.
"Ich glaube, du hörst mir gar nicht zu, Hertha. Der Horst hat mich rausgeworfen. Aus meinen Verein."
"Letzte Woche hast du noch gesagt, ihr hättet ihn zum Anführer gewählt."
"Hertha, bitte... Ein Verein ist keine Rockerbande oder so. Wir haben keinen Anführer, sondern einen ersten Vorsitzenden und bei dessen Wahl hab ich mich enthalten."
"Ja, aber er ist nunmal euer... euer..."
"Vorsitzender."
"Er ist euer Vorsitzender. Das heißt, er kann auch bestimmen, wie eure Bande nun heißen soll. Oder sehe ich das falsch?"
"Erstens ist das keine Bande und zweitens geht das hier um das Prinzip! Der kann mich doch nicht aus meinem Verein rauswerfen, nur weil er plötzlich Wale retten will oder so."
"Wie ist er denn überhaupt auf die Idee gekommen?"
"Naja... ich war Vorsitzender und ausführendes Organ des Themenvorschlagsausschusses in Personalunion und da habe ich halt eine Idee von Klara eingebracht."
"Also hast du den Vorschlag gemacht? Ja, dann reg dich doch nicht so künstlich auf. Nächste Woche gehst du da wieder hin und dann lassen die anderen dich sicher wieder mitmachen. Und jetzt hol bitte das Huhn aus dem Eisschrank. Sonst können wir morgen kein Frikassee essen."
So einfach, wie seine Frau sich das vorstellte, gestaltete sich die Sachlage aus Walthers Sicht ganz und gar nicht. Die ganze Nacht über wälzte er sich im Bett hin und her und überlegte, wie er Horst diese peinliche Schlappe heimzahlen könnte. Dann irgendwann so gegen vier Uhr morgens setzte Walther Klöden sich plötzlich ruckartig im Bett auf. Er hatte eine Idee.
...
"Hiermit eröffne ich die nunmehr dritte Sitzung unseres Vereins Alles für den Wal mit einem zünftigen Hoch die Tassen."
"Hoch die Tassen!"
"Können wir heute vielleicht etwas eher Schluß machen?", fragte Manfred Mönter. "Ich habe gleich noch eine Verabredung mit Rosalia. Die ist ja so feurig." Er warf der Kellnerin des Grünen Hering einen schmachtenden Blick zu und die quittierte ihn, indem sie ihm einen Kuß zuwarf.
"Ja, das würde mir auch ganz gut passen. Immerhin kommt gleich Fußball. Nun, auf jeden Fall sollten wir, jetzt, da wir unser Motto gefunden haben, unsere ersten Aktionen gegen das Walsterben planen."
"Aktionen? Muß man dafür aufstehen?" Jürgen Gruber war nicht wohl bei dem Gedanken. Er liebte es gar nicht aufzustehen - darum war er auch Fernfahrer geworden.
"Ja, ich denke, früher oder später schon... gut, begeben wir uns gleich mal in medias res und..."
"Och nö... können wir nicht einfach hierbleiben?"
"Jürgen, bitte... also, woran sterben die meisten Wale?"
"Ich glaube", sagte Thorsten und nippte an seinem Tee, "daß es den Walen einfach quer geht, als Randgruppe in unserer neokapitalistischen Gesellschaft ständig außen vor gelassen zu werden und sie daher suizidalen Tendenzen unterliegen, quasi als Protest, um uns auf das Problem der ökolo..."
"Jaja, schon Recht... hat noch jemand eine Idee?"
"Vielleicht sterben die Viecher, weil sie sich in den Netzen verfangen."
"Netze?"
"Ja, von den Thunfischfängern. Ich finde also, wir sollten gegen Thunfisch sein." Jürgen sah sich stolz in der Runde um und die anderen Vereinsmitglieder würdigten diesen Vorschlag, indem sie rhythmisch auf den Tisch klopften.
"Also, ich fasse zusammen", sagte Horst und sah von seinem Notizzettel auf. "Wir sind für die Wale und gegen Thunfisch. Ich schlage deshalb vor, daß wir eine umfassende Protestbewegung gegen die Fischindustrie unternehmen. Kann einer von euch Plakate malen?"
"Ich habe noch ein altes Bettlaken auf dem Speicher, das können wir nehmen."
"Und ich weiß, wo wir Stifte herbekommen", sagte jemand. Leider wurde diese fruchtbare Diskussion in genau diesem Moment unterbrochen als sich der Wirt des Grünen Herings dem Stammtisch näherte.
"Tut mir leid, Jungs, aber es ist neunzehn Uhr durch", sagte er.
"Na und? Fußball ist doch erst in zwei Stunden."
"Der Tisch ist reserviert ab neunzehn Uhr."
"Was? Wer macht denn sowas?"
"Ja, und zwar ist das der Verein... warte..." Der Wirt machte eine Pause und warf einen Blick in sein Notizbuch "Ach hier... also der Verein Gegen Jugendliche im Allgemeinen"
Horst drehte den Kopf und sah Walther Klöden grinsend und sich die Hände reibend hinter dem Wirt stehen. Nachdem die Walretter widerstrebend den Tisch geräumt hatten setzte Walther sich ans Kopfende und begnügte sich damit weiterhin hämisch in Horsts Richtung zu grinsen. Der empfand dieses Verhalten als bloße Provokation - zumal es offensichtlich war, daß Walthers Verein nur ein einziges Mitglied hatte - und ging noch einmal zurück zum Stammtisch.
"Sag mal, willst du uns hier veralbern? Du hast doch gar keinen Club."
"Noch nicht... aber es ist mein Recht, einen Verein zu gründen, wenn ich das will. Ja, und das habe ich gemacht. Und wir haben ein tolles Motto."
"Diese Stadt ist zu klein für zwei Vereine", sagte Horst.
"Dann haben wir in der Tat ein Problem. Ich schlage vor, wir regeln das wie Männer."
"Weitpinkeln?"
"Nein. Ein fairer Wettkampf. Wenn ich gewinne, trittst du dein Amt als Vorsitzender ab und ich darf das Vereinsmotto bestimmen. Wenn du gewinnst, löse ich meinen Verein auf und ihr könnt in Ruhe weiter... weiter... naja, was auch immer ihr da tut."
"Wale retten."
"Ja, Wale retten. Einverstanden?"
...
Wenig später saßen sich die beiden Kontrahenten am traditionellen Wettbewerbstisch der Kneipe gegenüber und jeder hatte eine Reihe voller Apfelkorngläser vor sich stehen. Die Vereinsmitglieder standen mit den übrigen Gästen des Grünen Hering um den Tisch herum und plazierten ihre Wetten. Nur Manfred Mönter und die Kellnerin fehlten in dieser illustren Gesellschaft. Sie hatten sich auf die Herrentoilette zurückgezogen.
"So, dann prost", begann Horst und die beiden tranken den ersten Korn.
Nach dem zehnten Korn begann Walthers Kopf sich langsam im Kreis zu drehen. Seine Zunge hatte auf einmal den schier unwiderstehlichen Drang, aus dem Mund zu fließen, aber Walther wollte um keinen Preis der Welt aufgeben. Nicht jetzt.
"Ha... Hau rein, dasss Ssseuch... prost", lallte er und kippte sich die Flüssigkeit in den Mund.
"Na, gennoch ei... einer rein?" Horst erging es ebenso, wie seinem Kontrahenten, aber auch er wollte diesen Wettbewerb unbedingt gewinnen. Immerhin ging es hier um das Überleben der Wale. Im übertragenen Sinne zumindest.
"Jo, ein kannich... kannich noch..."
"Na denn prost oder so... ja." Horst saß schwankend auf seinem Stuhl und musterte das Glas in seiner Hand mit feuchten Augen. Er versuchte, es an seine Lippen zu führen, aber sein Gehirn schien diesen Befehl unbedingt verweigern zu wollen. Die Hand schwankte gefährlich hin und her, fand aber nicht den Weg zum Mund. "Hui... dieseses Glas is sssiemlich gewieft..."
In diesem Moment - Walther war gerade dabei, sich den Inhalt seines Glases aufgrund mangelnder Koordination in die Nase zu kippen - öffnete sich die Tür der Kneipe und seine Frau betrat den Raum.
"Walther, wo bleibst du denn? Fußball läuft seit einer halben Stunde."
"Tu... Tu mir leid, Schnickelpu... Schnuckelpitz... Schatz. Aber... aber der Hohohorst unnich, wir ham hier..."
"Ja, wir müssn das hier eben noch feddich man", unterstützte Horst seinen Gegner.
"Männer! Ihr seid so albern, wenn es um eure Ehre geht. Warum vertragt ihr euch nicht einfach und gebt euch die Hand? Ist doch vollkommen egal, wie eure Bande nun heißt. Oder nicht?"
"Es iss aber keine Ba... Bande. Es issn Verein... oder so..."
"Ja, da hadder Walther Recht, Frau... Frau... ach, isauchegal. Verein, ja..."
"Fff... Frauen ham von sowas kei... keine Dings, Ahnung."
"Ja, dasis richtig... Frauen sind doof." Horst versuchte sich aufzurichten, um Walther in einem Anflug plötzlicher Solidarität die Hand zu geben, konnte sich aber nicht mehr erinnern, welcher Muskel für diese Bewegung zuständig war. "Weissu was, Walther? Ich denke ich denke ich denke... also, ich denke, daß wir uns wieder vertran sollten."
"Ja, dassis ne Idee. Immerhin sind wir echte Mä... ach verdammt... Männer sind wir. Gehen wir Dings, Wale retten... oder so... isauchegal..."
...
Seit der Erfindung der Ehe versucht der Mann, selbiger zu entfliehen und sich selbst einen Hort der Ruhe unter Gleichgesinnten zu schaffen. Er ist bereit, alles menschenmögliche auf sich zu nehmen, um sich sein Refugium der Männlichkeit von keinem Weibsbild, und schon gar nicht dem eigenen, streitig machen zu lassen. Notfalls ist er dafür auch bereit, Wale zu retten.